Die Ukraine rechnet nicht mehr mit der Unterzeichnung eines Aktionsplans zum Erhalt einer NATO-Mitgliedschaft im Verlauf des für den 14. Juni geplanten Gipfeltreffens der Allianz. Sie fordert aber, einen zeitlichen Rahmen zu bestimmen – wann ein solcher Aktionsplan unterzeichnet werden kann und wie die Perspektive für eine Mitgliedschaft aussieht. Umfrageergebnisse belegen, dass, wenn jetzt ein Referendum über eine NATO-Mitgliedschaft durchgeführt werden würde, etwa die Hälfte der Bürger des Landes mit JA stimmen würden.
Laut Angaben der soziologischen Gruppe „Rating“ unterstützten im Frühjahr dieses Jahres 48 Prozent der befragten Ukrainer die Idee einer NATO-Mitgliedschaft, 28 Prozent sind gegen eine Mitgliedschaft in der Allianz, weitere elf Prozent erklärten, dass sie nicht an einem entsprechenden Referendum beteiligen würden. Und 13 Prozent taten sich mit einer Antwort schwer. Das heißt: Die Gruppe derjenigen, die keine klare Position haben, macht fast ein Viertel der Bevölkerung aus. Insgesamt aber hat sich in den letzten Jahren in der Ukraine die Zahl der Anhänger einer NATO-Mitgliedschaft wesentlich erhöht. Im Frühjahr des Jahres 2014, gleich nach der Flucht von Viktor Janukowitsch nach Russland und noch vor den Wahlen, bei denen Petro Poroschenko gesiegt hatte, hatten für einen Beitritt zur NATO 34 Prozent plädiert, dagegen – 43 Prozent. Ein halbes Jahr später, als die Krim bereits unter die Jurisdiktion der Russischen Föderation gekommen war und im Donbass der Krieg begonnen hatte, änderte sich die Situation. 43 Prozent der Ukrainer waren bereit gewesen, für eine NATO-Mitgliedschaft zu votieren, 31 Prozent – dagegen. Nach einem Jahr, im September 2015 verstärkte sich die Tendenz: 48 Prozent unterstützten die Idee der Mitgliedschaft, nur 28 Prozent sprachen sich dagegen aus. Ende des Jahres 2017 fixierten die Soziologen eine Veränderung der Stimmungen. In der Gesellschaft hatte die Zahl derjenigen zugenommen, die für einen blockfreien Status eintraten. Dementsprechend verringerte sich die Anzahl der Anhänger einer NATO-Mitgliedschaft bis auf 37 Prozent. Und die Zahl der Gegner – bis auf 26 Prozent. Zum Zeitpunkt des Machtantritts von Wladimir Selenskij hatten sich die Stimmungen erneut verändert. Im Juni des Jahres 2019 waren 53 Prozent der Ukrainer bereit gewesen, für eine NATO-Mitgliedschaft zu stimmen, dagegen – 29 Prozent. Es sei betont, dass der Anteil derjenigen, die sich nicht endgültig festgelegt hatten, in all diesen Jahren ein signifikanter war.
Aber ein Referendum hinsichtlich einer NATO-Mitgliedschaft wird in der Ukraine so lange nicht geplant, solang die Frage nicht auf die Tagesordnung der Allianz gesetzt wird. Und dem muss die Realisierung eines Aktionsplans für den Erhalt der Mitgliedschaft vorausgehen. Es sei daran erinnert, dass die Unterzeichnung solch eines Aktionsplans mit der Ukraine und mit Georgien erstmals im Jahr 2008 geplant wurde. Die NATO-Länder haben jedoch die Entscheidung verschoben, wobei sie versprachen, dass sie die Türen für Kiew und Tbilissi offen lassen würden. Seitdem ist die Frage nach einem Aktionsplan offiziell nicht behandelt worden. Die westlichen Partner der Ukraine weisen unablässig auf die Notwendigkeit von Reformen hin, die alle Lebensbereiche des Landes mit den Standards der NATO-Mitgliedsländer in Übereinstimmung bringen.
Der Experte des Zentrums für die Erforschung der Armee, Konversion und Abrüstung Michail Samus betonte in seinem Blog, dass die NATO-Mitglieder sich im Jahr 2008 angeschickt hätten, beim Bukarester Summit einen Aktionsplan zu unterzeichnen. Und dies bedeute, sie die Bereitschaft der Ukraine zur Umsetzung solch eines Planes anerkannt hätten. „Nur das persönliche Eingreifen des Präsidenten der Russischen Föderation in den Prozess der Annahme der Entscheidung hatte Frankreich und Deutschland zu einer Blockierung der endgültigen Vorlage eines Aktionsplans für Kiew und Tbilissi bewegt“. Seitdem hätten die Ukraine und Georgien eine Vielzahl von Reformen durchgeführt und seien jetzt nach Meinung von Samus weitaus besser auf die Unterzeichnung eines Aktionsplans für den Erhalt einer NATO-Mitgliedschaft als im Jahr 2008 vorbereitet. Die Reformen, die noch durchzuführen sind, machen gerade auch den Plan zur Vorbereitung auf eine NATO-Mitgliedschaft aus. „Schließlich ist der Aktionsplan kein Prozess des Beitritts zur NATO, sondern ein Prozess zur Vorbereitung auf den Beitritt zur Allianz, der keinerlei zeitliche Begrenzungen aufweist“. Die Umsetzung des Plans an sich ist mit keinerlei Verpflichtungen für die NATO-Mitglieder verbunden und erfordert nur von dem jeweiligen Kandidaten-Staat Anstrengungen. Im Westen aber würden sich viele fürchten, einen Schritt zu unternehmen, der nach Aussagen von Michail Samus in der Russischen Föderation Gereiztheit auslösen werde. „Leider dominiert in Westeuropa die Position, dass man Russland beruhigen, überreden und beschwichtigen müsse…“. Gerade daher sei, wie der Experte meint, die Ukraine in eine „Grauzone“ zwischen den beiden Blöcken geraten.
In der Zeit der Präsidentschaft von Petro Poroschenko hatte die Werchowna Rada (das ukrainische Parlament) den Passus über den strategischen außenpolitischen Kurs der Ukraine auf eine EU- und NATO-Mitgliedschaft in die Verfassung aufgenommen. Im vergangenen Jahr wurde dieser Schritt durch die Allianz gewürdigt. Man räumte dem Land den Status eines Partners der NATO mit erweiterten Möglichkeiten ein. Er hängt in keiner Weise mit dem Aktionsplan und der Perspektive einer Mitgliedschaft zusammen, sondern zielt auf eine Verstärkung der operativen Kompatibilität der Truppen der Partnerländer mit den Streitkräften der NATO ab. In Kiew hält man diese Entscheidung für eine große Errungenschaft. Man erwartet aber von der Allianz ein politisches Signal in Gestalt der Unterzeichnung eines Aktionsplans für den Erhalt der NATO-Mitgliedschaft. Präsident Wladimir Selenskij betonte jüngst bei einem Telefonat mit NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg, dass die Ukraine Reformen durchgeführt habe und durchführe, die Armee verstärke und die Verteidigung festige. „Aber allein mit Reformen ist Russland nicht aufzuhalten. Die NATO (die Perspektive einer Mitgliedschaft – „NG“) ist der einzige Weg zur Beendigung des Krieges im Donbass. Der Aktionsplan wird zu einem wahren Signal für Russland“. In Moskau betonte man sofort, dass alles umgekehrt sei: Eine Annäherung der Ukraine mit der NATO würde eine Zuspitzung im Donbass auslösen.
Der Experte für Militärprogramme im Rasumkow-Zentrum Alexej Melnik betonte in einem Kommentar für das Portal „Ukrinform“, dass die Ukraine in vielen Richtungen mit der NATO aktiv zusammenarbeite. Einige Mitglieder der Allianz würden sich aber „immer noch fürchten, dass die Entscheidung über eine vollwertige NATO-Mitgliedschaft das System der euro-atlantischen Sicherheit untergraben kann. Angeblich provoziert dies Russland zu einer erneuten Aggression“.
Zu Jahresbeginn sprachen mehrere ukrainische hochrangige Beamte inkl. Verteidigungsminister Andrej Taran von der Wahrscheinlichkeit der Unterzeichnung eines Aktionsplans schon in diesem Jahr. Jetzt aber betonte die Vizeregierungschefin für Fragen der Eurointegration Olga Stefanischina (nach einem 3tägigen Brüssel-Besuch in der ersten Mai-Hälfte), dass beim Juni-Summit kein Dokument bezüglich der Ukraine unterzeichnet werde, obgleich die NATO die Politik der offenen Türen fortsetzen werde.