Vor einem Jahr, als die Geschichte mit dem Coronavirus gerade begonnen hatte, verhielten sich Russlands Bürger dem gegenüber skeptisch. Was noch für ein Virus? Wer hat ihn gesehen? Ganze zwei Kranke. Und dann auch nicht einmal unsrige. Unter Verwandten, Bekannten und Bekannten der Bekannten hatte sich keiner angesteckt.
Jedoch hat sich alles schnell verändert. Es kam sowohl zu Kranken als auch zu Verstorbenen. Unbekannt war, wie heilen, womit heilen. Probleme ergaben sich mit den Beisetzungen. Einschränkungen für die menschlichen Kontakte, Schutzmasken und das eingesperrt Herumsitzen. Und die Sterbefälle, die Todeszahlen. Da bekam man Angst. Aber nicht sehr. Im Grunde genommen fürchtete man sich nicht so sehr vor COVID-19 als vielmehr vor den Einschränkungen, die die Wirtschaft zerstörten und wahre Tragödien bescherten. Wie auch die ganze Welt begann man, auf ein Vakzin zu warten, die einzige Hoffnung auf eine Rettung.
Vakzine entwickelt man gewöhnlich mehrere Jahre lang. Unter normalen Bedingungen im Verlauf von sieben bis zehn Jahren. Jetzt aber konnte man nicht warten. Die halbe Welt stirbt weg. Die Wissenschaftler strengten sich, und nach einem halben Jahr begannen Vakzine aufzutauchen.
Als erstes wurde das russische Präparat Sputnik-V registriert. Es begann eine Vakzinierung. Man dachte, dass alle losstürzen werden, um sich impfen zu lassen. Aber nein, dem ist nicht so. Es hat sich herausgestellt, dass dieser Prozess sehr schleppend vorankommt.
Die Daten einer letzten Umfrage, die vom Levada-Zentrum durchgeführt wurde, zeigen, dass die Zahl der Interessenten, die sich mit dem russischen Anti-Corona-Vakzin „Sputnik-V“ impfen lassen wollen, zurückgeht. Während im vergangenen Dezember 58 Prozent der Befragten den Unwillen bekundeten, sich vakzinieren zu lassen, so waren es im Februar dieses Jahres bereits 62 Prozent. 56 Prozent erklärte, dass sie „generell keine Angst haben, sich mit dem Coronavirus anzustecken“. Dies ist der höchste Wert seit Februar vergangenen Jahres, betonen die Soziologen. Aus dieser Gruppe der Befragten haben 31 Prozent „bestimmt“ keine Angst vor einer Ansteckung, und 25 Prozent fürchten sich „eher“ nicht. Eine Infektion fürchten 43 Prozent.
Gegenüber dem russischen Vakzin „Sputnik-V“ verhält man sich skeptisch, besonders die Jugendlichen. Unter den Befragten im Alter 18 bis 25 Jahren sagte lediglich 19 Prozent, dass sie bereit seien, sich impfen zu lassen. Die Mehrheit (37 Prozent) begründet die negative Haltung gegenüber dem Impfstoff mit der Gefahr von Nebenwirkungen. 23 Prozent halten es für notwendig, das Ende der klinischen Tests abzuwarten. Und 16 Prozent sehen überhaupt keinerlei Sinn in der Impfung.
Die Vakzinierungskampagne läuft in Russland schon über drei Monate. Seit Mitte Januar, das heißt bereits knapp zwei Monate kann sich in den meisten Regionen jeder Interessent impfen lassen.
Laut einer Schätzung des Internetportals www.gogov.ru werden im Land täglich durchschnittlich rund 124.000 Menschen geimpft. Etwa genau solch ein Tempo der Vakzinierung wird in Italien oder Deutschland – 120.000 bzw. 142.000 Menschen täglich – gemeldet. Dies ist aber wesentlich weniger als beispielsweise in Großbritannien, wo täglich 300.000 bis 350.000 Menschen geimpft werden. In den USA werden am Tag 1,3 Millionen Menschen gegen COVID-19 geimpft.
Die Vereinigten Staaten, Großbritannien und Russland vereint das, dass es in all diesen Ländern eine eigene Herstellung von Vakzinen gibt. In Großbritannien sind bereits fast 33 Prozent der Bevölkerung zumindest mit einer Komponente geimpft worden, in den USA – 18,8 Prozent.
Laut offiziellen Meldungen aus den Regionen darüber, wie viele Menschen mit der ersten Komponente von „Sputnik-V“ zu Beginn des Monats März oder in den letzten Februartagen vakziniert worden sind, haben über 4,7 Millionen Menschen die erste Dosis des Vakzins bekommen. Dies sind rund 3,2 Prozent der Bevölkerung Russlands oder etwas mehr als vier Prozent der erwachsenen Bevölkerung. Moskau wurde zum Spitzenreiter hinsichtlich der absoluten Zahl der zumindest mit einer Komponente geimpften Menschen. Laut Angaben des operativen Stabs haben mindestens 700.000 Menschen eine Impfung erhalten. Dies sind ganze 5,5 Prozent der hauptstädtischen Bevölkerung.
Russlands Bürger haben vor der Impfung mehr als vor COVID-19 Angst. Warum? Schließlich überschlagen sich die offiziellen Medien in ihren Triumphmeldungen über die Entwicklung und den Einsatz des Vakzins. Dass „Sputnik-V“ registriert wird, dass wir die ersten in der Welt sind, wurde wie der Weltraumflug von Jurij Gagarin vermeldet.
Da man dies so feierlich verkündete, glaubt man dem auch nicht. Wenn man einfach ruhig bekanntgegeben hätte, dass das Vakzin ein normales sei, hätte man mehr Vertrauen ausgelöst. Und es ist ein normaler Impfstoff, wie bereits die ordentlichen Erfahrungen aus seinem Einsatz zeigten. Es verursacht keine ernsten unerwünschten Nebenwirkungen.
Der gewöhnliche Bürger erhält dennoch über die sozialen Netzwerke viele Mitteilungen von Freunden und Bekannten, dass sich irgendwer impfen ließ und gestorben sei. Und die Offiziellen hätten dies einfach verheimlicht. Da die Herrschenden in der Tat geneigt sind, vieles zu verheimlichen (beispielsweise das Ausmaß der Korruption), vermehren sich all diese Verschwörungstheorien auf einem fruchtbaren Boden.
Die vom Moskauer Levada-Zentrum durchgeführte Umfrage zeigte ebenfalls, dass sich die absolute Mehrheit der Bürger Russlands der künstlichen Herkunft des Coronavirus sicher ist. 64 Prozent der Befragten vermuten, dass das Coronavirus als die neue Form einer biologischen Waffe entwickelt wurde. Lediglich 23 Prozent denken, dass es auf natürlichem Wege entstanden ist. Die Soziologen erklären dies mit der weiten Verbreitung von Verschwörungstheorien in Russland, aber auch damit, dass solch ein Standpunkt in den föderalen Massenmedien dominiert.
Der Unwille, sich impfen zu lassen, steht nicht nur in Russland, sondern auch in anderen Ländern mit dem Vertrauen gegenüber den Herrschenden in einem Zusammenhang. Wenn die Offiziellen eins sagen, aber etwas anderes passiert, hören die Bürger auf, den Herrschenden zu vertrauen, erklärt der bekannte Epidemiologe Michail Faworow. Das Schwierigste ist, die anfälligsten Gruppe zu impfen. Die ärmsten, die am meisten krank werden und die abgelegensten bleiben ohne einen Schutz. Dies ist ein bekanntes Phänomen der Impf-Wissenschaft.
Die Massenmedien und sozialen Netzwerke sind übervoll an Erörterungen der verschiedenen Vakzine und deren Vergleiche. Wobei sich damit nicht Epidemiologen befassen, nicht Virologen und nicht einmal Ärzte, sondern meistens Menschen, die in keiner Weise etwas mit der Medizin oder Biologie zu tun haben. Und da ruft der Epidemiologe Faworow auf: „Lassen Sie sich impfen! Mit „Sputnik-V“, Pfizer, Moderna. Das, was zugänglich, lassen Sie sich auch damit impfen! Dies ist ein prinzipielles Moment. Nur so schützen Sie sich selbst und — das Wichtigste – Ihre Alten. Wenn Sie sich nicht impfen lassen, werden Sie früher oder später das Virus mit nach Hause bringen“.