Die Wahlen zur Nationalversammlung (zum Parlament) Armeniens, die für den 20. Juni angesetzt worden sind, können aufgrund der Krise an der armenisch-aserbaidschanischen Grenze nicht stattfinden. Solch eine Vermutung äußerte der Führer der Partei „Leuchtendes Armenien“ Edmon Marukjan beim Kongress seiner Partei, auf dem beschlossen wurde, an den Wahlen teilzunehmen. Um einen Sitz im Parlament zu kämpfen, hat auch der russische Milliardär und Vorsitzende des Verbands der Armenier Russlands Ara Abramjan beschlossen, der die Partei „Unser Haus – Armenien“ gründete.
Die Situation an der armenisch-aserbaidschanischen Grenze befinde sich unter Kontrolle, ein Teil des Personalbestands der Streitkräfte Aserbaidschans habe das Territorium der Republik Armenien verlassen und sei auf die Ausgangsposition zurückgekehrt, erklärte man im Verteidigungsministerium Armeniens. Es sei daran erinnert, dass laut Mitteilungen der armenischen Seite Einheiten der Streitkräfte Aserbaidschans auf das Territorium „zwecks Korrektur der Grenze“ im Gebiet Sjunik und im Bereich des Schwarzen Sees gekommen seien. Der amtierende Premierminister Nikol Paschinjan bezeichnete die Aktionen Bakus als „einen Angriff auf das Territorium Armeniens“ und bat um Unterstützung und Hilfe seitens Russlands und der Organisation des kollektiven Sicherheitsvertrages. Der russische Präsident Wladimir Putin führte mehrere Telefongespräche mit Paschinjan und Aserbaidschans Staatsoberhaupt Ilcham Alijew.
Die gesamte vergangene Woche haben die drei Länder den Entwurf eines Dokuments erörtert, das die Bildung einer Kommission zur Demarkation und Delimitation der armenisch-aserbaidschanischen Grenze vorsieht. Dies teilte auf einer Sondersitzung des Parlaments Paschinjan mit. Er war bereit, es zu unterzeichnen. Die Gesetzesvorlage, die Nikol Paschinjan untersagt, ohne eine Billigung des Parlaments ein Abkommen über die Grenzen mit Aserbaidschan zu unterzeichnen, kam jedoch nicht auf die nötige Anzahl von Stimmen aufgrund der Weigerung der Abgeordneten der Fraktion „Mein Schritt, an der Abstimmung teilzunehmen.
Mehr noch, am Vorabend hatte man in armenischen Medien eine Kopie des Dokuments verbreitet, in dem nicht nur die Bildung einer trilateralen Kommission, sondern auch sogenannte Vereinbarungen Paschinjans und Alijews hinter den Kulissen über eine angebliche Übergabe einer Reihe armenischer Gebiete an Aserbaidschan vorgesehen werden. Und dies müsse man bis zum 20. Juni tun.
Danach bereiteten Aktivisten des sogenannten National-demokratischen Pols einen Appell an die Offiziellen der USA, Großbritanniens und Frankreichs mit der Bitte vor, zu helfen, die Grenzen Armeniens zu schützen. Der Chef der Konstruktiven Partei Armeniens Andrias Gukasjan rief die Bevölkerung des Landes auf, eine Aktion des zivilen Ungehorsams gegen die Unterzeichnung des Abkommens mit Aserbaidschan zu beginnen, das er als einen Schritt zur Aufgabe von Bergkarabach bezeichnet.
Der Parlamentsabgeordnete von „Leuchtendes Armenien“ Geworg Gorgisjan setzt Hoffnung auf Russland. Er sagt, dass Jerewan die militärische Zusammenarbeit mit Moskau vertiefen und ein russisches Militärkontingent im an der Grenze liegenden Gebiet Sjunik stationiert werden müsse.
Der Führer dieser Partei, Edmon Marukjan, ist der Auffassung, dass unter den Bedingungen einer ständigen Verstärkung der Truppen des Gegners auf dem armenischen Territorium die Wahlen zur Nationalversammlung abgesagt werden müssten. Ungeachtet der Erklärungen von Armeniens Verteidigungsministerium, wonach Baku seine Truppen zurückgezogen habe, meldete das Internetportal „Rhythmus Asiens“, dass in den letzten Tagen die aserbaidschanischen Kräfte in einzelnen Bereichen von Sjunik (Berg Mez Ischchanasar und Schwarzer See in der Richtung der Siedlungen Chosnavar und Gorissa) und Gegarkunik (in der Richtung der Dörfer Kut und Werin Schorsha) konsequent verstärkt worden seien. Laut Angaben des ehemaligen Chefs des Rates für nationale Sicherheit David Schachnasarjan habe der Gegner schwere Technik und Artillerie zum Schwarzen See verlegt. Gleichzeitig haben Baku und Ankara erneute gemeinsame Manöver durchgeführt, die Aktionen von Diversionsgruppen „für ein verdecktes Eindringen und die Organisierung eines Hinterhalts in der Tiefe der Verteidigung des angenommenen Gegners zu verschiedenen Tageszeiten, aber auch zur Einnahme eines Kommandopunktes und von militärischen Objekten“ einschlossen. Armenien antwortete mit taktischen Manövern von Einheiten, die an der Grenze zur Türkei und Aserbaidschan disloziert sind.
„Es ist nicht ausgeschlossen, dass Nikol Paschinjan selbst gezwungen sein wird, die Wahlen zu canceln. Und dann wird sich die Opposition über deren Absage empören. Die Sache ist die, dass die aserbaidschanischen Militärs mal kommen und mal wieder abziehen. Und wie sie sich zum verantwortungsvollsten Zeitpunkt verhalten werden, kann keiner sagen. Irgendwo werden sie ein wenig zurückgezogen, tauchen aber an einer anderen Stelle auf… Die Kandidaten nutzen die Situation aus und genieren sich nicht in ihren Ausdrücken“, sagte der „NG“ der Schriftsteller und politische Kommentator Aschot Gasasjan. Er betonte, dass weniger als Monat bis zu den Wahlen geblieben ist. Vorerst aber ist es schwer, eindeutig einen Favoriten zu nennen. Wahrscheinlich wird der Hauptkampf zwischen Paschinjan und der Partei „Zivilvertrag“ einerseits und Ex-Präsident Robert Kotscharjan mit den Parteien „Daschnakzutjun“ (Armenische Revolutionäre Föderation) und „Armenische Wiedergeburt“, die den Block „Armenien“ bildeten, andererseits, erfolgen. Ins Parlament wird traditionell auch die Partei „Blühendes Armenien“ von Gagik Zarukjan einziehen.
Auf solch ein Kräfteverhältnis wird sich wohl kaum der Umstand auswirken, dass sich noch nicht alle politischen Kräfte Armeniens mit ihrer Teilnahme an den Wahlen festgelegt haben — der letzte Tag für das Einreichen entsprechender Dokumente in der Zentralen Wahlkommission war der 26. Mai -, aber auch das, dass überraschenderweise auf dem politischen Feld der russische Milliardär Ara Abramjan aufgetaucht ist. Der unabhängige Journalist David Petrosjan sagte der „NG“: „Abramjan genießt keine besondere Popularität in Armenien. Überhaupt gibt es viel Unklares mit seiner (möglichen) Teilnahme an den Wahlen. Wenn er eine Doppelstaatsbürgerschaft hat, die Russlands und Armeniens, so hat er kein Recht, weder zu kandidieren noch eine Wahlkampagne zu finanzieren. Wenn er Staatsbürger nur Armeniens ist, so wird er allem Anschein nach nicht den Anforderungen der Mindestaufenthaltsdauer im Land entsprechen, da er im Verlauf der letzten fünf Jahren vor den Wahlen nicht ständig auf dem Territorium des Landes gelebt hat. Daher hat die Zentrale Wahlkommission in dieser Frage das letzte Wort zu sprechen“. Nach Meinung von Petrosjan sei die Teilnahme eines wohlhabenden Armeniers aus Russland an den Parlamentswahlen in Armenien ein äußerst unerwünschter Präzedenzfall für Moskau, da dies in der Perspektive den Weg für reiche Armenier aus anderen Ländern – aus den USA, Frankreich, der Ukraine u. a. – in die armenische Politik öffne. „Aber selbst wenn man Abramjan zu den Wahlen zulässt, ist es bei weitem keine Tatsache, dass die Wähler dieser Figur Sympathie entgegenbringen werden“, meint David Petrosjan.