Es hat sich eine schreckliche Tragödie ereignet. Ilnaz Galjawijew, ein 19jähriger Bursche, ging in das Kasaner Gymnasium Nr. 175 und erschoss Kinder in einem der Unterrichtsräume. Er schoss aus einer Schusswaffe mit einem glatten Lauf. Im Ergebnis seiner Handlungen sind neun Menschen ums Leben gekommen, unter ihnen sieben Kinder und zwei Lehrerinnen. Galjawijew selbst ist festgenommen und wird vorläufig bis 11. Juli in U-Haft bleiben. Im Jahrhundert der Mobiltelefone erfolgt praktisch jegliches Ereignis mit einer Fixierung. Kasaner Schüler fixierten, selbst als sie sich vor dem Schützen zu retten suchten, das Geschehen mit ihren Gadgets. Insgesamt befanden sich zum Zeitpunkt der Schießerei 714 Schüler*innen und 70 Mitarbeiter*innen der Bildungseinrichtung, von denen 52 Pädagog*innen sind, in der Schule.
Im Vorfeld der Mordtat hatte der junge Mann, der bereits einige Zeit allein lebte, vor fast einem halben Jahr das Studium in einem College hingeworfen hatte und nicht zu den Prüfungen erschienen war, eine Waffe gekauft und Einträge in den sozialen Netzwerken gepostet… Und dies hatte keinen interessiert.
Und natürlich ist es auch irgendwie unverständlich, wie der junge Mörder bewaffnet durch die Stadt spazierte. Er trug beinahe offen einen Gegenstand mit sich, der einer Waffe ähnelte, und grüßte irgendwen in der Ferne. Und keiner hatte auch nur den Versuch unternommen, dies der Polizei mitzuteilen oder ihn zu stoppen. Es ist klar, dass ein normaler Mensch so tickt, dass er eine schlechte Variante zuletzt in Erwägung zieht. Dennoch aber ist es etwas merkwürdig.
Die Tragödie dieser Art ist leider nicht die erste (auch in Russland – Anmerkung der Redaktion). Und jede solche schreckliche Lehre nötigt die Politiker, Staatsbeamten und Schulleitungen, prophylaktische Sicherheitsmaßnahmen zu ergreifen. Die Kasaner Situation zeigt, dass dies vom Prinzip her funktioniert. Es versteht sich, soweit dies in der Situation einer tragischen Unvorhersehbarkeit möglich ist. Wir wissen beispielsweise, dass es in jeder Schule einen Alarmknopf gibt. Im Gymnasium Nr. 175 von Kasan hatte man es geschafft, ihn zu drücken. Das Signal ging raus. Und die Polizei war nach Mitteilung von Augenzeugen recht schnell gekommen. In der Schule funktioniert eine Lautsprecheranlage. Man hatte es geschafft, die Kinder und Lehrkräfte vor der Gefahr zu warnen. Und sie schlossen sich in ihren Unterrichtsräumen ein. Viele hatten sich nicht nur eingeschlossen, wie sich herausstellte, sondern auch die Türen verbarrikadiert. Der Verbrecher könnte die Türen zu anderen Klassenräumen nicht öffnen.
In vielen Massenmedien und selbst in den offiziellen Erklärungen nannte man den Mörder an sich weiter als einen Teenager bzw. Halbwüchsigen, sogar nach der Veröffentlichung seines wahren Alters. Aber dies war, wie es heißt, ein Freudscher Versprecher. In Russland gibt es übrigens ein gutes Äquivalent – Minderjähriger. In der Tat, ein Mensch von 19 Jahren wird in der heutigen Gesellschaft de facto als eine unreife Persönlichkeit angesehen. Die traditionelle Altersperiodisierung des Lebens „Kind – junger Mensch – Erwachsener“ ist heute stark mutiert, versichern Soziologen und Psychologen. Zu Vieles hat sich in der sozialen Lebensweise verändert: das Lebenstempo, das Herangehen an die Bildung, die sozialen Rollen und Institute, die berufliche Selbstbestimmung des Menschen. Verändert hat sich der Zeitraum für den Beginn des erwachsenen Lebens. Letzten Endes wird der Wert des Erwachsenseins an sich bereits angezweifelt. Und der Infantilismus wird zu einer gewohnten Erscheinung.
Im Kasaner Fall beeilten sich viele Kommentatoren zu unterstreichen, dass der „Halbwüchsige“ Konflikte mit Lehrkräften gehabt hätte. Die Direktorin des Gymnasiums Nr. 175 betont jedoch, dass dies ein „ruhiger, ganz dem Computer verfallener“ Schüler war. Ja, und selbst wenn dem so gewesen wäre, was für Konflikte konnten ihn veranlassen, in der heimatlichen Schule blutige Auseinandersetzungen zu veranstalten? Vielleicht aber war es nicht die „heimatliche“? …
Experten stellen bereits seit langem und eindeutig den hohen Stand von Konflikten von Minderjährigen fest und konstatieren einen weiten Verbreitungsgrad von Erscheinungen von Gewalt im Schulmilieu. Faktisch hat sich die moderne russische Schule heute in Vielem in ein Umfeld für das Generieren marginaler Subkulturen verwandelt. Darunter – krimineller und terroristischer Art. Erinnert sie zumindest an die sogenannte AUE (Arestantskij uklad jedin – deutsch: die Knastbruder-Ordnung ist eine einheitlich, auch: Einheit der Gefangenen – eine Jugendbewegung, die in der Russischen Föderation als eine extremistische eingestuft worden ist – Anmerkung der Redaktion).
Obgleich, was kannst du da machen, wenn jeder Fall nicht dem neuen ähnelt. Videoaufnahmen des Verhörs des Kasaner nichtvolljährigen Mörders kursieren im Internet. Die Logik einer Psychose, die in ihnen festgehalten wurde, ist für einen normalen Menschen nicht nachvollziehbar. Es löst dies keinen Zweifel aus, dass der Mensch, der dieses Verbrechen beging, sich offenkundig im Zustand eines veränderten Bewusstseins befunden hatte. Durch was dieser Zustand ausgelöst wurde – durch eine plötzliche (oder bereits anhaltende) Geistesstörung oder durch den Missbrauch verbotener Stoffe -, wird man uns wahrscheinlich nach der gerichtspsychiatrischen Begutachtung mitteilen.
Derweil hat sich zufällig oder nicht, aber mit der Entfaltung und Verbreitung religiöser Propaganda und Praktiken in den weltlichen Bildungseinrichtungen aller Ebenen die Zahl der Selbstmorde in ihnen erhöht. Zugenommen hat die Kinder- und Jugendkriminalität. Ja, und da hat der bekannte Publizist Alexander Newsorow, dem medizinisches Wissen nicht fremd ist, in seinem Blog beim hauptstädtischen Hörfunksender „Echo Moskaus“ betont: „Es ist lächerlich. Doch erneut haben die Psychiater gekniffen, die anhand dieser Videos sicher die Diagnose Paranoia religiosa hätten stellen können, die bereits von W. P. Serbskij ausführlich beschrieben worden war“.
Wenn dem so ist, so sind dies schon keine Scherze mit dem Lehrbuch „Grundlagen der religiösen Kultur und der weltlichen Ethik“ für die 4. und 5. Schulklassen. Alles ist sehr simpel: Die Kirche muss von der Schule getrennt sein. Und das war es. Doch im Sommer 2009 hatte der damalige Präsident der Russischen Föderation Dmitrij Medwedjew beschlossen, dass in 18 Regionen Russlands ein Experiment hinsichtlich des Unterrichtens des neuen Lehrfachs „Geistlich-moralische Erziehung“ begonnen wird. Die Schüler der 4. und 5. Klassen sollten auswählen, was sie sich aneignen werden – die Grundlagen des orthodoxen Christentums, des Islams, Judaismus, Buddhismus oder die banale „weltliche Ethik“.
Wenn man dem hinzufügt, dass sich in der letzten Zeit auf dies alles eine massierte und — man kann sagen — eine offenkundig aufoktroyierende, politisch motivierte Welle einer „Verstärkung der patriotischen Erziehung in der Schule“ gelegt hat… Charakteristisch ist, dass hier sogar mehrere Universitätsrektoren öffentlich zu erklären begannen: Die von ihnen geleitete Hochschule sei zu einem „Zentrum der patriotischen Erziehung“ in der Region geworden. Ja, solch eine patriotische Erziehung kann auch nur „kleine Patrioten“ mit einer geschulterten Schusswaffe mit einem glatten Lauf erziehen.