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Das Selenskij-Team will den Oligarchen die Stirn bieten


Bis Ende Mai plant das Team von Präsident Wladimir Selenskij, in der Werchowna Rada (Parlament der Ukraine – Anmerkung der Redaktion) einen Gesetzentwurf über Oligarchen zu registrieren. In diesem werden die Kriterien aufgezählt, denen entsprechend in der Ukraine solch eine Status bestimmt wird, und Maßnahmen genannt, mit deren Hilfe der Staat beabsichtigt, gegen die Oligarchie als solche zu kämpfen. Zuvor hatten die ukrainischen Offiziellen den Schmugglern, Verbrecherkönigen, ehemaligen hochrangigen Beamten und der „russischen 5. Kolonne“ den Fehdehandschuh geworfen. Die Richtungen des Kampfes werden zu sehr vielen.

Die Idee hinsichtlich eines offiziellen Gesetzes über die Oligarchen, dessen offizielle Bezeichnung bisher unbekannt ist, stammt von Wladimir Selenskij. Mitte April beauftragte das Staatsoberhaupt im Verlauf einer Sitzung des Rates für nationale Sicherheit und Verteidigung das Präsidenten-Office und das Antimonopol-Komitee (Kartellamt – „NG“), „ein grundlegendes Gesetz über den Status eines Oligarchen in unserem Land“ auszuarbeiten. Selenskij sagte, dass entsprechend diesem Gesetz sich jene, die man als Oligarchen bezeichnet, „in Geschäftsleute verwandeln werden“. Er erläuterte, worin der Unterschied besteht: „Wir unterstützen das Big Business in der Ukraine. Aber einen Einfluss der Oligarchen auf die Ukraine, auf die Wahl, auf die Wirtschaft, auf die Werchowna Rada, auf die Gesetze – dies darf man, scheint mir, nicht zulassen“.

Später entwickelte der Präsident seine Idee in einer Veröffentlichung des ukrainischen Periodikums „Focus“ weiter. Er betonte, dass das ganze Land die Namen der Menschen kenne, die die Privatisierung der 1990er ausnutzen konnten und seitdem alljährlich in die Listen der reichsten Ukrainer geraten: „Und was ist aber mit den übrigen? Soll sich die Gesellschaft einfach daran anpassen, wie diese Auserwählten und die ihnen Nahestehenden untereinander die Ressourcen aufteilten – die politischen, finanziellen, industriellen und informationsseitigen?“. Selenskij ist der Auffassung, dass dem nicht so sein dürfe. „Ich sage es frank und frei: Ein Staat, in dem es eine derartige Ungleichheit gibt, kann bestimmt kein komfortabler und konkurrenzfähiger sein. Die absolute Mehrheit der Ukrainer hält solch eine Situation nicht für eine gerechte. Gerade dies hatte sich auch in den Wahlergebnissen von 2019 niedergeschlagen. Das, mit was für einem beredten Ergebnis einer der Oligarchen (Petro Poroschenko – „NG“) damals verloren hat, demonstriert anschaulich, womit die Gesellschaft tatsächlich rechnet“.

Zum zweiten Jahrestag seines Sieges bei den Präsidentschaftswahlen begann Selenskij, dieses alte politische System zu zerstören, gegen das die Wähler im Jahr 2019 votiert hatten. Experten betonen, dass die Entscheidungen bisher bruchstückhaft aussehen und eine Vielzahl von Fragen auslösen würden. Es sei daran erinnert: Seit Februar verhängte der Rat für nationale Sicherheit und Verteidigung Sanktionen gegen die ukrainischen Bürger, die man einer „Finanzierung von Terrorismus“ verdächtigt. Und jetzt auch eines Staatsverrates. Betroffen sind die Abgeordneten der Werchowna Rada von der Partei „Oppositionsplattform – Für das Leben“ Taras Kosak und Viktor Medwedtschuk. Der erste sei laut Angaben der Untersuchungsbehörden in Russland untergetaucht, der zweite wurde im Rahmen einer Sicherungsmaßnahme unter Hausarrest gestellt. Selenskij ist der Auffassung, dass es damit in der Ukraine einen Oligarchen weniger geben würde.

Die Situation mit Medwedtschuk entwickelt sich noch weiter. Experten betonen, dass ihr Ende nicht vorausbestimmt sei. Der Politologe Viktor Neboschenko schrieb in einer Kolumne für das Internetportal „Glavred“ („Chefredakteur“): „Wahrscheinlich ist auch das, dass der Hausarrest Medwedtschuks eine Form der Ausübung von Druck auf Russland vor einem künftigen Treffen Selenskijs und Putins sein kann“.

Aber noch vor der Vorlage eines Verdachts gegenüber Viktor Medwedtschuk hatte das Selenskij-Team vielen, recht starken, wenn auch nicht öffentlichen Figuren den Fehdehandschuh geworfen. Im April berichtete man entsprechend den Ergebnissen der Tagung des Rates für nationale Sicherheit und Verteidigung zweimal darüber, dass „Schmuggelkönige“ in die Sanktionslisten aufgenommen wurden. Auf der ersten Liste waren zehn Namen, auf der zweiten – die Namen von zwölf, die aber nicht genannt wurden. Die Medien berichteten lediglich über zwei Personen, in deren Hinsicht die Entscheidungen über die Gewährung der ukrainischen Staatsbürgerschaft aufgehoben wurden. Informationen über die strafrechtliche Verfolgung der „Könige“ hatte es gleichfalls nicht gegeben.

Die letzte Tagung des Rates endete mit der sensationellen Nachricht über Sanktionen in Bezug auf 557 „Verbrecherkönigen“ und 111 „kriminellen Autoritäten“. Wladimir Selenskij präzisierte in einer anschließenden Videoansprache, dass auf diese Liste die Namen von Verbrechern gesetzt worden seien, „die in der Welt bekannt sind“. Seinen Worten zufolge würden sich auf dem Territorium der Ukraine und in Freiheit nach wie vor 17 Personen aus der neuen Sanktionsliste befinden. Den übrigen würde der Rat für nationale Sicherheit und Verteidigung das Signal senden, dass sie in der Ukraine nichts zu tun hätten. „Hinsichtlich all dieser Personen wurden Vermögen blockiert, die Einreise in die Ukraine verboten, die Ausstellung von Visa verwehrt oder Visa, zeitweilige oder ständige Aufenthaltsgenehmigungen sowie Einwanderungsgenehmigungen annulliert, die Verlängerung der Aufenthaltsdauer in der Ukraine abgelehnt, der Erhalt der ukrainischen Staatsbürgerschaft unmöglich gemacht und eine Zwangsausweisung vorgenommen. Kurzum: Diejenigen, die nicht in der Ukraine sind, brauchen gar nicht erst herzukommen. Diejenigen, die in der Ukraine sind, haben hier nichts mehr verloren“, sagte Selenskij.

Und noch eine Entscheidung des Rates, die am vergangenen Freitag gefällt wurde, garantiert eine Konfrontation des Selenskij-Teams mit ehemaligen Beamten. Die ukrainischen Offiziellen haben entschieden, eine Überprüfung aller Personen vorzunehmen, die sogenannte Staatsdatschen einnehmen. Es geht dabei um dutzende Elite-Objekte (Villen, Wochenendhäuser etc.), die auf Staatskosten unterhalten werden und sich auf 365 Hektar Naturschutzgebieten in den Kiewer Vororten Kontscha-Saspa und Pustscha-Wodiza befinden. Der Sekretär des Rates Alexej Danilow erklärte gegenüber Journalisten, dass „sehr merkwürdige Leute“ in den staatlichen Villen leben würden und „der Präsident die Anweisung erteilte, sich Klarheit darüber zu verschaffen“. Selenskij selbst erläuterte in einem Videoauftritt, dass in der Zeit der Poroschenko-Präsidentschaft „die Liste der Kategorien von Personen, die ein Recht auf ein vergünstigtes Wohnen haben, annulliert wurde, was auf den ersten Blick nicht schlecht aussieht. Tatsächlich aber legalisiert es den Aufenthalt einer Reihe unklarer Personen auf diesen Grundstücken und in den Residenzen (für eine sehr symbolischen Obolus). Dies sind einstige Richter, Staatsanwälte, Rechtsschützer, Zöllner, Steuerbeamte…“. Er versprach, eine vollständige Überprüfung durchzuführen und danach „eine große Umsiedlung dieser Völker“ zu beginnen.

Es ist offensichtlich, dass diese Entscheidung wie auch die früher bestätigten Sanktionen einen Widerstand jener auslösen wird, die durch das Selenskij-Team gekränkt wurden. Es werden zu viele Gegner und Feinde werden, warnen Experten. Gefallen wird die Situation den einfachen Ukrainern und westlichen Partnern. Zumindest hatte Selenskij die Frage einer Überwindung der Oligarchie Anfang Mai mit US-Präsident Joseph Biden telefonisch und Mitte des Monats bei einem persönlichen Treffen mit US-Außenminister Anthony Blinken in Kiew erörtert. Laut einer Mittelung des Pressedienstes des Präsidenten-Office der Ukraine ging es bei dem Gespräch mit Biden unter anderem um „die Wichtigkeit des Kampfes gegen die Oligarchen. Selenskij betonte, dass die Politik der Ukraine auf eine systematische Überwindung der Oligarchie ausgerichtet ist“.

Die US-amerikanischen Erfahrungen seien im Gesetzentwurf über die Oligarchen berücksichtigt worden, sagte der ukrainische Außenminister Dmitrij Kuleba in einem Interview mit Radio Liberty. Derweil bleibt die Frage, wie erfolgreich die Anstrengungen des Selenskij-Teams sein werden, vorerst eine offene.