Es ist kein Geheimnis, dass der Abschluss des Baus der Gaspipeline „Nord Stream 2“ und – das Wichtigste – ihre Inbetriebnahme in Vielem mit der weiteren Nutzung des ukrainischen Gastransportsystems durch den russischen Konzern „Gazprom“ in einem Zusammenhang stehen. Auf jeden Fall demonstrieren solch eine Herangehensweise vor allem die europäischen Partner von „Gazprom“.
Gerade das ukrainische Gastransportsystem stand auch im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit des in der zweiten Märzhälfte stattgefundenen deutsch-ukrainischen Wirtschaftsforums in Berlin, das teilweise auch online durchgeführt wurde. Hinsichtlich der Ergebnisse des Forums signalisierte die führende deutsche Wirtschaftszeitung „Handelsblatt“ die Absicht von Bundeskanzlerin Angela Merkel, die deutschen Investitionen in der Ukraine zu erhöhen. Eine zentrale Rolle würden dabei – so das Düsseldorfer Blatt – der Wasserstoff und die russische Gaspipeline spielen. Die Zeitung warf gleichfalls die Frage auf: Warum ist gerade jetzt die Ukraine am Horizont aufgetaucht? Eine dritte Coronavirus-Welle kommt auf, die Beziehungen mit Russland verschlechtern sich rasant, und Kanzlerin Angela Merkel plante, an diesem Freitag bei einem Wirtschaftsforum in Berlin aufzutreten und sich an die deutsche Wirtschaft mit dem Appell zu wenden, aktiver in der Ukraine zu investieren.
Wie die Zeitung meint, ist der erste Faktor in der Entscheidung von A. Merkel das, dass ein wirtschaftlicher Erfolg der Ukraine aus der Sicht deren Auseinandersetzung mit Russland äußerst wichtig ist. Zweitens verfügt die Ukraine über das Potenzial für die Lösung der Aufgaben im Rahmen der Realisierung des „Green Deals“ der EU. Und drittens hängt das wirtschaftliche Schicksal der Ukraine eng mit der Verwirklichung des Projekts „Nord Stream 2“ zusammen.
Worum ging es aber bei dem Forum? Wie in einer Mitteilung des Ost-Ausschusses der Deutschen Wirtschaft, der an den Gesprächen teilgenommen hatte, betont wird, habe der bei dem Forum der Leiter der ukrainischen Delegation, Premier Denis Schmygal, Interesse an der Entwicklung einer Energiepartnerschaft mit Berlin bekundet. Natürlich, das Themenspektrum der Gespräche war weitaus breiter. Doch im Interesse unserer Leser beschränken wir uns vor allem auf die Energie-Aspekte. Insgesamt hat das diesjährige 4. Deutsch-Ukrainische Wirtschaftsforum neben der Energie-Zusammenarbeit solche Themen wie die Digitalisierung, Landwirtschaftsthemen, die Transportmöglichkeiten des Landes und die geplanten Reformen, besonders auf dem Gebiet der Bodennutzung tangiert.
Die deutschen Unternehmen sind unter anderem an einer Erweiterung der Möglichkeiten bei der Nutzung der ukrainischen Häfen interessiert. So zitiert das „Handelsblatt“ Philip Sweens, den Sprecher des Ukraine-Arbeitskreises des Ost-Ausschusses der Deutschen Wirtschaft. Sweens ist Geschäftsführer von HHLA International. Seit 20 Jahren betreibt die Tochter der Hamburger Hafen und Logistik AG ein Containerterminal im Hafen von Odessa und habe dort „massive Steigerungen mit mehr als zehn Prozent jährlich erreicht in den letzten Jahren, von denen man in Hamburg nur träumen kann“.
Der ukrainische Regierungschef interessierte sich gleichfalls für Möglichkeiten einer Zusammenarbeit auf den Gebieten Flugzeugbau und Raumfahrt. Zum Thema der Digitalisierung wurde zwischen Deutschland und der Ukraine ein entsprechendes Referendum über die Unterstützung von Digitalisierungsvorhaben. Der Ost-Ausschuss bewertet solch eine Unterzeichnung als den Start einer strategischen Kooperation. In der Ukraine gibt es viele IT-Unternehmen, die für internationale Konzerne arbeiten und ihnen IT-Lösungen anbieten. Es geht also um eine Integrierung der Möglichkeiten der ukrainischen IT-Firmen in die Lösung der Aufgaben, die vor den deutschen Unternehmen auf dem Gebiet der Digitalisierung stehen.
Die Ukraine habe die Krise „erstaunlich gut“ überwunden, sagt Alexander Markus, Vorstandsvorsitzender der Deutsch-Ukrainischen Industrie- und Handelskammer in Kiew. Das Consulting-Unternehmen aus der ukrainischen Hauptstadt German Economic Team berichtete über einen Rückgang des BIP im vergangenen Jahr um 4,6 Prozent, rechnet aber im Jahr 2021 erneut mit einem Wachstum von 4,3 Prozent.
Energie-Zusammenarbeit
Bekanntlich wurden bereits im Sommer letzten Jahres Dokumente über eine Entwicklung der Energiezusammenarbeit unterzeichnet. Kiew beabsichtigt, die Erfahrungen Deutschlands zu nutzen, insbesondere für einer Verringerung des Einsatzes von Kohle in seiner Wirtschaft. Bis zum Jahr 2050 plant die Ukraine, auf Kohle zu verzichten. Derzeit macht im ukrainischen Stromversorgungssystem die Atomenergie über 51 Prozent aus, die Kohle – 35 Prozent, Wasserstoff – etwa fünf Prozent, Wind- und Solarenergie – rund sieben Prozent. Der Generaldirektor des größten ukrainischen Energieunternehmens DTEK, Maxim Timtschenko, sieht in der Ukraine ein „gewaltiges Potenzial“. Nur allein die Stromerzeugung dank Windenergie könne von den gegenwärtig 1,1 Prozent bis auf 60 Gigawatt ansteigen, die dank der Solarenergie – von 5,4 Prozent bis auf 116 Megawatt. Um die Relevanz der Aussagen Timtschenkos zu verstehen, macht es Sinn, Angaben über DTEK anzuführen.
Die Unternehmen dieses Konglomerats fördert Kohle und Erdgas, erzeugt Elektroenergie in Solar-, Wind- und Wärmekraftwerken, vertreibt und liefert Elektroenergie an Verbraucher, realisiert einen Großhandel mit Energieressourcen auf dem ukrainischen und auf ausländischen Märkten, gewährt Kunden Produkte und Leistungen für eine rationelle Nutzung von Energieressourcen und entwickelt ein Netz von Schnell-Ladestationen für Elektrofahrzeuge. Gerade DTEK vertritt seit dem Jahr 2007 die Ukraine im Globalen Klimavertrag der UNO.
Während der Diskussion zum Thema „Green Deal“ der EU erklärte der ukrainische Infrastrukturminister Wladislaw Kriklij, dass bis zum Jahr 2035 mindestens 70 Prozent der im Land genutzten PKW gerade Elektroautos sein werden.
Der Faktor Wasserstoff
Die Ukraine beabsichtigt, der EU zu helfen, das ambitionierte Ziel – bis zum Jahr 2050 einen neutralen Klimastatus zu erhalten – zu realisieren.
Das „Handelsblatt“ betont, dass das flächenmäßig größte Land Europas (Russland wird nach Meinung der deutschen Journalisten nicht als ein europäisches Land angesehen) eine Schlüsselrolle beim „Green Deal“ der EU spielen und in der mittelfristigen Perspektive 7,5 Gigawatt „grünen“ Wasserstoffs in die EU liefern solle. Das sei fast ein Fünftel dessen, was in der gesamten EU selbst bis 2030 an Wasserstoff produziert werden soll (40 Gigawatt).
„Wenn es gelingt, wird das der Gamechanger in den Beziehungen der EU und Deutschlands zur Ukraine“, sagt der Chef der deutsch-ukrainischen Handelskammer in Kiew, Alexander Markus. Dafür würden aber gewaltige Investitionen nötig, um die bisherige Gastransitpipeline aus Russland für den Wasserstofftransport umzurüsten. Außerdem böten sich die riesigen Gasspeicher in der Ukraine für die Lagerung von Wasserstoff für Europa an.
Wir haben bereits betont, dass das Wirtschaftsschicksal der Ukraine entsprechend der Version des „Handelsblattes“ eng mit der unterschiedlich aufgefassten russischen Gaspipeline „Nord Stream 2“ verbunden ist. Dabei geht es vor allem um die finanziellen Verluste des ukrainischen Etats in einer Höhe von mehreren Milliarden Euro im Jahr. Solche Berechnungen führte unter anderem der ukrainische Premier Schmygal an. Doch selbst unter Berücksichtigung dessen besteht Berlin dennoch (augenscheinlich auch unter dem Druck seiner Wirtschaftskreise) auf einer Fertigstellung dieser Gasleitung. Um aber die Gaspipeline ohne Verhängung zusätzlicher Sanktionen der USA fertigzubauen, schlage die deutsche Regierung nach Einschätzung der Journalisten des „Handelsblattes“ der neuen Administration von Joseph Biden eine aktivere Unterstützung für die Ukraine vor. Darüber werde in Regierungskreisen in Berlin gesprochen, behauptet die Zeitung. Daher werde das ukrainische Gastransportsystem in der Perspektive auf Wasserstoff-Lieferungen umgestellt. Darin besteht zum heutigen Tage für Merkel der wichtigste ökonomische Sinn dessen Bewahrung. Obgleich gegenwärtig die Kanzlerin aktiv die Lexik von einer Notwendigkeit der Diversifizierung der Gaslieferungen und von der geopolitischen Bedeutung der Ukraine für den Westen verwendet. All dies entspricht der Wirklichkeit, wenn man sie von den Positionen der geopolitischen Konfrontation Russlands und des Westens aus betrachtet.
Im Verlauf der Diskussion zu Problemen der Energiewirtschaft signalisierte der amtierende ukrainische Energieminister Jurij Wetrenko die Bereitschaft seines Landes, Europa zu helfen, die grüne Umgestaltung bzw. Transformation zu realisieren.
Daher wird die Wasserstoff-Zusammenarbeit in der Entwicklung der Beziehungen beider Länder wichtiger. Jetzt erlangt sie konkrete Umrisse. Wie das „Handelsblatt“ schreibt, solle die Ukraine der EU helfen, das ambitionierte Ziel umzusetzen – bis zum Jahr 2050 einen neutralen Klimastatus zu erlangen.
Ein erstes Wasserstoff-Pilotprojekt sollte bereits am Rande des Wirtschaftsforums vereinbart werden. Dabei geht es um einen 25 Millionen Euro teuren Elektrolyseur, der mit einer Kapazität von 8,5 Megawatt Wasser in Wasser- und Sauerstoff aufspaltet. Beteiligt sind neben den beiden Regierungen Siemens Energy sowie der größte ukrainische Energiekonzern DTEK. Das erfuhr das Handelsblatt aus Regierungskreisen. Offiziell ist dies bisher nicht bestätigt worden.
Die Anlage soll am Stahlwerk in Mariupol am Asowschen Meer entstehen, wo der Wasserstoff zur emissionsreduzierten Stahlproduktion eingesetzt werden soll. Das Metinvest-Stahlwerk gehört wie DTEK zur SCM Holding des bekannten ukrainischen Oligarchen Rinat Achmetow.
Ohne politische Unterstützung und Subventionen könnten jedoch große Wasserstoffprojekte nicht starten, zitiert das „Handelsblatt“ den CEO von DTEK, Maxim Timtschenko. Zu dieser Unterstützung zählt er den (erhofften) Anschluss des ukrainischen Stromnetzes an das von Europa bis 2023: „Das gibt einen großen Schub. Sowohl für die Integration unseres Landes in die EU wie auch für den massiven Ausbau erneuerbarer Energien in der Ukraine“, meint er.
Die britische Nachrichtenagentur REUTERS betont, indem sie die Bedeutung der Ukraine für das russisch-deutsche (oder richtiger gesagt: russisch-europäische) Gasprojekt begründet, dass ein möglicher Kompromiss mit den Vereinigten Staaten in der Frage um „Nord Stream 2“ insbesondere mit einer Unterstützung der Ukraine durch Deutschland bei der Erzeugung von Wasserstoff auf deren Territorium und dessen Transport in die EU zusammenhänge. Somit werde, wie die Agentur schreibt, die Ukraine ein Akteur auf dem europäischen Gasmarkt bleiben.
Andererseits wird die EU dennoch erhebliche Mengen an Wasserstoff in der Zukunft importieren müssen. Und obwohl es einfacher ist, die Erzeugung von Wasserstoff in Australien oder Chile zu organisieren, werden die Transportprobleme seine Einfuhr aber zu einer unrentablen machen. In dieser Hinsicht liegt die Ukraine Europa geografisch nahe und verfügt über ein Gaspipelinenetz.