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Selenskij erinnert man an die Stadion-Versprechen


In der Ukraine beging man den zweiten Jahrestag der „elektoralen Revolution“. Am 21. April 2019 hatte entsprechend den Ergebnissen des zweiten Urnengangs bei den Präsidentschaftswahlen ein Kandidat ohne Erfahrungen einer politischen Tätigkeit einen triumphalen Sieg errungen. Wladimir Selenskij hatten 73 Prozent der Wähler unterstützt. Jetzt wollen 52 Prozent der Ukrainer nicht, dass er für die nächsten Präsidentenamtszeit kandidiert.

Ungeachtet der Enttäuschung bleibt die Haltung der Wähler Selenskij gegenüber hauptsächlich eine wohlwollende. Wie die Ergebnisse einer Umfrage belegen, die vom Zentrum für soziale und Marktforschungen „Sozis“ durchgeführt wurde, verhalten sich 54,2 Prozent ihm neutral gegenüber, 12 Prozent – positiv, weitere 30,4 Prozent – negativ. Aber nur 26,2 Prozent unterstützen die Idee einer zweiten Präsidentenamtszeit Selenskijs. Die Erklärung besteht darin, dass 57,1 Prozent das derzeitige Team an der Macht für ein unprofessionelles halten, 16,3 Prozent – für ein populistisches und nur 12,1 Prozent – für ein kompetentes.

Die einflussreiche gesellschaftliche Organisation „Komitee der Wähler der Ukraine“ analysierte die Wahlkampfversprechen des Präsidenten, die im Verlauf der Debatten mit Petro Poroschenko im Kiewer Zentralstadion verkündet worden waren, und die Ergebnisse des Wirkens im Verlauf der zwei Jahre ab dem Zeitpunkt des Selenskij-Sieges. „Zum heutigen Zeitpunkt ist es Wladimir Selenskij nicht gelungen, die Schlüsselversprechen hinsichtlich einer Beendigung des Krieges und der Anhebung des Wohlstandes zu erfüllen. Zur gleichen Zeit haben die kosmetischen Entscheidungen über die Vornahme von Reformen nicht das nötige Ergebnis gebracht. Selenskij hat nicht jene revolutionären Schritte zur Auswechselung des politischen Systems unternommen, die er als Kandidat für das Präsidentenamt zugesagt hatte“, betonte der Leiter des „Komitees der Wähler der Ukraine“, Alexej Koschel. Er ist der Auffassung, dass das alte System der gesellschaftspolitischen Beziehungen in der Ukraine erhalten geblieben sei.

Über dieses Hauptproblem hatte bereits Ende vergangenen Jahres die US-amerikanische Agentur Bloomberg geschrieben, die Wladimir Selenskij mit Viktor Justschenko verglichen hatte. Der sechste Präsident der Ukraine hat wie auch der dritte mit großen Versprechungen begonnen, die von der Mehrheit der Wähler unterstützt worden waren. Doch in der tagtäglichen Arbeit ist alles in Stücke zerfallen. „Strukturell bleibt das Land fast genau solch eines. Gelenkt wird es von den Oligarchen. Und das Parlament und das Gerichtssystem sind von Korruption und einem äußeren Einfluss durchsetzt“, zitierte die Agentur Worte von Mark McNamee, des Leiters der Europa-Sparte der US-amerikanischen Consulting-Firma DuckerFrontier.

Eine Umfrage, die Ende März durch die soziologische Gruppe „Rating“ vorgenommen wurde, zeigte, welche Probleme die Ukrainer am meisten beunruhigen. An erster Stelle ist der militärische Konflikt im Donbass (47 Prozent), weiter folgen die Arbeitslosigkeit, das Fehlen von Arbeit und eines Verdienstes (37 Prozent), die Coronavirus-Epidemie (35 Prozent), die geringen Einkommen und Renten (27 Prozent), die Bestechlichkeit und Korruption in den Machtorganen (21 Prozent) und die Inkompetenz der Herrschenden (19 Prozent). Außerdem wurden solche Probleme wie die hohen Tarife für die Leistungen der kommunalen Wohnungswirtschaft, die schlechte medizinische Betreuung, die von der Qualität schlechte Ausbildung, die Zunahme der Kriminalität, die ungünstigen Bedingungen für das Kleinunternehmertum, die soziale Differenzierung und die zunehmende Kluft zwischen Reichen und Armen.

Die Experten des „Komitees der Wähler der Ukraine“ lenkten das Augenmerk darauf, dass all diese Probleme in der einen oder anderen Form im April 2019 im Verlauf der Debatten von Selenskij und Poroschenko angesprochen worden waren. Wobei damals der Kandidat ohne politische Erfahrungen einen offensiven Ton im Dialog mit dem erfahrenen Politiker und starken Kontrahenten angeschlagen hatte. Selenskij hatte Poroschenko unbequeme Fragen gestellt. „Was die medizinische Reform angeht, sagen Sie mir bitte: Wenn es keine qualitätsgerechten Medikamente gibt, wenn es keine erschwinglichen Preise für Medikamente gibt, wenn es keine normalen Bedingungen in den Krankenhäusern gibt, wenn die Ärzte keine normalen Gehälter haben – was ist dies für eine … (ein unflätiges Wort) Reform?“, „Hinsichtlich der Fragen, habe ich nichts zu sagen, da es keine Straßen gibt…“, „Wie ist es dazu gekommen, dass die Ukraine beinahe zum ärmsten Land beim reichsten Präsidenten geworden ist?…“, „Hinsichtlich des Krieges: Wir unternehmen alles, damit er aufhört… Und was den Obersten Befehlshaber angeht, Herr Poroschenko, jetzt haben wir einen Krieg. Und Sie stellen mir solche Fragen, auf die Sie selbst antworten müssen. Warum ist der Krieg nach wie vor nicht beendet worden?“.

Die Experten des „Komitees der Wähler der Ukraine“ sind zu dem Fazit gekommen, dass es Selenskij innerhalb von zwei Jahren gelungen ist, im Bereich des Straßenbaus voranzukommen und einzelne politische Fragen zu lösen. Die Werchowna Rada (das Landesparlament – „NG“) hat die über Jahre diskutierten Gesetze über das Prozedere eines Impeachments des Präsidenten, über die Aufhebung der Abgeordnetenimmunität und über den Boden-Markt verabschiedet. Der Krieg und die Wirtschaftssituation bleiben die wichtigsten ungelösten Probleme neben den Problemen bei der versprochenen Überwindung der Oligarchen-Herrschaft. Derzeit sind laut Angaben der „Sozis“-Umfrage 46,9 Prozent der Ukrainer der Auffassung, dass der Präsident die Mehrheit seiner Wahlkampfversprechen nicht erfüllt habe. 34,2 Prozent – dass er lediglich einige Versprechen erfüllt habe. Und 10,9 Prozent – der Großteil des Versprochenen sei bereits umgesetzt worden.

Ein separates Problem bleibt der Krieg. Der politische Experte Gennadij Drusenko betonte in einer Kolumne für die Internetzeitung gazeta.ua: „Die Handlungen des Präsidenten und seines Teams sind nicht konsequent. Anfangs versuchte Selenskij, wie er auch versprochen hatte, „Putin in die Augen zu schauen“, sich mit ihm zu treffen. Russland hatte eine klar ausgeprägte Position, zu welchen Bedingungen sie bereit sind, uns den Donbass zurückzugeben. Sie ist leider in den Minsker Abkommen verankert worden. Die Position Selenskijs aber (inklusive der Ideen über einen Wechsel der Verhandlungsformate und der Vornahme von Korrekturen an den Minsker Abkommen – „NG“) hat sich geändert…“. Drusenko meint, dass der ukrainische Präsident in den zwei Jahren im Amt anerkannt habe, dass es unmöglich sei, die Minsker Abkommen in solch einer Reihenfolge – zuerst Wahlen im durch Kiew nichtkontrollierten Teil des Donbass abhalten und danach die Kontrolle über die Grenze mit der Russischen Föderation zu erhalten — zu erfüllen. „Dies kommt einem Tod gleich. Selenskij ist aus der Position eines Friedensstifters auf die Position des späten Poroschenkos gekommen. Poroschenko hatte zu jener Zeit aber die patriotische Öffentlichkeit um sich herum mobilisiert. Selenskij genießt jedoch keine besondere Unterstützung von dieser Seite. Für ihn ist es schwer, auf der rechten, der patriotischen Flanke zu spielen. Überdies hat er zwei Jahre für die Durchführung aktiver Reformen, unter anderem im Verteidigungsbereich, verloren…“, betont er.

Nicht weniger empfindliche für die Bevölkerung bleiben die Wirtschaftsprobleme, besonders vor dem Hintergrund der Quarantäne-Beschränkungen aufgrund der Coronavirus-Epidemie. Zuvor hatten das Kiewer Internationale Institut für Soziologie und „Sozis“ darauf hingewiesen, dass bei der Beurteilung der materiellen Lage ihrer Familie lediglich 2,7 Prozent der Bürger ein vollkommenes Auskommen angegeben hatte. 24,5 Prozent sagten, dass es ihnen für alles Notwendige ausreiche. Weitere 12,1 Prozent antworteten, dass das Geld ausreiche, um zu überleben.

Die Opposition versucht, diese Stimmungen auszunutzen. Petro Poroschenko tritt aktiv mit einer Kritik an den Handlungen des Selenskij-Teams in den Fragen der Konfliktregelung im Donbass und bei der Bekämpfung der Coronavirus-Epidemie auf. Die Parteien „Oppositionsplattform – Für das Leben“ und „Batkiwstschina“ legen den Akzent auf die undurchdachte Wirtschaftspolitik. Der Co-Vorsitzende der Partei „Oppositionsplattform – Für das Leben“ Jurij Boiko erklärte dieser Tage gegenüber Journalisten: „Wir sehen die Krise in der Wirtschaft, einen tiefen Einbruch in der Industrie und Landwirtschaft sowie einen Abfluss von Investitionen. Im Land herrscht eine große Arbeitslosigkeit, es erfolgt ein Stellenabbau. Und wir haben die schlimmste Situation auf dem Arbeitsmarkt in der gesamten Zeit der Unabhängigkeit. Spezialisten verlassen das Land. Millionen ukrainische Gastarbeiter stimmen im Ausland jeglichem Lohn zu. Die Menschen müssen irgendwie überleben. Wir sehen ernste Probleme bei der Auffüllung des Budgets und eine Zunahme der Staatsschulden, die bereits 60 Prozent des BIP überstiegen haben. Es steigen die Preise und Tarife. Und die miserablen Renten reichen selbst nach den Zuschlägen in Kopekenhöhe nicht bis an das reale Existenzminimum heran“. Er fügte hinzu, dass das medizinische System praktisch zerstört sei. Die Regierung würde aber Erfolge vermelden. Boiko erklärte, dass die Ukraine „einen Machtwechsel und eine komplette Revision der Staatspolitik und so schnell wie möglich“ brauchen würde.

Derartige Statements gibt auch die Chefin von „Baktkiwstschina“ Julia Timoschenko ab. Dieser Tage sagte sie bei einem Treffen mit Wählern, die gegen einen Verkauf landwirtschaftlicher Flächen sind: „Wir versuchen gegenwärtig, den Präsidenten und sein Team davon zu überzeugen, dass der von ihnen gewählte Kurs zur Aufgabe der nationalen Interessen (in den Bodenfragen – „NG) – eine Sackgasse sowohl für die Ukraine als auch für ihn persönlich ist, denn früher oder später muss dafür die Verantwortung übernommen werden. Jetzt muss man sich vereinigen, ein professionelles Regierungsteam zusammenholen, das weiß, wie man das Land auf die Beine stellen kann, und das unabhängig von äußeren Kräften und der einheimischen Oligarchie ist. Wenn wir sehen, dass es keine Chancen gibt, den Präsidenten zu überzeugen, werden wir uns an die Menschen hinsichtlich der Notwendigkeit, die Herrschenden neu zu wählen, wenden“.

Die von „Sozis“ vorgelegten Umfrageergebnisse zum zweiten Jahrestag des Selenskij-Sieges beim zweiten Urnengang haben gezeigt, dass der gegenwärtige Präsident auch heute gewinnen würde, aber nicht so leicht und triumphal. Unter jenen Wählern, die ganz bestimmt an der Abstimmung teilnehmen werden, würden heute 26,7 Prozent die Stimme für Wladimir Selenskij abgeben, 19,6 Prozent – für Petro Poroschenko, 10,1 Prozent – für Julia Timoschenko und 9,7 Prozent – für Jurij Boiko. Zur Stichwahl würden wie auch im Jahr 2019 Selenskij und Poroschenko gegeneinander antreten. Die Abstimmungsergebnisse würden aber anders ausfallen: 56,3 Prozent derjenigen, die sich endgültig festgelegt haben, sind bereit, Selenskij zu unterstützen. Poroschenko – 43,7 Prozent.