Den globalen Übergang zu einer sauberen Energiewirtschaft halten die russischen Offiziellen faktisch für kein aktuelles Problem. Risiken für unsere Wirtschaft aufgrund der Anforderungen hinsichtlich einer CO2-Neutralität würden nicht früher als 2035 auftreten, meint man im Energieministerium der Russischen Föderation. Daher wird nicht geplant, die Modernisierung des Brennstoff- und Energiekomplexes zu forcieren. Als wichtigere Aufgaben bezeichnet die Regierung den Anschluss weiterer Teile des russischen Territoriums an eine Gasversorgung, die Verarbeitung von Kohlenwasserstoffen und die Festigung der Positionen in Bezug auf Energieträger. Unabhängige Wirtschaftsexperten sind aber der Auffassung, dass für Russland eine schwierige Zeit des Wettbewerbs um einen Platz auf den zusammenschrumpfenden Märkten der fossilen Brennstoffe begonnen habe.
„Man muss sich nicht beeilen, Abschied von den Kohlenwasserstoffen zu nehmen“, erklärt der Leiter des russischen Energieministeriums Nikolaj Schulginow in einem Interview des Branchenmagazins „Energiewirtschaft“. „Man muss begreifen, dass sich bis zum Jahr 2035 weder Europa noch die USA vollkommen von den Kohlenwasserstoffen trennen und die traditionellen Energieressourcen weiter eine signifikante Rolle spielen werden“, betont der Minister. Dabei gesteht er ein, dass „man die Energiewende nicht ignorieren darf“.
Vor dem russischen Brennstoff- und Energiekomplex stehen heute überaus wichtige Aufgaben – die Vornahme von Arbeiten zum Anschluss weiterer Gebiete an die Gasversorgung in den Regionen, die Entwicklung der Verarbeitung von Öl und Gas, die Überwindung der wirtschaftlichen Pandemie-Folgen sowie die Einnahme sicherer Positionen auf den Märkten der neuen Energieträger, meint der Energieminister.
Anders sehen unabhängige Wirtschaftsfachleute die Perspektive. „Es gibt keine Grundlagen, eine Zunahme der Nachfrage nach Kohlenwasserstoffen und einen Anstieg der Preise für sie zu erwarten. Wir haben auf den „stehenden“ (oder schrumpfenden) Energiemärkten unter den Bedingungen des ökologischen und technologischen Wettrennens zu konkurrieren, und dies mit Ländern, die sich von Anfang an unter günstigeren Bedingungen befinden“, betont Dmitrij Belousow, Fachbereichsleiter des Zentrums für makroökonomische Analyse und kurzfristige Prognostizierung (ZMAKP). „Daher wird der Energie- und Rohstoffsektor kein Ausgangspunkt für ein Wachstum der Arbeitsproduktivität und ein massives Erzielen einer Rente sein“, denkt der Wirtschaftsexperte. Das Volumen der internationalen Märkte für Erdöl und besonders für Kohle werde sich wahrscheinlich verringern, meint man im ZMAKP.
Die russischen Beamten schicken sich jedoch an, die Förderung und den Export von Kohle in der überschaubaren Perspektive zu stimulieren. „Wir planen, bis zum Jahr 2035 weiter den Kohlesektor bis zur vollständigen Befriedigung des Bedarfs unserer Wirtschaft an Kohle und für eine Forcierung deren Exportlieferungen, vor allem in die Länder der asiatisch-pazifischen Region zu entwickeln“, sagt der Leiter des Energieministeriums. Dabei verweist er auf die Vervollkommnung der Technologien zur Kohleverbrennung in China. In der Volksrepublik China würden gegenwärtig neue Kohlekraftwerke mit Systemen zum Auffangen (zur Abscheidung) von Kohlendioxid und mit einem hohen Wirkungsgrad in Dienst gestellt. In der nächsten Zeit werde China die Kohlekraftwerke nicht stilllegen, da sich diese Kapazitäten rentieren müssten, erläutert der russische Minister. Außerdem schaffe die zunehmende Nachfrage nach Kohle in den Ländern Südostasiens günstige Bedingungen für eine Aufstockung der russischen Kohlelieferungen.
Am Samstag informierte das Ministerkabinett der Russischen Föderation über die endgültige Bestätigung der Generalschemas für die Entwicklung des Öl- und des Gassektors bis zum Jahr 2035, die durch das Energieministerium vorgelegt worden waren. Diese Schemas enthalten verschiedene Szenarios für eine Wiederherstellung der Fördermengen an Öl und Gas. Mehrere Experten sind jedoch der Auffassung, dass Russland bereits den Höhepunkt der Ölförderung passiert habe, der im Jahr 2019 erreicht worden war. Und daher könne man nur bedingt von einer Wiederherstellung der Förderung sprechen.
So wird in der neuen offiziellen makroökonomischen Prognose angenommen, dass die Einschränkungen für die Ölförderung im Rahmen des OPEC+-Abkommens lediglich in der zweiten Hälfte des Jahres 2022 aufgehoben werden können.
Eines der wahrscheinlichsten Szenarios für die Ölbranche sieht vor, dass die Förderung von Öl und Gaskondensat im Jahr 2024 555 bis 560 Millionen Tonnen erreicht und im Jahr 2035 bis auf 490 bis 555 Millionen Tonnen zurückgehen wird. Zum Vergleich: Bis zum Beginn der Coronavirus-Pandemie wurden im Jahr 2019 in der Russischen Föderation 560,2 Millionen Tonnen Öl und Gaskondensat gefördert. Und im vergangenen Jahr verringerten sich die Fördermengen bis auf 512-513 Millionen Tonnen.
Nach Aussagen des Energieministers sei Russland insgesamt zu einer Erweiterung der Erzeugung von Wasserstoff als ein perspektivreicher Brennstoff bereit. Jedoch gebe es bisher keine Klarheit hinsichtlich der wirtschaftlichen Grundlagen für derartige Projekte. „Die Technologien zur Gewinnung von Wasserstoff sind nicht neu. Den kann fast jeder Erdölverarbeitungsbetrieb erzeugen. Eine andere Sache ist, dass man die Fragen einer großangelegten Erzeugung von Wasserstoff, dessen Speicherung und Transports durcharbeiten muss. Seine Erzeugung kann man auf der Grundlage von Erdgas oder Kernenergie entwickeln. In dieser Hinsicht hat Russland viele Möglichkeiten für eine Entwicklung. Das Wichtigste ist: Wir dürfen nicht auf der Stelle stehenbleiben. Man muss neue Technologien entwickeln. Vor uns steht die ambitionierte Aufgabe, 20 Prozent des Marktes einzunehmen. Und die steht außer Frage“, erklärte Schulginow.
„Derzeit ist schwer zu sagen, wie und zu was für einem Preis der „blaue“ und der „grüne“ Wasserstoff verkauft werden, da es keinen Markt als solch einen gibt. Er bildet sich erst heraus. Dabei plant Russland, auf den Märkten aller Arten von Wasserstoff präsent zu sein, um alle Nischen zu schließen“, verspricht der Beamte.
Am vergangenen Freitag teilte „Gazprom“ mit, dass der Konzern den Bau eines Kraftwerks in Baschkirien auf der Basis eines Gemischs von Erdgas und Wasserstoff in einer Partnerschaft mit dem deutschen Siemens-Konzern erörtere. Über das Projekt berichtete Denis Fjodorow, Leiter der Gazprom-Energie-Holding, die federführend für die Energiewirtschaft von „Gazprom“ ist, meldete Reuters. „Gazprom“ wolle eine Pilotanlage zur Stromerzeugung im Nowo-Salavat-Wärmekraftwerk (für das Siemens bereits Anlagen lieferte) errichten, die unter anderem Wasserstoff als Energieträger nutzen werde. Das eigentliche arbeitende Kraftwerk werde dabei unberührt bleiben.