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Russlands Bevölkerung zahlte sowohl für den fallenden Rubel als auch für den Protektionismus


Die Offiziellen versuchen, den Anstieg der Lebensmittelpreise abzufangen, indem sie eine staatliche Regulierung einführen und den Export einschränken. Es gibt aber auch noch eine Maßnahme, die nicht einmal gar erörtert wird: eine Erhöhung des Angebots durch eine Lockerung des Lebensmittelembargos. Innerhalb von sieben Jahren sind Berechnungen der Regierung nach zu urteilen die Agrarier nicht einfach auf die Beine gekommen, sondern auch erstarkt. Wie man der „NG“ im Landwirtschaftsministerium mitteilte, ist beispielsweise die Erzeugung von Getreide um das Anderthalbfache angestiegen, die von Treibhausgemüse – um das 3fache, von Früchten und Beeren – um das 5fache. Um 80 Prozent ist der Export gewachsen. Doch für den Protektionismus zahlte die Bevölkerung. Viele Lebensmittel sind in der Zeit des Embargos im Preis genauso wie der Dollar in die Höhe geschnellt – um das 1,5- bis 2fache.

Der Anstieg der Preise für Waren und Dienstleistungen, besonders für Nahrungsmittel, befindet sich derzeit im Fokus der erhöhten Aufmerksamkeit der Regierung. Das Ministerkabinett wird ein ständiges Preismonitoring für ein schnelles Reagieren vornehmen. Die Offiziellen haben bereits solche Methoden wie eine staatliche Regulierung der Kosten und Exporteinschränkungen ausprobiert. Mit einem unterschiedlichen Grad an Skepsis wurde eine Stimulierung der Nachfrage mit Hilfe einer speziellen Lebensmittelhilfe für die Bevölkerung diskutiert.

Die einzige Maßnahme, die von den Beamten nicht einmal vorgeschlagen wird, jedoch als eine logische erscheint, ist, das Warenangebot zu erweitern. Und eine der Methoden, dies unter den Bedingungen zu tun, unter denen der einheimische Erzeuger bereits ohnehin seinen Output erhöhte, ist, das Lebensmittelembargo zu lockern.

Den Angaben zu urteilen, die man der „NG“ im Pressedienst des Landwirtschaftsministeriums zur Verfügung stellte, haben es die einheimischen Agrarier während des Wirkens des Lebensmittelembargos oder der sogenannten Gegensanktionen geschafft, nicht nur auf die Beine zu kommen und zu erstarken, sondern auch zwecks Eroberung ausländischer Märkte loszuziehen.

„Das Wirken des Lebensmittelembargos hat der Entwicklung des Agrar-Industrie-Komplexes von Russland einen Impuls verliehen, einen Zustrom von Investitionen sowie die Schaffung zusätzlicher Arbeitsplätze sowohl in der Landwirtschaft als auch in den angrenzen Branchen befördert“, betonte man im Landwirtschaftsministerium.

In den letzten Jahren habe Russland signifikant den Import von Erzeugnissen des Agrar-Industrie-Komplexes verringert und sich vollkommen mit den hauptsächlichen Nahrungsmitteln versorgt, fügte man im Ministerium von Dmitrij Patruschew hinzu. So ist laut Angaben des Ministeriums in den letzten sieben Jahren der Lebensmittelimport um ein Drittel zurückgegangen, von 43,3 Milliarden Dollar im Jahr 2013 bis auf 29,8 Milliarden Dollar im Jahr 2020.

Laut Angaben des Landwirtschaftsministeriums ist ein wesentlicher Anstieg der Produktion der wichtigsten Arten von Erzeugnissen des Pflanzenanbaus erzielt worden: bei Getreide (von 92,4 Millionen Tonnen im Jahr 2013 bis auf 133 Millionen Tonnen im Jahr 2020, d. h. etwa um das 1,4fache), Treibhausgemüse – um das 2,5fache (von 538.000 Tonnen bis auf 1,35 Millionen Tonnen) sowie Obst und Beeren – um fas 5fache: von 678.000 Tonnen bis auf 3,5 Millionen Tonnen.

Gemeldet werden Erfolge auch auf dem Gebiet der Viehwirtschaft. So ist die Produktion von Schlachtschweinen in Bezug auf das Lebendgewicht um das Anderthalbfache angestiegen – von 3,6 Millionen Tonnen im Jahr 2013 bis auf 5,5 Millionen Tonnen im Jahr 2020, die Geflügelproduktion stieg um beinahe 30 Prozent an – von 5,2 Millionen Tonnen bis auf 6,7 Millionen Tonnen. „Die Produktion von Geflügelerzeugnissen hat insgesamt um mehr als 35 Prozent zugenommen“, präzisierte man im Landwirtschaftsministerium.

„Der hohe Grad der Selbstversorgung hinsichtlich der wichtigsten Richtungen erlaubt der Branche, sich auf der Ebene des Exports zu entwickeln, wobei neue Absatzmärkte erschlossen und bereits existierende Handelskanäle erweitert werden“, fügte man im Ministerium Patruschews hinzu. „In der Zeit des Wirkens des Lebensmittelembargos hat sich der Agrar-Export fast um 80 Prozent erhöht und machte über 30 Milliarden Dollar entsprechend den Ergebnissen des vergangenen Jahres gegenüber 16,8 Milliarden Dollar im Jahr 2013 aus“.

Im Pressedienst des Industrie- und Handelsministeriums fügte man dem hinzu, dass „in den letzten fünf Jahren die landwirtschaftlichen Warenproduzenten ihre Produktionsmöglichkeiten vergrößern und den Import durch einheimische Nahrungsprodukte ersetzen konnten“. „Gegenwärtig wird ein großer Anteil von Waren aus russischer Produktion in den Ladenregalen beobachtet. So machte laut Angaben des russischen Statistikamtes der Anteil der importierten Lebensmittelwaren in den Warenressourcen des Einzelhandels im dritten Quartal des vergangenen Jahres 24 Prozent aus. Im vierten Quartal des Jahres 2020 belief er sich auf 36 Prozent“.

Aber all diese Erfolge und Errungenschaften haben allem nach zu urteilen für die Bevölkerung die Waren hinsichtlich der Preise doch nicht erschwinglicher gemacht. Im Gegenteil: Ungeachtet dessen, dass der Zustrom des teuer werdenden Imports eingeschränkt wurde, sind viele Produkte in der langen Zeit des Embargos beinahe genauso teuer wie auch der Dollar geworden. Beispielsweise ist der Dollarkurs in Russland derzeit etwa 2mal höher als im Frühjahr des Jahres 2014. Und den Daten des russischen Statistikamtes nach zu urteilen sind viele Nahrungsmittel heute gleichfalls erheblich teurer.

So kostete im Februar dieses Jahres unter anderem ein Kilogramm Rindfleisch etwa anderthalbmal mehr als im Februar des Jahres 2014, Gurken – um das Anderthalbfache, Zucker – um das Anderthalbfache, Fisch – um das 1,6fache, Brot- und Backwaren aus Weizenmehl – um das 1,6fache, Sonnenblumenöl – um das 1,7fache, Tomaten – um das 1,7fache, Äpfel – um das 1,7fache… Man kann diese Liste unendlich lange fortführen. Übrigens, auch in den vorangegangenen sieben Jahren sind die Preise gleichfalls um ein Mehrfaches gestiegen.

Im Pressedienst des Industrie- und Handelsministeriums erläuterte man der „NG“, dass der Preisanstieg bei den Nahrungsmitteln mit der Zunahme der Selbstkosten für die Lebensmittelproduktion bei den Erzeugern und Lieferanten zu erklären sei. Im Ministerium von Denis Manturow zählte man solche Faktoren wie „die Kursänderung der Währungen, den Anstieg der Preise für Rohstoffe, Futtermittel, medizinische Präparate und Verpackungsmaterialien, für die Leistungen der kommunalen Wohnungswirtschaft, die Logistikausgaben, Personalkosten sowie der Kosten für den Einkauf und die Instandsetzung von Anlagen und Ausrüstungen, darunter aus ausländischer Fertigung“ auf.

Unter Berücksichtigung der ausgewiesenen Faktoren bestimmen die Produzenten die Preise für die Lebensmittel, und der Handel gibt sie in die Ladenregale weiter“, fuhr man im Ministerium fort. Dabei würden sich die Handelsorganisationen, wie man im Industrie- und Handelsministerium versichert, „insgesamt ungern auf eine Erhöhung der Preise einlassen, da niedrige Preise ein Wettbewerbsvorteil sind“. „Laut Angaben des russischen Statistikamtes beläuft sich der durchschnittliche Handelsaufschlag für sozial bedeutsame Lebensmittel im Einzelhandel auf rund 15 Prozent, in den föderalen und regionalen Handelsketten ist er noch geringer“, präzisierte man im Ministerium.

Zu den Ursachen des Anstiegs der Preise für Nahrungsmittel rechnete man im Industrie- und Handelsministerium auch die „regelmäßigen Epizootien, die das Angebot von Produkten tierischer Herkunft verringern“. „Im Jahr 2020 konnten viele Produzenten aufgrund der Pandemie ihre Erzeugnisse nicht verkaufen und erlitten Verluste. Viele Handelsorganisationen wurden geschlossen, was ebenfalls die Absatzmöglichkeiten der Hersteller einschränkte“, betonte man im Ministerium.

Also denn, wenn man ein Resümee zieht, so bezahlen den Protektionismus, mit welchen Motiven er auch immer begründet werden mag, stets die einheimischen Verbraucher, die Landesbevölkerung – zu Gunsten konkreter Eigentümer-Hersteller. Ein protektionistischer Schutz, auch wenn er eingeführt wird, so zeitweilig, für einen bestimmten Zeitraum, der den Herstellern sich anzupassen erlaubt.

Das Lebensmittelembargo in Russland gilt bereits fast sieben Jahre, was entweder vergleichbar oder in einer Reihe von Fällen gar mehr im Vergleich zu jenen Übergangsperioden ist, die Russland beispielsweise beim Beitritt zur Welthandelsorganisation für eine Anpassung der Branchen inkl. der Landwirtschaft eingeräumt worden waren. Und ist vielleicht die Zeit gekommen, die Agrarier zu den Bedingungen einer verstärkten Konkurrenz zurückzubringen?

Die Meinungen der Experten gehen da auseinander. Wie Professor Wjatscheslaw Tscheglow von der Russischen Plechanow-Wirtschaftsuniversität meint, sei eine Aufgabe des Embargos ein schmerzhafter Schritt. „Der Import von Nahrungsmitteln wird die einheimischen Erzeuger treffen. Sie werden dem Preis-Wettbewerb nicht standhalten. Die kleinen werden ruiniert“, vermutet der Experte. „Und dies bedeutet, dass die Aufhebung des Embargos kein Allheilmittel ist. Und die Offiziellen werden sich darauf nur einlassen, wenn die Ladenregale leer sind“.

Eine andere Meinung vertritt der Analytiker der Investitionsfirma „Finam“ Artemij Schamschukow: „Es lohnt nicht, sich um die russischen Waren Sorgen zu machen, da es für den ausländischen Hersteller im Gegenteil schwieriger werden wird, mit den russischen Nahrungsmitteln aufgrund des spürbar schwächelnden Rubels zu konkurrieren“. Seinem Kommentar nach zu urteilen kann der Konkurrenzkampf der einheimischen Hersteller und der Import-Lieferanten letztlich wirklich die Preis-Situation ausbalancieren.

Alexander Osin, Analytiker der Firma „Freedom Finance“, nimmt an, dass „eine Aufhebung des Lebensmittelembargos keinen signifikanten Einfluss auf die Dynamik des Indexes der Verbraucherpreise der Russischen Föderation auf langer Sicht ausüben wird“. Möglich sei eine punktuelle Wirkung des „Nivellierens“ des Preisanstiegs im Ergebnis der Aufhebung des Embargos für einzelne Arten von Waren innerhalb eines kurzen Zeitraums, aber mehr nicht, erwartet der Experte. Daher stehe nach seinen Worten die Schlüsselfrage: Im Gegenzug für was wird Russland bereit sein, sich in seiner Politik der Gegensanktionen auf Zugeständnisse einzulassen? Und die Antwort werden die Offiziellen in diesem Fall nicht zusammen mit den einheimischen Verbrauchern suchen, sondern mit ausländischen politischen Kräften.