Während im Verlauf der vorangegangenen zehn Jahre die HIV-/AIDS-Situation in Russland als eine angespannte anerkannt wurde, so hat jüngst, augenscheinlich im Vorfeld des Welttages zur Bekämpfung dieser Infektion, der alljährlich am 1. Dezember begangen wird, Gesundheitsminister Michail Muraschko mitgeteilt, dass „sich die Situation in Bezug auf HIV in Russland stabilisiert hat“. „Registriert wurde ein Rückgang der Zahl der neuen Fälle von 85.500 im Jahr 2017 bis auf 60.300 im Jahr 2020“.
Da aber die HIV-Infektion unheilbar ist, ergibt sich aus den Worten des Ministers, dass in diesen vier Jahren die Zahl der infizierten Bürger Russlands um 300.000 zugenommen hat. Eine nach dem Minister auftretende Vertreterin des Föderalen Dienstes für den Strafvollzug informierte, dass bereits zehn Prozent der Bürger Russlands, die sich im Strafvollzug befinden, mit HIV infiziert seien.
Laut Angaben internationaler Agenturen ist HIV in Europa erheblich weniger anzutreffen. In Ungarn – weniger als 300 Fälle im Jahr, in Deutschland – weniger als 3.000 (für 2020 — 2.454 neue HIV-Fälle), im Vereinigten Königreich – weniger als 5.000. Die Spezialisten des russischen Gesundheitsministeriums „entlarven“ sie jedoch: In Europa würde man die Bevölkerung schlecht untersuchen und prophylaktische Methoden ohne eine geistige Komponente anwenden, während bei uns das Wichtigste das Ethische sei.
Damit, dass Europa dahinsieche, versetzt man uns nicht in Erstaunen. Aber unsere Jahreszunahme von 60.300 neuen Fällen im Jahr ähnelt sehr wenig einer Stabilisierung, zumal es nur um die Menschen geht, die mit HIV-Infektion leben, zu denen man Dokumente in den dem Gesundheitsministerium unterstellten Einrichtungen angelegt hat. Die Angaben der russischen Verbraucherschutzbehörde Rospotrebnadzor, die Angaben über alle Bürger Russlands erfasst, bei denen die HIV-Infektion durch ein spezielles Verfahren bestätigt worden ist, sind stets um 20 bis 30 Prozent höher. Folglich sind bei weitem nicht alle Menschen mit HIV bestrebt, durch das Gesundheitsministerium erfasst zu werden.
In den 35 Jahren einer systematischen Beobachtung hat Rospotrebnadzor bis zum September dieses Jahres 1.546.017 mit HIV infizierte Bürger Russlands identifiziert, von denen 413.930 bereits verstorben sind. Somit sind auf dem Territorium der Russischen Föderation gegenwärtig 1.132.087 Bürger Russlands, die mit HIV leben, fixiert worden. Unter der gesamten Bevölkerung Russlands leben fast 0,8 Prozent mit einer HIV-Diagnose.
Und am meisten verbreitet ist die HIV-Infektion unter der sexuell aktiven Bevölkerung im Alter von 15 bis 49 Jahren. Unter den Männern im Alter von 40 bis 45 Jahren sind 3,4 Prozent HIV-infiziert, unter den Frauen im Alter von 35 bis 40 Jahren 2,1 Prozent.
Es ist naiv anzunehmen, dass dieses Alter das gefährlichste für eine Ansteckung ist. Bis zu diesem Alter akkumulieren die Menschen einfach die maximalen Risiken, sich mit HIV zu infizieren: Man wechselt bereits viele Geschlechtspartner, probiert Drogen aus. 30 Prozent der Drogenabhängigen, die sich die Drogen spritzen und sich zwecks medizinischer Hilfe an die entsprechenden Einrichtungen gewandt haben, sind mit dem HIV infiziert.
Heutzutage aber nimmt man anstelle der intravenös zu spritzenden Opiate Stimulatoren ein, die oral eingenommen werden, die die Geschlechtsaktivität erhöhen. Möglicherweise ist dies eine der Ursachen dafür, warum im Jahr 2021 70 Prozent der neuen Fälle keine anderen Risikofaktoren außer die Geschlechtskontakte haben, wobei in 2,5 Prozent der Fälle eine Verbindung der HIV-Infektion mit homosexuellen Kontakten festgestellt wurde. Und nur 28,3 Prozent informieren über mit Spritzen konsumierte Drogen.
Die Staatsduma (das Unterhaus des russischen Parlaments – Anmerkung der Redaktion) verabschiedet jährlich einen Etat für den Erwerb von Medikamenten für die Menschen, die mit HIV leben. Schließlich ist die Behandlung einer HIV-Infektion vorerst eine lebenslängliche. Und die Zahl der Bedürftigen nimmt zu. Laut einem Bericht des Analytischen Zentrums bei der Regierung der Russischen Föderation hat der Gesamtumfang der Ausgaben für die HIV-Bekämpfung in Russland im Verlauf von 2010 bis 2019 ständig zugenommen, von 20,3 Milliarden Rubel bis auf 63,4 Milliarden Rubel. Im Verzeichnis der Ausgaben dominieren der Erwerb von Präparaten für eine antiretrovirale Therapie, die Organisierung medizinischer Hilfe für die mit HIV lebenden Menschen und die Unterhaltung der Infrastruktur der AIDS-Zentren. Für prophylaktische Maßnahmen sind lediglich 0,7 Prozent aller Mittel ausgegeben worden.
Aus der Analyse der Ausgaben wird klar, dass in Russland nur eine Richtung der HIV-Bekämpfung realisiert wird – „untersuche/teste und behandele“. Geplant ist, die gesamte Bevölkerung zu testen und den ermittelten Personen mit HIV eine Heilbehandlung zu gewähren. Diese Strategie verlangt aber eine ständige Erweiterung der Finanzierung. Die Menschen, die mit HIV leben, können aufgrund unterschiedlicher Erwägungen eine Heilbehandlung ablehnen. Unter ihnen sind auch offenkundige AIDS-Dissidenten. Und die Nebenwirkungen der antiretroviralen Therapie führen dazu, dass viele Patienten die begonnene Behandlung abbrechen. In Russland gibt es 15 bis 20 Prozent solcher Fälle. Dies macht die Aufgabe zur Erfassung der Menschen, die mit HIV leben, zwecks Heilbehandlung zu einer wenig realistischen.
Laut dem Plan für die russische staatliche Strategie zur Bekämpfung der HIV-Infektion wird der Parameter für eine Erfassung durch die entsprechende Therapie im Bereich von 90 Prozent erst im Jahr 2030 erreicht werden. In dieser Zeit ist geplant, weitere 661.000 HIV-positive Bürger durch das Gesundheitsministerium zu erfassen. Wahrscheinlich werden aber um die30 Prozent dazukommen. Das heißt: Der Staat wird anderthalb Millionen Menschen bis ins hohe Alter behandeln müssen. Und die Ausgaben für die HIV-Bekämpfung werden um das 2fache ansteigen. Positiv ist lediglich, dass dies das Prosperieren des Pharma-Business unterstützen wird.
Eigentlich hatte es den Anschein, dass, um mit der HIV-Infektion fertig zu werden, man neue Ansteckungsfälle vorbeugen muss. Doch die wichtigste „prophylaktische“ Maßnahme des Gesundheitsministeriums ist der Autocorso „HIV-Test-Expedition“. Alljährlich sind in den unendlichen Weiten Russlands drei (!) Autos unterwegs, in denen sich Interessenten auf HIV-Antikörper untersuchen lassen können. Insgesamt sind dort im Jahr 2021 nur 13.427 Menschen getestet worden, während im Land täglich 100.000 Menschen untersucht werden.
Wenn in Russland die Bekämpfung von HIV/AIDS entsprechend einem anderen Szenario geplant werden würde, wie beispielsweise in Deutschland oder in Frankreich, wo man Präservative auf Rezept kostenlos ausgibt, hätten wir auch solch geringen Erkrankungszahlen. Dafür muss man aber ernsthaft arbeiten. Eine Geschlechtsaufklärung in den Schulen einführen, der erwachsenen Bevölkerung ein sicheres Verhalten beibringen (Safer Sex), die Preise für Präservative senken, Programme für eine Verringerung des Schadens durch den Drogenkonsum implementieren usw. Man müssten den Widerstand der Obskurant:Innen, Beamten und Drogenmafia überwinden. Es ist klar, dass auch die Finanziers eher zustimmen werden, Gelder für den Erwerb kostspieliger Medikamente bereitzustellen, denn für eine Bewahrung der Qualität der Bevölkerung, die schwerlich in Dollar bewertet werden kann.