Wenn Russland die Pläne zum Ausbau des Nördlichen Seewegs zu einem Preis von rund 500 Milliarden Rubel realisieren kann, wird diese Route maximal zwei Prozent des derzeitigen Umfangs der Container-Transporte durch den Suez-Kanal anziehen können. Solche Prognosen tauchten nach der zeitweiligen Unterbrechung des Betriebs des Suez-Kanals aufgrund der Blockierung durch das japanische Containerschiff „Ever Given“ auf.
Die Schifffahrt durch den Suez-Kanal, die für mehrere Tage aufgrund dessen unterbrochen wurde, dass der Frachter „Ever Given“ auf Grund aufgelaufen war, kehrt zum Normalbetrieb zurück. Dies erklärte am Dienstag Ägyptens Präsident Abdel Fattah as-Sisi. Die Geschichte mit der Blockierung des Suez-Kanals weckte erneut das Interesse an alternativen Routen für den Transport von Frachtgut aus China nach Europa.
Während die ägyptischen Behörden Anstrengungen zur Auflösung des Rückstaus an der überaus wichtigen Transportader, auf die rund zwölf Prozent des Frachtgutverkehrs in der Welt entfallen, unternehmen und der Eigner des Containerfrachters, die japanische Reederei Shoei Kisen, die Ursachen für das Geschehene untersucht, hatten und haben die auf die Durchfahrt wartenden 370 Schiffe Zeit, sich über eine Alternative Gedanken zu machen. Schließlich ist der Weg nach Europa um Afrika herum fast um 7.000 Kilometer länger.
Der Zwischenfall im Suezkanal müsse als eine Lehre dienen, und dies im weltweiten Maßstab, schrieb die spanische Zeitung „Periódico de Catalunya“. In Russland schlägt man traditionell als Alternative die Weiten der Karasee, des Ostsibirischen und des Tschukotka-Meeres und die Laptjewsee, über die der Nördliche Seeweg mit einer Länge von 5.600 Kilometern verläuft, oder Bahnrouten – über die Transsib bzw. BAM – vor. Dass die Blockierung des Suez-Kanals die Welt veranlassen werde, sich über die Entwicklung alternativer Varianten für strategische Routen und Lieferungen und in erster Linie über eine Nutzung des Nördlichen Seeweges Gedanken zu machen, erklärte dieser Tage Nikolaj Kortschunow, der Sonderbotschafter des russischen Außenministeriums für internationale Zusammenarbeit in der Arktis. „Die Attraktivität des Nördlichen Seeweges wird sowohl in kurzfristiger als auch in langfristiger Perspektive zunehmen. Es gibt keine Alternative zu diesem“, unterstrich der Diplomat.
Der Zwischenfall mit dem Containerfrachter demonstrierte der Welt die Notwendigkeit einer Aufteilung der Kanäle für den Transport von Frachtgut zwecks Gewährleistung der ökonomischen Sicherheit, sagte der stellvertretende Leiter des Zentralen Forschungs- sowie Projektierungs- und Konstruktionsinstituts für die Seeflotte, Alexander Bujanow, gegenüber der „NG“. Er erläuterte, dass gerade die Containerfrachtgüter den Grundstock des Transits aus der Volksrepublik China zu den europäischen Häfen ausmachen würden. Laut Angaben von DHL Global Forwarding belief sich im Jahr 2020 der Umfang der Container-Transporte auf der Route Asien – Europa 12,9 Millionen TEU (Twenty-foot Equivalent Unit, deutsch: Zwanzig-Fuß-Standardcontainer – „NG“) und in der Gegenrichtung 7,1 Millionen. Die Zunahme machte im Vergleich zum Jahr 2019 3,7 bzw. 2,6 Prozent aus“, sagte der Experte.
„Vorerst bleibt der Nördliche Seeweg für die Frachtgutinhaber und Betreiber von Flotten eine schwierige und nichtvoraussagbare Route. Hier müssen gerade die russischen Unternehmen, wie mir scheint, die Initiative ergreifen und der ganzen Welt die Zweckmäßigkeit der Nutzung des Nördlichen Seeweges für Transittransporte das ganze Jahr über zeigen. Dies wird nicht in den nächsten zwei, drei Jahren passieren. Doch in fünf, sechs Jahren kann ein Volumen des Frachtgutes von rund einer Millionen TEU auf den Nördlichen Seeweg umgelenkt werden“, vermutet der Experte.
Es ergibt sich, dass in fünf, sechs Jahren die Anzahl der beförderten Container ganze zwei Prozent jener Menge an TEU ausmachen wird, die schon jetzt alljährlich den Suez-Kanal passieren. Wie man der „NG“ im Ministerium für Wirtschaftsentwicklung mitteilte, werde bis zum Jahr 2025 ein Wachstum der Menge an Transit-Containerfrachtgut über den Nördlichen Seeweg bis auf drei Millionen Tonnen dank der Entwicklung der Hafen-Infrastruktur, der Eisbrecher-Flotte, aber auch der Schaffung eines digitalen Öko-Umfeldes an der Trasse prognostiziert. Zuvor war mitgeteilt worden, dass die Entwicklung des Nördlichen Seeweges in den Komplexen Plan für die Modernisierung und Erweiterung der magistralen Infrastruktur für den Zeitraum bis zum Jahr 2024 aufgenommen wurde und für ihn eine Finanzierung im Umfang von 587 Milliarden Rubel geplant worden ist.
Nach Aussagen Bujanows müsse man bei einer Nutzung der Transsib die Container in den russischen Seehäfen des Fernen Ostens umladen. Die Russische Föderation habe aber bisher keine bedeutenden Hafenkapazitäten für solche Frachtgüter. Der Nördliche Seewege habe seine eigenen Einschränkungen. Ein erheblicher Teil von ihm ist sehr lange durch Eis bedeckt. „Eine Schifffahrt durch sogenanntes sauberes Wasser ohne eine Unterstützung durch Eisbrecher ist nur wenige Monate im Jahr möglich. Ungeachtet dessen machte im Jahr 2020 das Volumen der Transitfrachtgüter auf den Trassen des Nördlichen Seeweges rund 1,3 Millionen Tonnen aus (700.000 Tonnen im Jahr 2019), obgleich dies bisher keine Containerfrachtgüter sind“, sagt der Experte. Seinen Worten zufolge sei bei Vorhandensein einer modernen Eisbrecher- und Transportflotte die Organisierung einer alternativen Route für die Beförderung von Containerfrachtgütern in der Richtung Asien – Europa möglich. „Investoren kann der Umstand anziehen, dass der Nördliche Seeweg in der Sommerperiode die Beförderungsdauer von Frachtgut um zehn bis zwölf Tagen zu verringern erlaubt, und im Winter – von der Zeit her mit dem Südlichen Seeweg vergleichbare Bedingungen zu gewährleisten“.
Russland baut aktiv eine Atomeisbrecher-Flotte, realisiert Forschungsarbeiten zwecks Projektierung und Bau von in der Arktis einsetzbaren Containerfrachtschiffen. Ende Februar dieses Jahres erreichte der erste russische Arktika-M-Satellit für eine Beobachtung des Klimas und der Umwelt in dieser Zone die berechnete Erdumlaufbahn, fährt Bujanow fort.
Der Zwischenfall mit dem auf Grund aufgelaufenen Containerschiff wird der Bahn zusätzliche Frachtgutmengen bescheren, meint Boris Lapidus, Vorsitzendender des Vereinigten wissenschaftlichen Rates der Russischen Eisenbahn. Nach Aussagen des Experten sind die Tarife für Seetransporte im letzten Jahr um das 3- bis 4fache gestiegen und wurden mit dem Transport per Bahn vergleichbar. Und dies erfolgte noch vor der Blockierung des Suez-Kanals. „Die Wirtschaft zeigt, dass die Bahnbeförderung für die Frachtgüter effektiv und wettbewerbsfähig ist, die gegenüber den Beförderungszeiträumen empfindlich sind. Dies sind vor allem Elektronik, Bauteile für die Autoindustrie und Konsumgüter“, sagte er.
Die schnelle Erholung Chinas nach der Pandemie hat zusammen mit dem Mangel an Containern und der Verlängerung der Beförderungsdauer auf dem Seeweg den Bahntransport von Frachtgut nach Europa via Asien und Russland für das Reich der Mitte attraktiver gemacht, schrieb die Londoner „Financial Times“. In den ersten zwei Monaten dieses Jahres sind 2.000 Güterzüge von China aus nach Europa auf den Weg gebracht worden, zweimal mehr als im analogen Zeitraum des Vorjahres. Laut Angaben des Blattes klagten die Kunden der chinesischen Unternehmen in Europa, Deutschland und Frankreich über die geringe Effektivität der Transporte auf dem Seeweg und räumten die Möglichkeit ein, die Variante für den Versand der Frachtgüter zu ändern.
„Die Container-Transporte im Netz der Russischen Eisenbahn nehmen im Verlauf der letzten Jahre aktiv zu“, sagte gegenüber der „NG“ der Leiter der Abteilung für die Untersuchung von Frachtguttransporten des Instituts für Probleme natürlicher Monopole, Alexander Slobodjanik. „Im Jahr 2020 sind sie um 16 Prozent angestiegen. Und die Transit-Transporte haben 37,6 Prozent im Vergleich zum Jahr 2019 zugelegt. Im Jahr 2021 hielt die positive Dynamik an. Entsprechend den Ergebnissen der ersten beiden Monate sind die Transit-Transporte um das 1,8fache angestiegen“.
„Russland ist einer der Hauptnutznießer der Diversifizierung der chinesischen Lieferrouten nach Europa. Doch in den nächsten 20 Jahren wird der Nördliche Seeweg zu keinem realen Konkurrenten des Suez-Kanals“, sagte gegenüber der „NG“ Vitalij Mankjewitsch, Präsident des Russisch-Asiatischen Industriellen- und Unternehmerverbands. „Der Nördliche Seeweg wird für den Export von Erdöl, Gas, Metallen und Kohle nach Europa und Asien genutzt. Im Jahr 2020 wurden 32 Millionen Tonnen Frachtgut über ihn befördert, im Transit – rund eine Million Tonnen. Laut Plänen kann der Frachtgutverkehr bis zum Jahr 2024 85 und bis zum Jahr 2030 115 Millionen Tonnen ausmachen. Der Frachtgutverkehr des Suezkanals beläuft sich aber auf zwei Milliarden Tonnen im Jahr“. Es gibt ein Potenzial für den Transit. Und wie wir es nutzen werden, wird von unseren Investitionen für die Entwicklung der Infrastruktur abhängen, meint der Experte. „Die geplante Modernisierung der BAM wird erlauben werden, den Kohleexport zu steigern, und kann zu einer Zunahme des Transits von Waren aus China nach Europa auf dem Rückweg führen. Doch an einer Reihe von Stellen ist die Transsibirische Magistrale eine recht schmale. Dies muss man ebenfalls im Blick haben“, sagt Mankjewitsch. Außerdem „werden nicht nur wir um den chinesischen Transit kämpfen, sondern auch die Länder Mittelasiens, die Türkei und halt auch Ägypten, das bereits einen zweiten Strang des Suez-Kanals baut“, wie der Experte hin.
Die potenzielle Zunahme der internationalen Transit-Transporte über das Territorium der Russischen Föderation wird durch die Möglichkeiten der Infrastruktur beschränkt, betont Pawel Iwankin, Vorsitzender des Expertenrates des Instituts für die Untersuchung von Problemen des Bahntransports. „Hinsichtlich der Bahn gibt es bisher eine Reserve der Infrastruktur, sie ist aber aufgrund der zunehmenden Transportmengen an Steinkohle eingeschränkt. Der Nördliche Seeweg ist bisher ein Projekt und keine reguläre befahrene Route. Und in der nächsten Zeit wird er mehr als zwei bis vier Passagen im Jahr nicht anbieten können“, meint der Experte.
Das internationale Consulting-Unternehmen PwC betonte, dass zu wichtigen Schritten zum Ausbau des Nördlichen Seeweges seit dessen Eröffnung für die internationale Schifffahrt1991 die gesetzgeberische Verankerung der Grenzen des Nördlichen Seeweges und die Bildung des Staatsunternehmens „Verwaltung des NSW“ wurden. Zu einem wirtschaftlichen Impuls für die Entwicklung der Trasse wurde die Inbetriebnahme von Objekten des Projekts „Jamal LNG“ Ende 2017, wodurch der Umfang der Frachtbeförderung über diese Trasse im ersten Arbeitsjahr um das 2fach anstieg.