Die Bekanntgabe des Datums für vorgezogene Parlamentswahlen hat die Situation auf dem politischen Feld Armeniens nicht übersichtlicher gemacht. Sie hat sie eher verworrener gemacht. Wie dieser Tage Armeniens Premierminister Nikol Paschinian erklärte, werden am 20. Juni vorgezogene Parlamentswahlen im Land stattfinden. Solch eine Entscheidung wurde seinen Worten zufolge nach Treffen und Konsultationen mit dem Präsidenten der Republik, aber auch mit den Führern der Parlamentsfraktionen – der regierungstreuen „Mein Schritt“ und der oppositionellen „Blühendes Armenien“ und „Leuchtendes Armenien“ – getroffen. Derweil hat die außerparlamentarische Opposition, unter anderem in Gestalt der „Bewegung zur Rettung der Heimat“, die schon mehr als vier Monate den unverzüglichen Rücktritt Paschinians und seiner Regierung fordert, nur nach Absetzung des Premierministers vorgezogenen Wahlen zugestimmt. Somit hat sich die Opposition gespalten: Während früher beispielsweise die Parteien „Blühendes Armenien“ und „Airenik“ („Vaterland“) eine Lösung der innenpolitischen Situation bei Wahlen nach einem Rücktritt von Paschinian gesehen hatten, so sind sie jetzt bereit, bei den Wahlen anzutreten, die die gegenwärtigen Herrschenden durchführen werden.
Seine Absicht, an den Wahlen teilzunehmen und zu siegen, hatte zuvor auch Armeniens zweiter Präsident Robert Kotscharian erklärt, der die Protestaktionen gegen Paschinian bedingungslos unterstützt hatte. Freilich ist bisher unbekannt: Wird er allein zu den Wahlen oder im Bündnis mit irgendeiner der politischen Kräfte antreten?
Eine radikale Position haben unter anderem die ehemalige regierende Republikanische Partei und „Daschnakzutjun“ („Armenische Revolutionäre Föderation“), die bei den vergangenen nicht die erforderlichen 5 Prozent für einen Einzug ins Parlament erreicht hatten, eingenommen. Dies bestätigte dieser Tage der offizielle Sprecher der Republikanischen Partei Eduard Scharmasanow, der die politischen Kräfte des Landes aufgerufen hatte, „die Tagesordnung nicht zu ändern“ und weiter den Rücktritt von Paschinian zu fordern. Seinen Worten zufolge müsse Paschinian, der durch seine verantwortungslosen Erklärungen den Krieg ausgelöst hätte, haften. Aber alles müsse im Rahmen des Gesetzes erfolgen. Scharmasanow bestätigte, dass die Vertreter der Republikanischen Partei für einen Rücktritt Paschinians kämpfen werden, selbst wenn sie allein bleiben sollten. Er zweifelt nicht daran, dass unter Paschinian die Wahlen gefälscht werden würden. „Dies wird der Versuch sein, die Gesellschaft zu zivilen Auseinandersetzungen zu führen“.
Doch die Reihen der Opposition, die den Rücktritt Paschinians fordern, sind wirklich lichter geworden. Derzeit ist nicht sehr klar, welche Rolle – sagen wir einmal – der gemeinsame Kandidat für das Amt des zeitweiligen Premierministers Wasgen Manukian zu spielen hat, den die Opposition für ein Jahr zwecks Stabilisierung der Situation im Land und Organisierung der vorgezogenen Parlamentswahlen nominierte. Jetzt ist das Datum der Wahlen genannt worden, Nikol Paschinian ist nicht zurückgetreten. Die einen oder anderen Parteien haben bereits begonnen, sich auf die Wahlen vorzubereiten. Manukian ist ebenfalls der Meinung, dass man unter Paschinian die Wahlen nicht abhalten dürfe, da sie gefälscht werden würden. Und die entscheidende Rolle würden bei ihnen die administrativen Ressourcen spielen. Dabei ist gegen Manukian an sich ein Strafverfahren wegen Aufrufen zur gewaltsamen Einnahme staatlicher Einrichtungen eingeleitet worden…
Aber… „Natürlich kann man das vom Premier genannte Datum – den 20. Juni – nicht als offizielle Ankündigung vorgezogener Wahlen ansehen“, meint der Politologe Manwel Gumaschian. Seinen Worten zufolge müssten dafür eine Reihe formeller Prozeduren durchgeführt werden, die durch die Verfassung und den Wahlkodex des Landes gefordert werden. „Man kann lediglich von einer prinzipiellen Einigung hinsichtlich dieser Frage zwischen den politischen Hauptkräften des Landes sprechen, was durch deren Führer bestätigt worden war. Und dies bedeutet, dass der viermonatige Kampf der 17 Oppositionsparteien, darunter auch von „Blühendes Armenien“, die sich zur „Bewegung zur Rettung der Heimat“ vereint hatten und für eine Ablösung des den Krieg verlorenen Premiers und für die Ernennung „ihres Mannes“ für dieses Amt – einen der Gründer der „dritten“ Armenischen Republik, Wasgen Manukian, sowie die Abhaltung von Parlamentswahlen nach etwa einem Jahr plädieren, gescheitert ist“, denkt der Experte.
Die Hauptfrage, die heute die armenische Gesellschaft bewegt, ist: Werden die angekündigten vorgezogenen Wahlen zu einer Stabilität im Land führen? Die Frage hat offenkundig keine eindeutige Antwort. „Jüngste Meinungsumfragen im Land zeigen, dass ungeachtet der Niederlage im Karabach-Krieg, der Flops bei der Durchführung der Reformen, und in erster Linie im Rechtssystem, sowie die Positionen der herrschenden Kraft „Mein Schritt“ und von ihrem Führer Nikol Paschinian recht stark sind“, erklärte Manwel Gumaschian gegenüber der „NG“. „So würde laut den Angaben von MPG (Marketing Professional Group), die am 19. Februar gewonnen wurden, der regierende Block „Mein Schritt“, wenn am nächsten Sonntag Parlamentswahlen stattfinden würden, 33,1 Prozent erhalten, während seine Hauptkonkurrenten „Blühendes Armenien“ und „Leuchtendes Armenien“ 4,4 bzw. 2,6 Prozent der Wählerstimmen. Das heißt sie könnten nicht die „parlamentarische Sperrklausel“ überwinden, die gemäß dem geltenden Wahlkodex 5 Prozent ausmacht“.
Was die außerparlamentarischen Kräfte angeht, so wird der Prozentsatz der Stimmen ihrer Wähler noch geringer ausfallen, ist sich der Politologe gewiss. Dabei ist er der Auffassung, dass man die Angaben dieser Umfrage zweifellos nicht als völlig repräsentative ansehen könne, da sie vor allem in der Landeshauptstadt durchgeführt worden war, während sich die politischen Stimmungen in Jerewan und in den Provinzen radikal unterschieden können.
„Beispielsweise befindet sich der Hauptteil der Wähler eben jener Partei „Blühendes Armenien“ in der Heimatprovinz ihres Vorsitzenden Gagik Tsarukian – in der Provinz Kotajk. Daher ist der Prozentsatz der Wählerstimmen dieser Partei real weitaus größer. Und sie wird wie auch heute mit großer Wahrscheinlichkeit die zweite politische Kraft im Parlament bleiben“, meint Gumaschian. „In einem bestimmten Maße kann man dies auch über die Partei „Leuchtendes Armenien“ sagen, die Unterstützung in der Heimat ihres Führers Edmon Marukian in der drittgrößten Stadt des Landes – in Wanadsor – hat“.
Dennoch erlaubt die Umfrage, einige Schlussfolgerungen über die mögliche Situation während und nach den vorgezogenen Parlamentswahlen im Land zu ziehen. Gumaschian sieht die Entwicklung der Ereignisse als eine solche: „Die Opposition begreift, dass es ihr nicht gelingen wird, auf einem legalen Wege diese Wahlen zu gewinnen und den „Verlierer und Verräter“ Paschinian abzusetzen, und hat zwei Wege für eine Fortsetzung des Kampfes: den gegenwärtigen, ergebnislosen Weg des Kampfes auf der Straße und einen zweiten – einen aktiveren, der beispielsweise zahlreiche Beschwerden zu Fragen der Wahlergebnisse an Gerichte vorsieht. Bis dahin aber geht es darum, in der Wahlkampfzeit und am Wahltag auf eine maximal mögliche Art und Weise die Situation im Land zu destabilisieren. Unter Berücksichtigung dessen, dass es in der Führung der Organe der örtlichen Selbstverwaltung nicht wenige Anhänger der Opposition gibt, die ebenfalls offen mit der Forderung nach einem Rücktritt des Premierministers aufgetreten waren, scheint es keine unmögliche Aufgabe zu sein, die Situation in den lokalen Wahllokalen zu destabilisieren. Die angedeuteten Gerichtsprozesse können durchaus die Bildung des neuen Parlaments und folglich auch der Regierung in die Länge ziehen und nur den gegenwärtigen metastabilen Zustand im Land verschlimmern, indem sie ihn zu einer wahren und vollkommenen Krise führen, was wiederum die Anzahl der über die gegenwärtigen Herrschenden Unzufriedenen zu einer kritischen erhöhen und zur Wiederholung des Szenarios vom April des Jahres 2018, aber bereits „in einer umgekehrten Weise“ führen kann.
Selbst wenn die Wahlen auf maximale Weise transparent und gerecht verlaufen, kann unter Berücksichtigung des derzeitigen Zustands des Rechtssystems eine derartige Taktik der Opposition Erfolg haben, nimmt der Experte an. Um zu verstehen, wie die Gerichte zu den gegenwärtigen Herrschenden stehen und was für Entscheidungen sie fällen können, sei es nach Aussagen des Experten ausreichend, sich des Falls mit der Verprügelung des zweiten Mannes in Armenien, des Parlamentschefs Ararat Mirsojan, zu erinnern. Die Beteiligten an diesem Zwischenfall waren durch die Polizei und Geheimdienste des Landes festgenommen worden. Sie wurden jedoch per Gerichtsbeschluss freigelassen, freilich mit einer Meldeverpflichtung.
Werden den derzeitigen Offiziellen die Kräfte und Entschlossenheit bei dem beschriebenen Kräfteverhältnis ausreichen, im Falle eines Sieges den Schlägen nach den Wahlen standzuhalten sowie das Parlament und die Regierung zu bilden? Oder wird das Land in eine neue Etappe, jetzt aber bereits einer realen Anarchie und eines realen Chaos geraten? Derzeit ist dies schwer zu sagen. Durchaus möglich ist die Situation, in der für die Herrschenden der einzige Ausweg die Notwendigkeit sein wird, erneut das Volk auf die Straßen zu bringen und eine zweite, jetzt schon aber keine „samtene“, sondern eher eine „seltsame“ Revolution durchzuführen, da dies eine Revolution sein wird, bei der die Offiziellen das Volk gegen die Opposition auf die Beine bringen werden. Wird Nikol Paschinian ein derartiger Salto gelingen? Unter Berücksichtigung dessen, dass laut der Umfrage der bereits erwähnten MPG gegen die 38,8 Prozent der Befragten, die der Auffassung sind, dass Paschinian Premierminister bleiben solle, 43,6 Prozent derjenigen stehen werden, die sich des Gegenteils sicher sind, wird heute wohl kaum irgendwer eine ernsthafte Antwort auf diese Frage geben können“. Derart ist der Standpunkt des Experten. Wie alles tatsächlich ablaufen wird und ob es Armenien gelingen wird, neue Erschütterungen zu umgehen, werden die Wahlprozesse zeigen.
Es bleibt wenig Zeit. Doch vorerst gibt es sie. Die Offiziellen wollen sie beispielsweise für eine Aktualisierung des Wahlkodexes nutzen. Die entscheidende Veränderung in ihm ist der Übergang vom Rating-Wahlsystem zu einem vollkommen proportionalen. Das heißt: Nach der Änderung werden die politischen Kräfte vor den Wählern nur in Gestalt von Parteien und Blöcken erscheinen. Der Bürger wird eine politische Kraft und nicht seinen Nachbarn, der kandidiert, oder eine bekannte Person in seinem Stadtbezirk wählen.