Unabhängige Zeitung

Private Tageszeitung

Womit sind die Impfparadoxa in Russland zu erklären?


In Russland läuft bereits anderthalb Monate eine Massenvakzinierung gegen das Coronavirus. Verkündet wurde sie im Auftrag Putins ab dem 18. Januar. Real aber hatte man früher zu impfen begonnen, noch vor dem Jahreswechsel.

Als weltweit erstes wurde ein russisches Vakzin registriert. Jetzt sind es derer bereits drei. Und „Sputnik-V“ ist in 42 Ländern registriert worden (Stand vom 3. März 2021 – Anmerkung der Redaktion). Nach Aussagen Putins hätte ihm Premierminister Michail Mischustin mitgeteilt, dass die Industrie „nicht nur alle zugesagten Normative und Umfänge erfüllt, sondern auch die geplanten Umfänge für die Herstellung des Vakzins überboten hat“. Alles in allem: Lass dich impfen oder auch nicht.

Und man lässt sich spritzen, d. h., man vakziniert. Laut den letzten Angaben von Rospotrebnadzor (Russlands Verbraucherschutzbehörde, die auch für sanitär-hygienische Fragen zuständig ist – Anmerkung der Redaktion) hat man mit Stand von Anfang März nur 4 Millionen Bürger Russlands gegen COVID-19 geimpft (wobei bisher erst zwei Millionen mit beiden Komponenten von Sputnik-V geimpft worden sind – Anmerkung der Redaktion). Das heißt, bis heute sind weniger als drei Prozent der Bevölkerung der Russischen Föderation geimpft worden. Zum Vergleich: in Großbritannien – über 20 Prozent, in Israel – überhaupt beinahe 70 Prozent. Und weder in Großbritannien noch in Israel gibt es ein eigenes Vakzin. Wie das? Wo ist der Impfstoff abgeblieben?

An einigen Orten ist die Vakzinierung ausgesetzt worden, denn die Partien an Vakzinen sind ausgegangen. Diejenigen, die sich impfen lassen wollten, sind in Wartelisten erfasst worden. Zuvor kamen gleich aus mehreren Regionen Russlands Meldungen über eine Unterbrechung der Vakzinierung aufgrund dessen, dass die gelieferten Partien an Vakzinen zu Ende gegangen waren. Alexej Dobrowolskij, Direktor des Departments für Gesundheitswesen der Jugra-Region, berichtete der Nachrichtenagentur TASS, dass der Autonome Bezirk Chanty-Mansijsk (der Chanten und Mansen) die Vakzinierung der Einwohner gegen das Coronavirus in allen großen Städten unterbrochen hätte, die die Vorräte an „Sputnik-V“ in der Region ausgegangen seien.

Die Nachrichtenagentur Interfax meldete, dass die meisten Regionen des Föderalen Ural-Bezirks bereits alle zuvor gelieferten Einheiten des Impfstoffes gegen das Coronavirus aufgebraucht hätten und jetzt auf neue Lieferungen warten würden. Es geht dabei u. a. um Polikliniken von Tscheljabinsk, wo man der Agentur mitteilte, dass es in der Region keine Vakzine mehr gebe und man alle Interessenten auf eine Warteliste setzen würde. Eine ähnliche Situation hat sich im Swerdlowsker Verwaltungsgebiet herausgebildet, wo eine Massenvakzinierung begonnen hatte.

Der Mangel an Coronavirus-Vakzinen in einigen Regionen Russlands hänge mit den geografischen Besonderheiten des Landes zusammen, aber auch damit, dass die Herstellung der Vakzine noch nicht die volle Leistung erreicht habe, erklärte der Pressesekretär des Präsidenten Dmitrij Peskow, meldet TASS. „Natürlich ist die ausgedehnte Geografie unseres Landes gemeint. Es geht um den an Tempo gewinnenden Prozess der Herstellung beider Komponenten des Vakzins (Sputnik-V – „NG“). Dies ist eine große Aufgabe. Und natürlich kann nicht ausgeschlossen werden, dass irgendwo unter Berücksichtigung der Zunahme der Nachfrage nach diesem Vakzin vorübergehende Schwierigkeiten auftreten können“, erläuterte Peskow.

Russland ist groß, das stimmt. Aber auch beispielsweise Honduras, das 36. Land, wo „Sputnik-V“ registriert wurde, ist auch nicht gerade vor der Haustür. Es liegt weiter als das Swerdlowsker Verwaltungsgebiet.

Und auch mit den Zahlen herrscht ein völliger Wirrwarr. Die föderalen Zahlen unterscheiden sich stark von den regionalen. Wie der unabhängige Analytiker Alexander Dragan betonte, hätte bereits im Dezember der Russische Fonds für Direktinvestitionen, der die Vermarktung des Impfstoffs „Sputnik-V“ voranbringen soll, über hunderttausende Geimpfte berichtet, wobei die Zahl der Geimpften um hunderttausende in Woche zugenommen hätte. Derweil seien in die Regionen im besten Falle hunderte oder tausende Einheiten geliefert worden. In vielen Regionen hatte die Vakzinierung damals auch gar nicht begonnen. In 67 Regionen, auf die 86 Prozent der Landesbevölkerung entfallen, waren Ende Dezember-Anfang Januar ganze 156.279 Menschen vakziniert worden, d. h. 0,12 Prozent von den dort Lebenden. Und dies, obwohl „die großangelegte Vakzinierung“ praktisch einen Monat zuvor, am 5. Dezember gestartet worden war.

Derzeit gebe es zwei Hauptprobleme, meint Alexander Dragan. Das erste ist ein logistisches. Wenn die Zahlen hinsichtlich der Anzahl der hergestellten Impfstoffeinheiten stimmen, so schafft man es einfach nicht, die erforderliche Menge der Vakzine in die Regionen zu bringen. Andererseits kommen viele Regionen einfach nicht hinterher und können sich sogar nicht einmal mit jenen tausenden Einheiten zurechtfinden, die zu ihnen gelangen. D. h., in eine Region können – einmal angenommen – 3.000 bis 4.000 Impfstoff-Einheiten kommen, doch sie schafft es nicht, im Verlauf von ein paar Wochen 1000 bis 1500 Menschen zu impfen.

Die Ursachen können überall verschiedene sein. Irgendwo ist der Logistik-Prozess unzureichend organisiert, andernorts mangelt es an Kühlschränken. Das Verwaltungsgebiet Wladimir beispielsweise wurde mit diesem Problem konfrontiert. Ende Dezember – Anfang Januar gab es in der Region schlicht und einfach nicht ausreichend Kühlschränke für eine Aufbewahrung von 2Sputnik-V“. Es ist unmöglich, die Logistik mit Blick auf hunderttausende und Millionen Impfstoffeinheiten zu organisieren und damit zu rechnen, dass morgen eine großangelegte Vakzinierung von Millionen von russischen Bürgern beginnen wird, wie man verspricht.

Die regionalen Berichte seien durch und durch Jubelmeldungen, die nichts mit der realen Situation gemein hätten. Ein Vertreter des Gesundheitswesens, der aufgrund seiner Dienstpflichten ununterbrochen durch das Land reist, berichtete der „NG“, dass man sich in den Regionen sehr wenig impfen lasse. Seinen Beobachtungen zufolge wolle man nicht. Man sehe keine Notwendigkeit darin, halte das Vakzin für ein unzureichend geprüftes, würden den Offiziellen nicht vertrauen und sich für Verschwörungstheorien begeistern, die unter anderem durch das Fernsehen verbreitet werden. Das Misstrauen gegen jeglichen und gegen jegliches sowie das Erwarten eines Hakens überall werden zu einer Massenerscheinung.

Es ist ein Paradoxon. Das Land, das weltweit als erstes ein Vakzin gegen COVID-19 entwickelte und registrierte, befindet sich auch unter den Spitzenreitern hinsichtlich der  COVID-Dissidenten. Und da ergeben sich keine Fragen hinsichtlich der Logistik für die Impfstoff-Lieferungen, sondern hinsichtlich des generellen Kultur- und Bildungsniveaus der Bevölkerung des Landes Anfang des 21. Jahrhunderts.