Neue Konflikte ausländischer IT-Unternehmen mit den russischen Behörden ergeben sich beinahe jeden Tag. Dabei nehmen die Häufigkeit und die Umfänge der gerichtlichen Klagen und Strafen zu. Vor kurzem noch konnte man die russischen Strafen gegen ausländische Internet-Giganten für symbolische halten. Jetzt aber geht es bereits um zig Millionen Dollar, und einige Strafen drohen gar zu einer vollständigen Ruinierung solch eines Giganten wie Google zu führen. Das Szenario für ein Verlassen Russlands durch westliche IT-Unternehmen halten Experten für ein mögliches, obgleich auch ein wenig wahrscheinliches. Das Blockieren von Service-Leistungen ausländischer IT-Unternehmen führt zu einer Neuaufteilung des russischen Marktes der Internetwerbung, der heute mit einem riesigen Tempo wächst und bald die 5-Milliarden-Dollar-Marke nehmen wird. Die russische IT-Industrie wird jedoch nicht das komplette Spektrum der Serviceleistungen ausländischer Unternehmen ersetzen können.
Die russische Aufsichtsbehörde für das Fernmeldewesen und Internet Roskomnadzor sandte am Dienstag dem Unternehmen Google die Forderung, die Einschränkungen hinsichtlich des YouTube-Kanals des russischen staatlichen Auslandsenders Russia Today aufzuheben. Zuvor hatte der Google-Videohosting-Service mehrere Materialien auf dem YouTube-Kanal von Russia Today blockiert und die Durchführung von Live-Übertragungen verboten. In Roskomnadzor betonte man, dass „derartige Handlungen der Verwaltung des Videohostings YouTube die Schlüsselprinzipien einer freien Verbreitung von Informationen und eines ungehinderten Zugangs zu ihnen verletzen und ein Akt von Zensur hinsichtlich russischer Massenmedien sind“.
Google blockiert weiterhin mehrere russische TV-Kanäle ungeachtet der Gefahr einer ruinierenden Strafe, die durch ein russisches Schiedsgericht gegen den Internet-Giganten verhängt wurde.
Bereits ab dem 20. Mai wird auf Beschluss des Moskauer Schiedsgerichts die Strafsumme wegen der Blockierung des YouTube-Kanals des christlich-orthodox ausgerichteten TV-Senders „Zargrad“ ansteigen. Bis zu diesem Tag können die Vertreter von Google entweder die „Zargrad“-Blockierung aufheben oder Beschwerde gegen den Gerichtsbeschluss einlegen. Andernfalls wird hinsichtlich der russischen „Tochter“ des US-amerikanischen Konzerns eine progressive Gerichtsstrafe erhoben. Ihre Summe wird sich jede Woche um das 2fach erhöhen. Laut Angaben der Anwaltsfirma Baker & McKenzie, die als Partner von Google vor Gericht auftritt, könne die Höhe der Konventionalstrafe in sieben Monaten 94 Billionen Rubel erreichen. Diese Summe entspricht der gesamten Kapitalisierung des Internet-Giganten.
Eine wesentliche verhandelbare (übertragbare) Strafe droht in Russland auch dem Unternehmen Apple wegen unfairen Wettbewerbs auf dem Markt der mobilen Apps.
Am Montag reichte Apple einen Protest gegen den Föderalen Antimonopoldienst Russlands (Kartellamt) ein, um eine Strafe von 12 Millionen Dollar wegen Missbrauchs der dominierenden Stellung auf dem Markt der Apps anzufechten. Am 27. April hatte das Kartellamt Russlands gegen Apple eine Strafe nach einer Beschwerde des „Kaspersky-Labors“ verhängt. Im August vergangenen Jahres hatte das Amt die Behandlung des Falls gegen Apple entsprechend einem Antrag der „Kaspersky-Labor“ AG abgeschlossen. Festgestellt wurde, dass Apple die dominierende Stellung auf dem Markt der mobilen Apps auf der Basis des iOS-Operationssystems missbraucht hatte. Dies hatte zu einer Verschlechterung der Bedingungen für den Vertrieb von Produkten der Konkurrenten – von Parental Control Apps – geführt.
Experten konstatieren eine Tendenz zur Zunahme der Klagen gegenüber Internet-Unternehmen. Und sie schließen deren Verlassen Russlands nicht aus.
„In der Tat, es ist eine Tendenz zur Zunahme sowohl der Anzahl der Klagen als auch des Umfangs der in ihnen gestellten Forderungen zu beobachten. Dies ist aber auch für andere Branchen charakteristisch, beispielsweise für die Bergbauindustrie. Ein Beispiel ist die Klage von Rosprirodnadzor (Naturschutz-Aufsichtsbehörde Russlands – Anmerkung der Redaktion) gegen Norilsk Nickel“, urteilt Alexej Matjuchow, geschäftsführender Partner der „BMS Group“. Nach seinen Worten könne man Einschränkungen in der Arbeit mehrerer Service-Anbieter erwarten. „Wenn es aber bis zu einem Verlassen des russischen Marktes durch die ausländischen IT-Unternehmen kommt, wird dies zu spürbaren negativen Folgen führen – in erster Linie für die privaten Nutzer, aber auch für andere russische Unternehmen“, meint Matjuchow. „Die Sache ist die, dass die ausländischen IT-Giganten gegenwärtig Serviceleistungen gewähren, die zu einem untrennbaren Bestandteil des Alltags der Bürger und einer Reihe von Business-Prozessen geworden sind. Russische Unternehmen ersetzen nur teilweise diese Serviceleistungen. Und dies nicht immer mit der Qualität, an die sich die Nutzer gewöhnt haben. Dies betrifft die Speicherung von Daten auf Cloud-Plattformen, E-Mail-Lösungen, die Leistungen von Hosting-Servern und anderen“, meint der Experte.
„Die Summe der Forderungen gegenüber den westlichen Internet-Unternehmen nimmt proportional dem Grad dessen zu, inwieweit deren Serviceleistungen die machttreuen Strukturen berühren. Alle Beteiligten der Streitfälle verstehen aber ausgezeichnet, dass keinerlei Billionen-Rubelstrafen in Bezug auf Google genauso wie auch gegen Apple angewandt werden“, meint Pawel Utkin, leitender Jurist des Vereinigten juristischen Zentrums „Parthenon“. Nach seinen Worten wird möglicherweise auch die Blockierung des Kanals aufgehoben. Später aber wird ihn eine Benachrichtigung über die bevorstehende Blockierung erreichen. „Was die Sache Apples angeht, so ist die Situation hier einfacher. Für das Unternehmen aus Cupertino wird es wohl kaum schwierig sein, sein Regelwerk der russischen Gesetzgebung anzupassen“, vermutet der Experte.
„Das Szenario eines Verlassens Russlands durch IT-Unternehmen zu erörtern, hat keinerlei Sinn, da dies einfach nicht passieren wird. Genauso wie es auch für die Behörden keinen Sinn macht, die Situation zu solchen Folgen kommen zu lassen. Man muss verstehen, dass praktisch alle Smartphones in Russland auf der Basis von iOS und Android arbeiten. Durch einen Weggang werden absolut alle Bereiche der Wirtschaft und des Lebens in Mitleidenschaft gezogen, da diese Geste ausländischen Investitionen faktisch vollkommen den Weg nach Russland versperren und maximal harte Sanktionen seitens der USA und der EU nach sich ziehen werden. Und den gegenwärtigen Herrschenden wird es schon nicht mehr gelingen, sie einfach so zu ignorieren“, meint Utkin. Der Anteil von Google bei Suchanfragen in Russland liegt bei 56 Prozent, der von Yandex – bei 41 Prozent. Der Erlöst für das Jahr 2020 belief sich auf 85,5 Milliarden Rubel, der Reingewinn – auf 1,7 Milliarden Rubel, erinnerte der Experte. Und was die Serviceleistungen von Apple angeht, so ist dies ein einmaliges Produkt, und nicht ein russisches Unternehmen wird dessen Nische einnehmen können.
„Das Unternehmen Google hat hinsichtlich YouTube in der ganzen Welt Klagen. Und Juristen auf dem Gebiet des internationalen Rechts haben es schon längst gelernt, derartige Situationen ins Kalkül zu ziehen und strittige Situationen zu klären. Ich erwarte, dass Google argumentiert bis zum 20. Mai Berufung einlegen kann. Für Google gibt es zwei Varianten: entweder Russland zu verlassen oder die „Settings“ und die Prinzipien für die Arbeit mit den russischen Unternehmen stark zu ändern, was sich im Endergebnis auf die Einnahmen Googles, aber in größerem Maße auf das Wachstum und die Einnahmen aller russischen Unternehmen, die Google-Leistungen nutzen, auswirken wird“, vermutet Alexander Timofejew, Dozent am Informatik-Lehrstuhl der Russischen G.-V.-Plechanow-Wirtschaftsuniversität. Seinen Worten zufolge werde der Weggang ausländischer IT-Giganten stark die Popularisierung von allem im digitalen Raum, was mit Russland zusammenhängt, beeinflussen.