Die weißrussischen Abgeordneten rufen die internationale Staatengemeinschaft auf, das Land vor dem äußeren Druck zu schützen. Sie behaupten, dass die Offiziellen zu einem Dialog bereit seien, „aber nicht zu einer Nötigung“. Die Erklärung wurde am Vorabend der Erörterung einer harten Resolution zu Weißrussland im Europaparlament und der Verhängung neuer Sanktionen angenommen.
„Wir rufen die internationale Gemeinschaft auf, gegen die unbegründete, kontraproduktive und diskriminierende Politik gegenüber der Republik Belarus aufzutreten, Solidarität mit unserem Land bei der Verteidigung des Rechts auf Souveränität und ein friedliches Leben zu demonstrieren und zu einem verantwortungsvollen und konstruktiven Zusammenwirken zum Wohle aller Länder und Völker, im Namen des Friedens, der Sicherheit und des Prosperierens zurückzukehren“, heißt es in dem am Donnerstag veröffentlichten Aufruf von Abgeordneten aller Ebenen und der Mitglieder des Republikrates der Volksversammlung „an die internationale Staatengemeinschaft im Zusammenhang mit der Situation um Belarus“.
Die Autoren des Appells behaupten, dass „unter dem Anschein eines Kampfes für demokratische Werte … ein aggressiver allseitiger Druck auf den souveränen Staat und seine Bürger und eine grobe Verletzung der Basisprinzipien des internationalen Rechts hinsichtlich einer Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten des Staates erfolgen“. „Eine ganze Reihe von Staaten fördert aktiv eine Destabilisierung der Lage in der Republik Belarus“, erklären sie. Die Sanktionen bewerten die Autoren des Appells als „beispiellose“ und „unbegründete“.
Die Abgeordneten bitten die internationale Gemeinschaft, unvoreingenommen auf die Situation in Weißrussland zu sehen, da die gegen die Republik verfolgte Politik zu einer Untergrabung des Wirtschaftspotenzials, einer Verlangsamung der Entwicklung, einer Kürzung der Sozialprogramme, Verringerung des Wohlergehens der Menschen, einer Zerstörung der souveränen weißrussischen Staatlichkeit und der Bildung einer Zone wirtschaftlicher, geopolitischer und sozialer Instabilität im unmittelbaren Zentrum Europas führe. „Wir sind zu einem Dialog bereit, aber nicht zu einer Nötigung, und wir erklären verantwortungsbewusst, dass jegliche Angriffe auf unser Recht, selbständig die Entwicklungswege der Republik Belarus zu gestalten, perspektivlos und kurzsichtig sind“, konstatieren die Autoren des Dokuments.
An konkret welche „internationale Gemeinschaft“ sich die weißrussischen Abgeordneten wenden, wird im Text nicht ausgewiesen. Nach Meinung der einheimischen Öffentlichkeit sei der Appell gerade an die Strukturen adressiert, die auch die Sanktionen verhängen. Ungeachtet der bravourösen Erklärungen, dass die Sanktionen die Wirtschaft des Landes nicht beeinflussen würden, würden die Offiziellen deren Verhängung fürchten, meinen einheimische Beobachter und führen als Beispiel die Situationen der vergangenen Jahre an, als man angesichts der Androhung von Sanktionen politische Häftlinge auf freien Fuß setzte. Allerdings betonen die Experten auch die Einmaligkeit der gegenwärtigen Situation. Während in früheren Zeiten nach der Androhung von Sanktionen eine Freilassung politischer Häftlinge erfolgte, und danach eine Liberalisierung und Erwärmung in den Beziehungen, so ist dieses Mal solch eine Situation unmöglich.
Die Ursache liegt nicht nur darin, dass die Anzahl der Repressalien ausgesetzten Menschen den 35.000 nahegekommen ist, und die der politischen Häftlinge – der Zahl 500, ohne diejenigen zu zählen, die bereits in Gefangenschaft sind, aber aufgrund verschiedener Umstände bisher noch nicht diesen Status erhalten haben. Alexander Lukaschenko habe die internationale Ebene des Terrorismus erreicht, sagen Experten und seine Opponenten. Und ihnen stimmt die „internationale Gemeinschaft“ zu. „Das Lukaschenko-Regime hat alle Grenzen überschritten und ist zu einer internationalen Bedrohung für den Frieden und die Sicherheit geworden“, erklärte am 9. Juni die Führerin der weißrussischen Protestierenden Swetlana Tichanowskaja in einem Online-Auftritt im Ausschuss des US-Senats für internationale Angelegenheiten. Als einen „Akt von Staatsterrorismus“ bezeichnen Abgeordnete des Europaparlaments die Handlungen der weißrussischen Offiziellen zur zwangsweisen Landung des Flugzeugs der irischen Fluggesellschaft Ryanair, in deren Ergebnis der Journalist und Blogger Roman Protasewitsch und seine Freundin Sophia Sapega verhaftet und in U-Haft genommen worden waren, im Entwurf ihrer Resolution.
Bei dem von den Euro-Abgeordneten vorbereiteten Resolutionsentwurf zu Weißrussland handelt es sich um ein vom Umfang her großangelegtes und vom Inhalt her hartes Dokument. In ihm werden die Verbrechen des weißrussischen Regimes dargelegt, beginnend ab den politischen Verfolgungen und bis hin zu dem Zwischenfall mit dem Ryanair-Jet. In dem Dokument werden die Repressalien gegen Studenten und Journalisten erwähnt, die Haftbedingungen in den Strafvollzugsanstalten, die zu Todesfällen und Krankheiten führen, das Ausreiseverbot, die Verfolgung der polnischen Minderheit und selbst das weißrussische Kernkraftwerk.
Um die Verbrechen zu stoppen, schlagen die europäischen Abgeordneten vor, die Sanktionen zu noch härteren zu machen, als die EU angekündigt hat. So ist bereits die Entscheidung über Luftfahrtsanktionen verabschiedet worden und soll in der kommenden Woche verkündet werden. Neben dem geltenden Verbot für Flüge nach und von Minsk werden Sanktionen gegen sieben Personen und ein Unternehmen verhängt. Am 21. Juni behandelt der Europarat das vierte Sanktionspaket, in dem noch über 50 weitere Personen und eine Reihe von Unternehmen ausgewiesen werden, und wird danach sektorale Sanktionen in Angriff nehmen.
Zusätzlich dazu schlagen die Europa-Abgeordneten vor, Weißrussland vom System SWIFT abzukoppeln, und rufen zu Sanktionen in Bezug auf Rohöl und Erdölprodukten auf, die sektoralen Sanktionen nicht auf die Kali-Industrie und Petrolchemie zu beschränken, auch die Stahl- und Holzverarbeitungsindustrie einzubeziehen, Weißrussland von der Olympiade in Tokio auszuschließen, dem weißrussischen Staatsfernsehen die Übertragungsrechte für die Spiele der UEFA-Europameisterschaft Euro-2020 zu entziehen und dem Fernsehkanal „Belsat“ solch eine Möglichkeit zu geben.
Erwähnt wird in dem Dokument auch Russland. Vorgeschlagen wird, die mögliche Beteiligung Russlands an den Zwischenfall mit dem Ryanair-Flieger zu prüfen. Und wenn sie bestätigt wird, Sanktionen gegen die Beteiligten zu verhängen. Außerdem lösen bei den Euro-Abgeordneten die finanzielle Unterstützung für das Lukaschenko-Regime durch Russland und die „enge Zusammenarbeit der Geheimdienste“ „tiefe Besorgnis“ aus.
Die Erklärung der weißrussischen Abgeordneten, wonach man in Minsk zu einem Dialog bereit sei, sind die Experten geneigt, als eine Sondierung des Bodens bezüglich einer Abschwächung der Position des Westens anzusehen, die sich nach dem Zwischenfall mit dem Flugzeug als eine ungewöhnlich schnelle und harte erwiesen hat. Außerdem kursieren Gerüchte, dass man denjenigen hartnäckig anträgt, die sich aufgrund politisch motivierter Anklagen in Haft befinden (wobei sowohl jenen, die verurteilt worden sind, als auch jenen, die in der Haft auf ihren Prozess warten), ein Begnadigungsgesuch zu schreiben.
Am 3. Juli wird in Weißrussland der Unabhängigkeitstag begangen. Traditionell amnestiert der Präsident zu diesem Tag Häftlinge. Wahrscheinlich ist vorgesehen, jene freizulassen, die bereit sind, Buße zu bekunden, um auf freien Fuß zu kommen. Dies kann man als eine Lockerung der Situation und Bereitschaft zu Zugeständnissen ausgeben. Wobei nach Meinung von Experten die Herrschenden diese Idee sowohl an Russland als auch an den Westen sowie an das Inlandspublikum „verkaufen“ könnten.
„Gesetzt wird auf einen innenpolitischen Gewinn. Die Staatspropaganda wird zu 200 Prozent die großzügige Geste des „Gewinners“ mit einem massiven Akzentuieren auf die Gesuche als Zeugnis für ein Bereuen und Eingestehen der Schuld ausschlachten. Gesetzt werden wird auf den Kreml, dem man ein „ernsthaftes Argument“ zur Verteidigung des offiziellen Minsk in der internationalen Arena unterjubelt“, schreibt aus diesem Anlass der Ex-Diplomat Igor Lestschenja in seinem Telegram-Kanal. Dabei ist der Experte der Annahme, dass der Westen sich durch diese Erklärungen nicht kaufen lassen werde. „Die Situation mit den Sanktionen ist nach der Geschichte mit Ryanair schon zu weit gegangen… Alles läuft darauf hinaus, dass das am 21. Juni anstehende Treffen der Außenminister der EU-Länder durch die Annahme des ernsthaftesten Sanktionspaketes in der mehr als 20 Jahre währenden Geschichte des Existierens der gegenwärtigen Herrschenden unter den Bedingungen verschiedener äußerer Restriktionen bestimmt wird“, resümiert Lestschenja.