Armenien bereitet sich auf vorgezogene Parlamentswahlen vor. Die Abstimmung erfolgt bereits am kommenden Sonntag, am 20. Juni statt. Und man kann schon sagen, dass im Land ein absoluter Rekord hinsichtlich der Anzahl der politischen Kräfte aufgestellt wurde, die bereit sind, um die Sitze im Parlament zu kämpfen, und weiter, wenn die Menschen irgendwem von ihnen mehr vertrauen, ihren Premierminister zu wählen und eine neue Regierung zu bilden. Dieses Ziel streben heute 26 politische Kräfte – 22 Parteien und vier Blöcke – an. Die Frist für das Einreichen der Anträge und Parteilisten in der Zentralen Wahlkommission ist abgelaufen. Und Wahlkampagne startete am 7. Juni, im Grunde genommen zu einem Sprint. Dies ist aber das Reglement. Faktisch jedoch hat der Kampf der Anwärter um die Parlamentssitze erheblich früher begonnen.
Zum Anlass für das Anberaumen vorgezogener Parlamentswahlen wurde die Niederlage Armeniens im Bergkarabach-Krieg im vergangenen Herbst. Viele vertraten in der armenischen Gesellschaft die Auffassung, dass dies zu einer Folge der Inkompetenz und gar wohl eines direkten Verrats der nationalen Interessen des Landes durch die amtierende Regierung und persönlich durch Premierminister Nikol Paschinjan geworden war. Ab dem Tag der Unterzeichnung einer trilateralen Erklärung über die Einstellung der Kampfhandlungen in Bergkarabach zusammen mit den Präsidenten Aserbaidschans und Russlands (dies war am 9. November letzten Jahres) haben in Armenien gegen die Regierung gerichtete Protestaktionen begonnen, an denen zehntausende Menschen teilgenommen haben. Und obgleich die Menschen begriffen haben, dass gegen die Aggression Aserbaidschans mit Unterstützung der Türkei und mehreren tausend Söldnern aus dem Nahen Osten die Armenier keine Chancen hatten, waren sie darüber empört, dass die Offiziellen einen großangelegten Krieg zugelassen hatten und es dabei zugelassen hatten, ihn schändlich zu verlieren. Über 5.000 Menschen sind ums Leben gekommen, über 10.000 erlitten Verwundungen, zehntausende Menschen wurden obdachlos. Und ein erheblicher Teil der nichtanerkannten Republik Bergkarabach gelangte unter die Kontrolle Aserbaidschans. Derzeit bewahren dort russische Friedenstruppen einen fragilen Frieden, die sofort nach der Unterzeichnung der erwähnten Erklärung in die Zone der Kampfhandlungen verlegt wurden.
Gerade die Niederlage in dem Krieg, der Druck der Straßen und die großen Protestaktionen haben die Offiziellen Armeniens auch zur Entscheidung bewegt, vorgezogene Parlamentswahlen abzuhalten.
Derweil äußern viele Analytiker die vorsichtige Befürchtung, dass die Wahlen überhaupt nicht stattfinden könnten. Solch ein Verlauf der Ereignisse ist möglich, wenn im Land der Ausnahme- oder Kriegszustand verhängt wird, der die Abhaltung von Wahlen jeglicher Ebene ausschließt. Wohl keiner im Land kann heute sagen, womit der armenisch-aserbaidschanische Grenzkonflikt an einer Reihe von Abschnitten der Grenze enden wird. Seit 12. Mai haben aserbaidschanische Militärs die Grenze in verschiedenen Richtungen überschritten und sind von mehreren hundert Metern bis zu vier Kilometer tief auf das Territorium Armeniens vorgedrungen und schicken sich nicht an, von dort wieder abzuziehen. Ungeachtet der Appelle von Ländern Europas, der USA und internationaler Organisationen. Russland und die Organisation des kollektiven Sicherheitsvertrages, an die sich Armenien offiziell zwecks Unterstützung bei der Klärung der Situation gewandt hat, sind vorerst bei Konsultationen und Verhandlungen. Dieser Tage wurde an einem Grenzabschnitt ein armenischer Vertragssoldat erschossen, sechs Militärs wurden gefangengenommen. Und über deren Schicksal war bis zum 12 Juni nichts bekannt. Die Situation ist eine explosionsgefährliche. Keiner kann sagen, wie lange sie anhalten wird und sind Provokationen ausgeschlossen, nach denen ein neuer Krieg…
Wie dem auch sei, das Land bereitet sich auf die Wahlen vor. Von der Rekordzahl der Anwärter auf die Parlamentssitze können real maximal fünf bis sechs politische Kräfte in das höchste gesetzgebende Organ des Landes einziehen. Die überwältigende Mehrheit der Analytiker nennt unter den Hauptkonkurrenten die Partei von Nikol Paschinjan „Zivilvertrag“ und den Block „Armenien“, den der zweite Präsident der Republik Robert Kotscherjan anführt. Gerade an sie wird auch, wie die Experten meinen, der Großteil der Mandate fallen werden.
Nach Meinung des politischen Analytikers Manwel Gumaschjan werden außer diesen beiden Kräften die Sperrklausel die Partei „Blühendes Armenien“ von Gagik Zarukjan und der Armenische Nationalkongress, der vom ersten Präsidenten Levon Ter-Petrosjan angeführt wird, überwinden können.
„Neben ihnen kann man unter den politischen Kräften, die einige Chancen haben, ins Parlament einzuziehen, den Block „Ich habe die Ehre“ hervorheben, in dem sich die ehemalige regierende Republikanische Partei und die Partei „Vaterland“, die durch den ehemaligen Leiter des Nationalen Sicherheitsdienstes des Landes Artur Vanetsjan gegründet wurde, vereinigten, aber auch den Block „Schirinjan- Babadschanjan“ und die Partei „Republik“, nimmt Gumaschjan an. Wenn man noch den Veröffentlichungen in den Medien, aber auch den Umfragen, die man schwerlich als repräsentative ansehen kann, folgt, so sind die Hauptkontrahenten bei den Wahlen die regierende Partei „Zivilvertrag“ Paschinjans und der Block „Armenien“ Kotscharjans, wobei Paschinjan zum heutigen Tage eine gewisse Überlegenheit besitzt“.
Dabei muss gesagt werden, dass Robert Kotscharjan praktisch einen überwältigenden Sieg nicht anzweifelt. Und Paschinjan selbst erklärte dieser Tage buchstäblich, dass die von ihm angeführte Kraft 60 Prozent der Stimmen erhalten werde. Natürlich, man kann nichts ausschließen. Es scheint aber, dass beide Politiker übertreiben. Wenn man alle Straßenumfragen ins Kalkül zieht und die Prognosen von Journalistenkollegen und Analytikern im Blick hat, kann Paschinjan doch mit 25 bis 30 Prozent rechnen, mit 20 Prozent – Robert Kotscharjan. Obgleich wiederholt sei, Sensationen sind möglich.
„Der prinzipielle Unterschied der jetzigen Wahlen zu allen vorangegangenen, die natürlich unter Bedingungen eines harten Kampfes erfolgten, besteht darin, dass die nunmehrigen nicht in den Bahnen einer politischen Konkurrenz, sondern einer existenziellen Feindschaft zwischen den beiden genannten Kräften erfolgen, in deren Ergebnis der Sieger mit großer Wahrscheinlichkeit alles erhalten wird, der Verlierer aber im besten Fall – den politischen Tod“, ist sich Manwel Gumaschjan sicher.
Nach seiner Ansicht könne man Urteile hinsichtlich des realen politischen Kräfteverhältnisses in Armenien anhand sekundärer, indirekter Merkmale anstellen. So ist er beispielsweise der Auffassung, dass der Kotscharjan-Block bisher unzureichend Kräfte für einen bedingungslosen Sieg habe. Es sei aber auch offenkundig, dass auch das Rating von Paschinjan und „Zivilvertrag“ nicht nur nach dem Krieg gefallen sei, sondern weiter falle, besonders nach den jüngsten armenisch-aserbaidschanischen Zusammenstößen bereits auf dem Territorium Armeniens.
Auf die Frage, ob der Popularitätsverlust von Paschinjan einen automatischen Anstieg des Kotscharjan-Ratings bedeute, antwortete Gumaschjan auf folgende Art und Weise: „Es scheint, nein, da sich deren Elektorate wesentlich unterscheiden. Die Wählerschaft von „Zivilvertrag“, selbst der von ihr abgegangene Teil akzeptiert im Großen und Ganzen nicht den zweiten Präsidenten und wird wahrscheinlich entweder nicht an den Wahlen teilnehmen oder für die Kräfte abstimmen gehen, die ihre Widersprüche und Differenzen nicht nur mit Paschinjan, sondern auch mit Kotscharjan signalisieren. Dies sind unter anderem die bereits genannten politischen Kräfte Armenischer Nationalkongress, der Block „Schirinjan-Babadschanjan“ und die Partei „Republik“. Vielleicht kann man ihnen auch die dritte Kraft im gegenwärtigen Parlament, die Partei „Leuchtendes Armenien“ von Edmon Marukjan, hinzufügen.
Nach Auffassung von Gumaschjan habe der mangelnde Massencharakter der Begegnungen unter freiem Himmel unter Beteiligung des zweiten Präsidenten dazu geführt, dass seine politische Aktivität heute einen kammerartigen, einen bescheidenen Charakter trägt, wobei er sich vor allem auf Treffen mit Anhängern in geschlossenen Räumlichkeiten beschränkt. „Dennoch muss der Gerechtigkeit halber gesagt werden, dass man endgültige Schlussfolgerungen erst nach dem offiziellen Beginn des Wahlkampfes ziehen kann, wenn der Massencharakter der Meetings unter freiem Himmel als ein ernsthafter Parameter für die Unterstützung des einen oder anderen Kandidaten durch die Gesellschaft angesehen wird. Hierbei gibt es natürlich gewisse Einschränkungen, die unter anderem mit der sogenannten administrativen Ressource zusammenhängen. Jetzt sprechen wir jedoch von einer öffentlichen Unterstützung für Kotscharjan“.
Bezüglich der Chancen der anderen politischen Kräfte ist der Experte der Meinung, dass auch der Armenische Nationalkongress unter Führung von Levon Ter-Petrosjan Chancen habe, ins Parlament zu gelangen. Gerade sie könnten nach seiner Meinung eine Anti-Paschinjan-Opposition bilden, was sowohl für das Elektorat des Armenischen Nationalkongresses, dessen Großteil von Paschinjan enttäuschte Wähler ausmachen, als auch für die ins Parlament einziehenden und nicht mit Robert Kotscharjan liierten oppositionellen Kräften akzeptabel sei.
Das Gesagte verallgemeinernd, vermutete Manwel Gumaschjan, dass der Ausgang der Parlamentswahlen wohl solch ein Ergebnis bescheren werde: „Zivilvertrag“ bekomme etwa 30 bis 35 Prozent der Wählerstimme. Als Trittbrettfahrer mit ihr würde die Partei „Blühendes Armenien“ 10 bis 15 Prozent der Stimmen erhalten. Etwa genauso viele könnten der Armenische Nationalkongress und der Block „Armenien“ von Robert Kotscharjan bekommen. Die Ratings der übrigen politischen Kräfte würden unterhalb der Sperrklausel von 5 Prozent für Parteien und 7 Prozent für Blöcke oder noch weit darunter liegen. Wie die realen Zahlen am 20. Juni in der gegenwärtigen instabilen Situation aussehen werden, wird nach Schließung der Wahllokale und Auszählung der Stimmen deutlich werden.