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Die demografische Grube im Wissenschaftsquerschnitt


Irgendwelche Sensationen, auf die man uns vorbereitet hatte, hat es in der Jahresbotschaft des Präsidenten der Russischen Föderation Wladimir Putin doch nicht gegeben. Eine durchaus zu erwartende Zusammenstellung durchaus adäquater Maßnahmen, die dazu berufen sind, die sozial-ökonomischen Probleme im Land zu lindern. Wie dies erreicht werden soll – dies ist bereits eine Aufgabe der Regierung. Soll sie sich doch Gedanken machen. Sicherlich ist dies sogar auch gut so.

Möglicherweise war die brisanteste Passage in der Jahresbotschaft des Präsidenten seine Beurteilung der demografischen Situation im Land. „Wir verstehen, dass die Situation im Bereich der Demografie heute eine außerordentliche ist.“ Nun, und dann natürlich das traditionelle Rezept „zur Heilbehandlung“ (ich zitiere laut der Nachrichtenagentur „Interfax“): „Unsere Strategie besteht darin, dass wir erneut ein stabiles Wachstum der Bevölkerungszahl erreichen, dass im Jahr 2030 die durchschnittliche Lebenserwartung in Russland 78 Jahre beträgt… Die Bewahrung des Volkes ist unsere höchste nationale Priorität… Durch diese Priorität werden alle Bestimmungen der erneuerten Verfassung bestimmt: über den Schutz der Familie, über die überaus wichtige Rolle der Eltern bei der Erziehung der Kinder, über die Verstärkung der sozialen Garantien, über die Entwicklung der Wirtschaft, des Bildungswesens und der Kultur“. Der Kreis hatte sich geschlossen.

In der Tat, laut Schätzungen des russischen Statistikamtes Rosstat hinsichtlich der Bevölkerungszahl im Jahr 2020 leben in Russland 146,24 Millionen Menschen. Dies sind um 510.000 weniger als im Jahr 2019. Das heißt, der Schwund machte über eine halbe Million Menschen aus. Dies beeindruckt an und für sich natürlich unangenehm.

Doch, als hätte er speziell die Jahresbotschaft des Präsidenten der Russischen Föderation abgepasst (tatsächlich aber nicht speziell dafür; Ereignisse haben einfach die Eigenschaft, eine Anziehungskraft zu demonstrieren), hatte der wissenschaftliche Hauptsekretär der Russischen Akademie der Wissenschaften, Akademiemitglied Nikolaj Dolguschkin, eine wahre Sensation am 20. April, bei der Eröffnung der Vollversammlung der Russischen Akademie der Wissenschaften, vorbereitet. Die Anzahl der Wissenschaftler und hochqualifizierten Fachleute, die Russland verlassen, hat sich seit dem Jahr 2012 um das 5fache erhöht, teilt er in seiner Wortmeldung mit. „Nicht die letzte Rolle bei der Verringerung der Anzahl der Forscher spielt der nicht abnehmende Exodus von Wissenschaftlern und hochqualifizierten Spezialisten ins Ausland. Die Zahl der alljährlich ins Ausland gehenden Spezialisten nimmt nicht ab und hat sich ab 2012 von 14.000 bis auf fast 70.000 Menschen zum gegenwärtigen Zeitpunkt erhöht“, betonte Dolguschkin.

Russland ist das einzige der entwickelten Länder, wo sich im Verlauf von mehreren Jahrzehnten in Folge die Anzahl der Wissenschaftler verringert. Laut Angaben von N. Dolguschkin hat sich ab 1990, als die Russische Föderation weltweit den ersten Platz hinsichtlich der Anzahl der Menschen, die im wissenschaftlichen Bereich tätig sind, belegte, die Anzahl der Forscher von 992.000 bis auf 348.000 verringert. „Das heißt um 65 Prozent. Zwei Drittel haben wir innerhalb von drei Dezennien verloren“, erläuterte der wissenschaftliche Hauptsekretär der Akademie.

Man könnte dies alles dem „akademischen Herumbrummen“ zuschreiben, das oft den Mitgliedern dieser wissenschaftlichen Organisation aufgrund des natürlichen altersbedingten Konservatismus eigen ist. Doch überraschend trat als Pendant zu dem Akademiemitglied bei der Vollversammlung der Russischen Akademie der Wissenschaften auch der durchaus positiv eingestellte Technokrat, der stellvertretende Vorsitzende der Regierung der Russischen Föderation, Dmitrij Tschernyschenko, auf. „Während im Jahr 2010 die zahlenmäßig größte Gruppe von Wissenschaftlern in Russland junge Menschen im Alter von bis zu 29 Jahren waren, so ist innerhalb von zehn Jahren deren Anzahl jetzt um 20 Prozent gefallen“, unterstrich er.

Das Puzzle war vollständig. Der Exodus von Wissenschaftlern ins Ausland und überhaupt aus der Wissenschaft in andere Branchen nimmt zu. Es verringert sich die Zahl der jungen Spezialisten in der Wissenschaft. Schließlich sind gerade die jungen Menschen hinsichtlich der akademischen Mobilität am aktivsten. Die Studenten und Doktoranden, die heute 20 bis 30 Jahre alt sind, werden nicht bis zum Jahr 2030 warten. Überdies gibt es schon jetzt in der Europäischen Union einen Mangel von 291.000 Spezialisten auf dem Gebiet der Informationssicherheit und fast eine halbe Million offener Stellen im Bereich der Big-Data-Analyse.

Das Problem der intellektuellen Migration wird hinsichtlich seiner Dimension zu einem mit den natürlichen demografischen Gruben vergleichbaren. Und nicht nur hinsichtlich der konkreten Zahlen. Die Quantität geht in eine Qualität über.

Beinahe zur gleichen Zeit, als der Präsident der Russischen Föderation seine Jahresbotschaft verlas, hat noch ein Staatsbeamter, Nikolaj Muraschow, der stellvertretende Leiter des Nationalen Koordinationszentrum für Computer-Zwischenfälle, das auf Befehl der Führung des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB gebildet worden war, beim „Infoforum in Jaroslawl“ erklärt: „Die Gefahr der Migration der qualifiziertesten Spezialisten ist eine ernste Herausforderung für die russischen Unternehmen und staatlichen Institutionen. Wie nie zuvor ist die Losung aktuell „Kader entscheiden alles““.

Ja, und da erinnerte man sich passend oder zumindest aufgrund des Datums an den Führer der Völker. Stalin hatte diese, seine berühmte Losung am 4. Mai 1935 formuliert. Allerdings hatte bis dahin, ab dem 4. Februar 1931, das Land, erleuchtet durch eine andere Offenbarung durch ihn – „Die Technik entscheidet alles!“ -, gelebt.

Wer heute in Russland die Situation mit dem Brain-Drain, dem Abfluss von Hirnen, lösen wird – die Menschen oder die Technik – ist unklar. Muraschow ist beispielsweise der Auffassung, dass „man selbst die Spezialisten züchten bzw. großziehen muss“, man müsse aktiv die Möglichkeiten einer programmatischen zielgerichteten Ausbildung in den besten Hochschulen, unterschiedliche Stipendienprogramme zwecks Unterstützung begabter und motivierter Kandidaten nutzen. Der Westen, Europa und die USA handeln natürlich primitiver, indem sie Spezialisten zu sich locken, wobei sie „aktiv finanzielle Hebel einsetzen“ (Muraschow).

Derweil muss betont werden, dass die Zunahme der Emigration hochqualifizierter Spezialisten um das 5fache gerade in der Zeit der so „siegreich“ und „effektiv“ durchgeführten Reform des akademischen Bereichs geschah. Aber schließlich hatte man damals, im Jahr 2013, gewarnt, wohin diese Reform führen kann. Aber heute logische Ketten zu bilden, scheint keinen zu interessieren. Einfacher ist es, „Absperrbarrieren“ zu schaffen. Zum Beispiel werden ab 1. Juni dieses Jahres die sogenannten „aufklärerischen“ Änderungen am Gesetz „Über das Bildungswesen“ in Kraft treten. In ihnen wird gerade der offenkundige Versuch unternommen, die internationalen Kontakte russischer Universitäten – von Professoren, Studenten und Doktoranden – unter eine strenge Kontrolle speziell von der Regierung bevollmächtigter Organe zu stellen.

Einer solcher Professoren, ein Doktor der Physik und Mathematik, formulierte in einem Gespräch mit mir äußerst klar die Konsequenzen solch eines „gesetzgeberischen Schöpfertums“: „Für mich ist es offensichtlich, dass diese eine weitere gesetzgeberische Initiative ist, die durch unseren Zwist mit dem Westen ausgelöst wurde. Und die wissenschaftlichen Mitarbeiter, die eine aktive internationale Arbeit leisten, erwarten Unannehmlichkeiten“.

  1. S. der Redaktion von „NG Deutschland“

Russland verliert nicht nur Wissenschaftler, sondern wird auch mit dem Problem der Überalterung und teilweise mangelhaften Unterbezahlung der hochqualifizierten Spezialisten konfrontiert. Vor dem Hintergrund des am 12. April pompös gefeierten 60. Jahrestages des ersten Fluges eines Menschen in den Kosmos, des Russen Jurij Gagarin (daher in Moskau überall nach wie vor die Plakate „Wir sind die ersten im All“), sind beinahe die folgenden bemerkenswerten Zahlen untergangen. In dem für die russische Raumfahrt zuständigen Staatskonzern „Roskosmos“ sind 18 Prozent der hochqualifizierten Mitarbeiter über 60 Jahre alt. Und der Durchschnittsverdienst lag dort mit Stand Ende 2020 bei 62.300 Rubel (umgerechnet etwa 688 Euro). Ein weiterer Kommentar erübrigt sich da wohl.

Ähnliches muss wohl auch der Pressesekretär des russischen Präsidenten Dmitrij Pskow gedacht haben, als er gebeten wurde, den massiven Exodus von Wissenschaftlern aus dem Land zu kommentieren. „Die Wissenschaftler, sie sind absolut freie Menschen und arbeiten an den Orten, wo die interessantesten Projekte realisiert und die komfortabelsten Bedingungen geschaffen werden. … Dies ist solch ein zweiseitiger Prozess. Er ist ein absolut normaler. Und es gibt nichts Tragisches in dieser Situation.“ Es entstand der Eindruck, dass er gern abgewunken hätte, wohl wissend darum, dass für die derzeit rund 400.000 Wissenschaftler im Land nicht gerade die idealsten Bedingungen für kreatives Arbeiten bestehen. Er musste jedoch eingestehen: „Dies ist ein hart umkämpftes Konkurrenzmilieu. Dieses Umfeld muss für die Wissenschaftler ein komfortables sein. Sie müssen ihr Wissen, ihr Talent und Potenzial realisieren… Der Staat muss solche Bedingungen schaffen, oder irgendwelche privaten Strukturen müssen solche Strukturen schaffen. Und Russland nimmt an diesem Konkurrenzkampf teil“. Aber wie – dies steht auf einem anderen Papier.