Das in Jekaterinburg erfolgte Turnier um die Anwärter auf die Schachkrone ist mit einem Sieg durch Jan Nepomnjastschij zu Ende gegangen. Der Triumph des russischen Großmeisters wurde zu nichts Überraschendem. Schließlich hatte er die zweite Runde dieses Wettkampfs als einer der Favoriten begonnen. Und nachdem der Franzose Maxime Vachier-Lagrave, zu diesem Zeitpunkt der Hauptkonkurrent Jans, eine Niederlage beim Treffen mit Fabiano Caruana einsteckte und Jan selbst Kirill Alexejenko bezwang, erreichte der Vorsprung von Nepomnjastschij gegenüber den nächsten Verfolgern einen ganzen Punkt. Mehr noch, für den Spitzenreiter begann zu diesem Zeitpunkt auch das Reglement des Turniers zu spielen, dem zufolge im Falle eines Teilens des ersten Platzes durch mehrere Großmeister derjenigen von ihnen zum Sieger erklärt wird, der die besten Werte in den unmittelbaren Spielen zwischen ihnen hat. Anders gesagt: Unser Großmeister konnte den ersten Platz mit Vachier-Lagrave, gegen den er vor mehr als einem Jahr beim Finish der ersten Runde verloren hatte, nicht teilen, während er mit dem rasant auf den zweiten Platz vorgerückten Niederländer Anish Giri – dank einem so weit zurückliegenden Sieg – das volle Recht hatte.
Im Grunde genommen hatte sich eine so verzwickte Verflechtung von sportlichen und Zahlen-Faktoren endgültig lediglich nach der 12. Runde ergeben, in der Vizeweltmeister Fabiano Caruana den für sich letzten Versuch unternahm, in den Kampf um den ersten Platz einzugreifen. Im direkten Aufeinandertreffen mit Giri mit den weißen Figuren agierend, handelte er jedoch übermäßig aufgesetzt, indem er zu einem gewissen Zeitpunkt begann, wie mitunter Schachspieler scherzen, nicht um den Sieg, sondern um eine Niederlage zu spielen…
In eben diesen Minuten vollzog sich auf dem benachbarten Tisch ein anderes, nicht weniger wichtiges Ereignis: Der chinesische Großmeister Wang Hao, der das Debüt der Partie mit Nepomnjastschij in einer betont zurückhaltenden Manier gespielt hatte, schloss für sich anfangs scheinbar selbst das geringste Risiko einer Niederlage aus, begann aber dann, in einer absolut gleichen Position einen verbindlichen Plan zu verfolgen, nach dem er durch Jan glattweg überrumpelt wurde. Er verlor einen Bauern und erkannt sich in einer objektiv aussichtslosen, aber streng genommen bei weitem nicht hoffnungslosen Position als bezwungener an. Allerdings ist solch einer Manier des Kämpfens in der Ausführung von Hao durch ihn auch am nächsten Tag in der Partie mit Caruana wiederholt worden, was letztlich den chinesischen Großmeister aus dem Mittelfeld der Turniertabelle auf den reinen letzten Platz brachte.
Es macht Sinn zu betonen, dass am Vorabend aus dem Kampf um den Turniersieg Maxime Vachier-Lagrave ausgeschieden war (im Übrigen bereits endgültig, wie es allen schien). Sein Duell mit Alexander Gristschuck wurde hinsichtlich der Dramatik des Kampfes und der Brillanz der ihn begleitenden taktischen Schläge und Gegenschläge zu einer der faszinierendsten Partien des Turniers. Beide Kontrahenten waren darauf eingestellt, nur für einen Sieg zu spielen. Anfangs handelte der russische Großmeister offensichtlich erfolgreicher. Er opferte zuerst aus Positionsgründen einen Bauern und danach auch einen Turm. Und dieses effektvolle Opfer, das in der für Gristschuk gewohnten Zeitnot vorgenommen wurde, sollte ihm eine auf ein Matt hinauslaufende Attacke gegen den gegnerischen König sichern. Im entscheidenden Moment beging Alexander jedoch eine Ungenauigkeit, die Maxime ausnutzte und mit einer Kaskade von eigenen Opfern beantwortete, die ihm erlaubten, die Partie zu retten. Im 33. Zug beschloss der französische Großmeister, der (im Unterschied zum Kontrahenten) über eine gewisse Reserve an Zeit verfügte und die Möglichkeit hatte, ein Remis zu forcieren, ein Risiko einzugehen und führte das Spiel zu einem für sich etwas schlechterem Ende mit „zwei Türmen gegen die Dame“ (bei Läufern und Bauernfiguren). Schließlich erlaubte ihm nur ein Sieg in dieser Partie, wie es heißt, „im Spiel zu bleiben“ und den Kampf um den ersten Platz fortzusetzen. Ungeachtet der Zeitnot handelte Gristschuk jedoch am Ende dieser Partie weitaus präziser und errang einen Sieg.
Interessant ist, dass Alexander danach seinem Kollegen aus der Auswahl Russlands noch einmal Unterstützung gewährte. Vor Beginn der vorletzten, der 13. Runde des Turniers hatte sich eine recht interessante Situation ergeben, in der die zwei Russen – Jan Nepomnjastschij und Alexander Gristschuk mit Weiß gegen Maxime Vacier-Lagrave bzw. Anish Giri spielend – buchstäblich als eine Mannschaft zum Kampf antraten, dessen Sieg (mit jeglichem Ergebnis und bei jeglichem Kräfteverhältnis) Jan einen vorzeitigen Sieg auch im Turnier insgesamt sicherte. Dabei hätte eine Niederlage von Nepomnjastschij dem Franzosen noch eine wahrhaft erstaunliche Chance gewährt, um den ersten Platz zu kämpfen.
Es sei gleich gesagt: Nepomnjastschij gab dem Kontrahenten nicht die geringste Möglichkeit, auf einen Gegenangriff zu spielen. Als auch klar wurde, dass am Nachbartisch Gristschuk einen Sieg erringt, bot Nepomnjastschij – in einer objektiven Remis-Position mit einem überzähligen Bauern – dem französischen Großmeister ein Remis an, das Jan vorzeitig den Turniersieg sicherte. Fast sofort begann er zahlreiche Glückwünsche zu dem so faszinierenden, schweren und sehr ersehnten Sieg zu erhalten. Und sein Mobiltelefon heizte sich buchstäblich aufgrund des Stroms von SMS auf, unter denen auch Gratulationen der Autoren des vorstehenden Beitrags waren. Und die erlaubten sich, über die Chancen von Nepomnjastschij beim anstehenden Match gegen Magnus Carlsen zu philosophieren.
Es sei daran erinnert, dass dieses Match mit einem Preisgeldfonds von zwei Millionen Euro am 24. November dieses Jahres in Dubai beginnen und zu einem organischen Bestandteil der Weltausstellung EXPO werden soll. Die Hauptfrage aber, die nicht nur die Bürger Russlands, sondern die Sportfans der ganzen Welt bewegt, kling sehr einfach: Hat Jan reale Chancen, den unbesiegbaren König zu stürzen? Als Nahrung für Überlegungen möchte man gern daran erinnern, dass der hauptsächliche klassische Teil beider vorangegangenen Auseinandersetzungen um die FIDE-Schachkrone, die zuerst Sergej Karjakin und dann Fabiano Caruana Magnus Carlsen streitig machten, mit einem Unentschieden, einem Remis zu Ende gegangen war. Und der Sieg ging letztlich an den amtierenden Champion lediglich dank einem stärkeren Spiel bei den Tiebreaks im Schnellschach.
Dabei ist auch das recht offenkundig, dass hinsichtlich seines riesigen kreativen Potenzials Jan in nichts Magnus nachsteht. Die Hauptprobleme können für den Herausforderer damit verbunden sein, was man üblicherweise als „sportliche Komponente“ bezeichnet. Bedeutet dies, dass sich Nepomnjastschij mit einer „Beseitigung der Mängel“ befassen muss? Es scheint, dass er im Gegenteil auf seine starken Seiten setzen muss – auf das sogenannte Kreative – und in erster Linie auf eine tiefgründige Gestaltung der Debüt- (Eröffnungs-) Strategie. Denn diese, wenn auch geringe, so doch sichtbare Überlegenheit in dieser Komponente erlaubte Fabiano Caruana, im Match des Jahres 2018 für den Champion überaus ernste Probleme zu schaffen. Und wieso soll Jan schlechter sein? Wir hoffen, dass er sich sogar als besserer erweist.
Bei der abschließenden Pressekonferenz würdigte der Gewinner unter anderem das gewaltige Verdienst der Organisatoren, die es vermocht hatten, das Kandidatenturnier unter den Bedingungen der COVID-19-Epidemie durchzuführen. Er sagte, dass es mutig gewesen sei, solch ein Turnier zu beginnen. Und es nach einem Jahr abzuschließen, dies sei eine Heldentat.
„Die letzte Runde, die, wie es üblicherweise heißt, nichts mehr entschied, wurde zu einem gewissen Triumpf für Ding Liren – einem der Favoriten des Vorjahres vor dem Start des Kandidatenturniers. Nachdem er am Vorabend ein wahrhaft märchenhaftes Geschenk von Kirill Alexejenko erhalten hatte, kam der chinesische Großmeister zur Partie gegen den Turniersieger in einer gehobenen Stimmung. Und mit den weißen Figuren gestaltete er sie wahrhaft inspiriert. Wir werden nicht herumrätseln, inwieweit sich das in den Handlungen von Nepomnjastschij auszumachende Motivationsdefizit auf den Verlauf des Kampfes auswirkte. Jan beging in dieser Partie scheinbar nur einen Fehler. Aber auch er hatte sich als ausreichend erwiesen. Im Ergebnis des Spurts von Ding auf der Zielgeraden kam er nicht nur vom letzten Turnierplatz weg, sondern erreichte die durchaus würdige 50-Prozent-Marke und holte sich überdies die dritte Position im internationalen FIDE-Rating zurück, wobei er Nepomnjastschij verdrängte. Was das Kandidatenturnier in Jekaterinburg insgesamt angeht, so belegte bei ihm Vachier-Lagrave den zweiten Platz. Und Anish Giri, der in der 14. und abschließenden Runde gegen Kirill Alexejenko verloren hatte, teilte mit Fabiano Caruana den 3. und 4. Rang.