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Lukaschenko hat eine Volkswetsche einberufen


Alexander Lukaschenko erklärt, dass die Gesamtweißrussische Versammlung die aktuellsten Fragen diskutieren werde. Die wichtigste darunter sei seiner Meinung nach die hinsichtlich der Wirtschaft. Die Offiziellen annoncieren keinerlei früher signalisierter Pläne für eine Erörterung der Verfassungsreform. Experten sind der Auffassung, dass der weißrussische Staatschef sich nicht anschicke, etwas im Staatsaufbau zu verändern, die Versammlung aber für das Erwecken eines Anscheins von Demokratie und eine Legitimierung seiner Macht nutzen werde.

„Dies ist das wichtigste Ereignis im Leben des Landes. Und wir sind verpflichtet, es auf höchstem Niveau durchzuführen“, erklärte Alexander Lukaschenko am vergangenen Dienstag bei der Eröffnung einer Beratung zu Fragen der Vorbereitung und Durchführung der Gesamtweißrussischen Volksversammlung. Die wird am 11. und 12. Februar in Minsk stattfinden. Neben allgemeinen Anweisungen, ihren Teilnehmern einen würdigen Empfang zu sichern, sprach er sich auch über die Tagesordnung aus. „man muss das Format des Forums effektiv für die Lösung der aktuellsten Fragen nutzen“, zitiert die Anweisung Lukaschenkos sein Pressedienst. „Im Mittelpunkt aller Fragen stehen die Wirtschaft und drängende Fragen des Lebens der Menschen: die Preisbildung, die Tarife für Wohnungs- und kommunale Dienstleistungen, die Arbeitsplätze, die Löhne und so weiter“, ist er der Auffassung. Allerding hat er mit einem Satz konstatiert, dass die Bürger auch zu Fragen der gesellschaftspolitischen Entwicklung des Landes Vorschläge einbringen würden. In den veröffentlichten Materialien der Beratung hat dieses Thema jedoch keine Entwicklung erfahren. Es gab auch in der früher veröffentlichten Tagesordnung keine Fragen, die den Staatsaufbau betreffen. Der gemäß werden die Delegierten der Gesamtweißrussischen Volksversammlung ein Programm für die sozial-ökonomische Entwicklung des Landes für den Zeitraum der nächsten fünf Jahre erörtern.

Es sei daran erinnert, dass die Hauptintrige der Gesamtweißrussischen Volksversammlung nicht in ihrer Tagesordnung steckt. Auf dem Höhepunkt der politischen Krise, als der Sessel unter Lukaschenko besonders aktiv wackelte, hatte er sowohl dem Volk als auch der russischen Führung, die ihm Unterstützung gewährt hatte, versprochen, dass er eine Verfassungsreform durchführen werde. Und danach Neuwahlen. Und er werde das Amt des Präsidenten verlassen. „Sicherlich habe ich zu lange gesessen. Man schaltet das Bügeleisen ein – Lukaschenko. Den Teekocher, den Fernseher – Lukaschenko. Sicherlich hat das ein Teil der Menschen satt“, hatte Lukaschenko damals eingestanden. Gemäß seiner Logik, die er mehrfach dargelegt hat, müsse die Verfassungsreform die Vollmachten zwischen den machtzweigen umverteilen, wobei ein Teil dem Präsidenten abgenommen werden. Seine „Zaren-“ Vollmachten wollte Lukaschenko keinem anderen übergeben. „Man kann nicht diese Verfassung, irgendeinem x-beliebigen überlassen. Denn dann wird es ein Unglück geben. Davor habe ich die meiste Angst“, hatte er gegenüber Arbeitern des Minsker Werkes für Kettenzugfahrzeuge im August vergangenen Jahres erklärt, als sie ihm zugerufen hatten „Tritt ab!“.

Hinsichtlich des Themas der Gesamtweißrussischen Versammlung hatte er mehrere Ideen vorgebracht. Zuerst hatte er nicht ausgeschlossen, dass ein Entwurf eben jener neuen Verfassung, nach deren Annahme er abtreten würde, bei dieser Versammlung diskutiert werde. Später schlug er vor, ihr einen Teil der Präsidentenvollmachten zu übergeben. Es ging darum, dass die Delegierten der Gesamtweißrussischen Volksversammlung für fünf Jahre gewählt werden und die Versammlung ein Gremium sein wird, dem das Parlament, die Minister und die Leiter der örtlichen Administrationen unterstellt sein werden. Experten hatten damals angenommen, dass Lukaschenko beabsichtige, etwas in der Art eines Politbüros des ZK der KPdSU zu schaffen und es zu leiten, nachdem er das Präsidentenamt formell verlassen hat, faktisch aber die Macht bewahrt.

Im Zuge der Zunahme der Repressalien im Land (laut Angaben von Menschenrechtlern wurden im Januar 46 Urteile in Strafsachen gefällt, die im Verlauf der Proteste eingeleitet worden waren) begann Lukaschenko jedoch zu glauben, dass er die Proteste niederschlagen konnte, und beschloss, nichts zu ändern und ruhig weiter zu herrschen. Solch eine Schlussfolgerung ziehen Experten auf der Grundlage seiner Erklärungen. „Man wirft mir vor: Erstens – übermitteln Sie dem Präsidenten, dass er nicht mehr erklärt, dass er kein Präsident sein möchte“. Dies sagte er wieder, da ihn das Volk angeblich bitte zu bleiben. Er erinnerte an die 80 Prozent der für ihn abgegebenen Stimmen und an die sechs Millionen derjenigen, die für ihn gestimmt hätten, obgleich selbst laut Angaben der Zentralen Wahlkommission für ihn 4,6 Millionen Wähler votiert hatten. Die Wahlergebnisse haben allerdings weder die weißrussische Gesellschaft noch die Welt anerkannt. Außerdem ist das Thema der Verfassung irgendwie unbemerkt aus der Diskussion verschwunden. Die Offiziellen hatten versprochen, sie im Verlauf des Jahres 2021 vorzubereiten.

Heutzutage nennen die Experten verschiedene Gründe dafür, warum Alexander Lukaschenko diese Versammlung braucht. „Mit Hilfe dieser Versammlung muss bewiesen werden, dass bei uns alles in Ordnung ist, nichts Außerordentliches geschieht. Und die Revolution des Jahres 2020, die ist irgendeine kurze ärgerlicher Episode, die man schneller vergessen muss“, schrieb diesbezüglich der Politologe Valerij Karbalewitsch. In der vergangenen Woche hat online eine Tagung des Analytischen Experten-Klubs stattgefunden, bei der die Perspektiven und die Bedeutung der Gesamtweißrussischen Volksversammlung diskutiert wurden. Ein Video der Tagung veröffentlichte der Organisator der Diskussion, das analytische Monitoring-Zentrum „Belarus in Focus“. Der Grund- bzw. Haupttenor der experten-Aussagen ist: Die Versammlung ist eine Imitierung von Demokratie, eine „Form der Legitimierung“ Lukaschenkos und ein „sechstes Rad“ im Fuhrwerk der Herrschenden.

„Es gibt keinerlei Andeutungen für wichtige und prinzipielle Veränderungen. Hinsichtlich des Inhalts wird dies eine leere Veranstaltung sein. In Bezug auf den Symbolismus aber kann es aber irgendetwas Neues geben“, meint Pjotr Rudkowskij, Direktor des Weißrussischen Instituts für strategische Forschungen (BISS). Der Experte nennt drei mögliche Ziele der Gesamtweißrussischen Volksversammlung. Erstens sei dies der Tradition geschuldet. „Bis zu diesem Jahr sind solche Versammlungen durchgeführt worden. Ergo muss es sie auch jetzt geben“, urteilt er. „Das zweite Ziel ist, auf irgendeine Art und Weise die Legitimität Lukaschenkos und der herrschenden Macht insgesamt aufzubessern und ein wenig instand zu setzen“, meint Pjotr Rudkowskij. Der experte ist davon überzeugt, dass die zu Tage getretenen Ausmaße an Fälschungen die Legitimität Lukaschenkos im Land vollkommen zerstört hätten. „Bei dieser Versammlung wird eine noch nie dagewesene Unterstützung für Lukaschenko demonstriert. Die Demonstration von Einmütigkeit, Eintracht und Optimismus wird eine größere als in den vergangenen Jahren sein“, nimmt er an. Dabei erinnert er an die Geschichte des rumänischen Diktators Nicolae Ceaușescu, dessen Rede man im November 1989 62 Mal durch Beifall unterbrochen hatte, was nicht daran gehindert hatte, ihn bereits im Dezember zu erschießen. Das dritte Ziel der kommenden Versammlung sei nach Meinung von Pjotr Rudkowskij, diese Versammlung hinsichtlich einer Umwandlung in der Zukunft in ein gewisses legitimes Gremium der „allerhöchsten Volksmacht“ entsprechend dem Vorbild des Kongresses von Muammar Kaddafi zu testen.

Allerdings schließen Pjotr Rudkowskij und auch eine Reihe anderer Analytiker nicht aus, dass es bei der Versammlung ebenfalls Überraschungen geben könne. Ein Beweis dafür sei die heimlich durchgeführte Amtseinführung Lukaschenkos, um die Gesellschaft nicht aufzuregen. Unter anderem ist Tatjana Tschulizkaja, Politologin, akademische Direktorin von SYMPA und Forscherin an der Vytautas-Magnus-Universität, der Meinung, dass man bei der Gesamtweißrussischen Volksversammlung einen Verfassungsentwurf entweder vorstellen oder zumindest die Zeiträume für dessen Vorbereitung skizzieren könne.

Lukaschenkos Opponenten haben ausgehend davon, dass das nichtverfassungsrechte Organ Gesamtweißrussische Volksversammlung (sie gibt es nicht in der Gesetzgebung Weißrusslands) für das Land schicksalsschwere Beschlüsse fassen könne, gewarnt, dass alle Delegierten auf Sanktionslisten gelangen würden. Wie einer der Anführer der Proteste – Pawel Latuschko — erklärte, würden durch ihre Teilnahme an der Versammlung deren Delegierten die Verfassung der Republik Belarus und das Gesetz über die Republiks- und örtlichen Versammlungen verletzen. Ihnen würden Freiheitsstrafen von zwei bis zehn Jahren drohen, wenn sich das Forum auf die Behandlung traditioneller Fragen über sozial-ökonomische Pläne für einen Zeitraum von fünf Jahren beschränke, und zehn bis 15 Jahre, wenn die Beschlüsse zu einer Verfassungsumsturz führen würden.

Die jüngsten Statements von Lukaschenko kommentierend, sprechen Experten immer mehr von dessen Losgelöstheit von den Realitäten und dem Unwillen, die Wirklichkeit anzuerkennen. So sprach er bei einer Beratung am Dienstag von Tausenden von Delegierten, die durch Arbeitskollektive nominiert worden seien, die vom Forum für sich wichtige Beschlüsse erwarten würden. Derweil haben selbst laut offiziellen Informationen in diesem Jahr keine Arbeitskollektive irgendwelche Delegierte für die Gesamtweißrussische Volksversammlung nominiert. Ihre Teilnehmer sind Abgeordnete lokaler Räte und Vertreter machttreuer gesellschaftlicher Vereinigungen, die inoffiziell gewählt wurden. Laut letzten Umfragen von Chatham House, seien nur rund 20 Prozent der Weißrussen geneigt, den Offiziellen insgesamt und dieser Versammlung in Sonderheit zu vertrauen. Ja, und schließlich ist das Wichtigste laut Experten-Einschätzungen, was die Weißrussen derzeit bewegt – dies sind die politische Krise und die Pandemie, während die Herrschenden gerade dies ignorieren. Das Internet-Medium Naviny.by schreibt, dass die Weißrussen begonnen hätten, mehr zu trinken (der Alkoholkonsum ist um sechs Prozent angestiegen). Und sie würden häufiger im Internet Beruhigungsmittel suchen. „den Bürgern ist das Gefühl von Sicherheit genommen worden. Sie verspüren Angst aufgrund der politischen Situation in Belarus“, zitiert das Portal den Menschenrechtler Sergej Ustinow. „Wir sind bereits in eine Phase einer Zuspitzung aller psychischen Erkrankungen und des Verbrauchs psychoaktiver Stoffe, legaler und illegaler, geraten“, sagte der Psychotherapeut Andrej Butko. Die Weißrussen würden sich an der Schwelle zu einer großen Depression befinden, konstatiert das Internet-Medium.