Der Kongress des Karatschaier-Volkes hat sich am 14. Juni in einer Publikation auf seiner Internetseite darüber beklagt, dass die Offiziellen der russischen Teilrepublik Karatschai-Tscherkessien planen würden, Druck auf diese gesellschaftliche Organisation auszuüben. Laut der Version der Aktivisten sei die Regionalverwaltung über sie aufgrund eines kürzlichen Appells an Patriarch Kirill mit der Bitte, den Erzbischof von Pjatigorsk und Tscherkessien Theophylakt (Kurjanow) abzusetzen, wütend geworden. Nach Meinung der gesellschaftlichen Aktivisten erhebe die Diözese der Russischen orthodoxen Kirche Anspruch auf die Alanen-Gotteshäuser aus dem 10. Jahrhundert, die sich auf dem Territorium der Republik befinden. Dies sind die ältesten christlichen Architekturdenkmäler in Russland.
Die einheimischen Völker betrachten sich neben den Osseten als die Erben des mittelalterlichen Alaniens, zu dessen Zeiten mehrere Kirchen im Selentschukskaja-Kreis und auf dem Berg Schoana errichtet worden waren. Nach ihrer Meinung könne die konfessionelle Zugehörigkeit der Denkmäler nicht als christlich orthodoxe bestimmt werden, da die Gotteshäuser der historischen Diözese Alanien im Nordkaukasus noch vor der Spaltung des Christentums in das westliche und das östliche entstanden sind. Die tscherkessischen gesellschaftlichen Aktivisten protestieren seit mehreren Jahren gegen das Vorgehen der Diözese, wenden sich mit Klagen an die Rechtsschutzorgane und haben dieses Mal beschlossen, dem Oberhaupt der Russischen orthodoxen Kirche zu schreiben. Gleichzeitig mit dem Schreiben an den Patriarchen wurde auf der Internetseite ein Gesuch an Russlands Generalstaatsanwalt Igor Krasnow veröffentlicht.
Dieses Mal hat eine Liturgie die Empörung der Aktivisten ausgelöst, die Erzbischof Theophylakt am 6. Mai, am Tag des Gedenkens an den Heiligen Georg, in der Kirche auf dem Berg Schoana unweit der Kosta-Chetagurow-Siedlung zelebriert hatte. Die tscherkessischen „Ältesten“ empörte, dass an der Veranstaltung Kosaken, Mitglieder der ossetischen Gemeinde und Militärs teilgenommen hatten, aber mit Vertretern der einheimischen Völkerschaften waren der Gottesdienst und die Wallfahrt der Gläubigen nicht abgestimmt worden. Die Tscherkessen sind auch noch darüber ungehalten, dass der Held des kaukasischen Narten-Epos Uastyrdzhi (ein Gott in der ossetischen Mythologie, der als Schutzherr der Männer gilt – Anmerkung der Redaktion) in der Russischen orthodoxen Kirche mit dem christlichen Heiligen Georg gleichgestellt wird. Diesem Heiligen hatte der orthodoxe Klerus die Schoana-Kirche geweiht. Nach Meinung der Einheimischen habe der mythische Held Uastyrdzhi, der seine Taten auf dem dreibeinigen Pferd Avsurg vollbringt, einen ausschließlich heidnischen Ursprung.
Wendet man sich an das „Mythologische Wörterbuch“, das 1991 durch ein Redaktionskollegium unter Beteiligung solcher allgemein anerkannten Spezialisten der Philologie wie Jeleasar Meletinskij, Sergej Awerinzew und Asa Tacho-Godi vorbereitet wurde, so gibt es da doch eine Erwähnung über die Gleichsetzung von Uastyrdzhi mit dem Heiligen Georg. Andererseits wird in dem Wörterbuch dieser Held des Narten-Epos als „Himmelsbewohner, Vater des Satans und ossetischer Kriegsgott bezeichnet.
Nach Meinung der Autoren des Schreibens an Patriarch Kirill hülle der Erzbischof Pjatigorsk „diese Gottesdienste ideologisch in zwischennationale und interkonfessionelle Auseinandersetzungen ein“. „All dies ist ein Boden für Unterstellungen und Provokationen, die das Schüren von zwischennationalem Zwist in einer der Regionen des Landes, nicht nur der Republik Karatschai-Tscherkessien, sondern auch des gesamten Territoriums des Nordkaukasischen Föderalen Bezirks, die die meisten Völker und Völkerschaften und die meisten Konfessionen beheimaten, fördern, da sich als die Nachfahren der mittelalterlichen Alanen nicht nur das Volk der Karatschaier und Balkaren, sondern auch dutzende andere Völker des Kaukasus ansehen“, schreiben die gesellschaftlichen Aktivisten.
„Die Gemeinde, die aus einheimischen Osseten besteht (3142 Menschen mit Stand von 2010), lebt bereits eine lange Zeit vorrangig im Kreis Karatschajewsk. Aber in dieser Zeit wurden keine Versuche unternommen, ein eigenes christlich orthodoxes Gebetshaus oder eine Kirche zu errichten, in dem bzw. der sie Gottesdienste durchführen könnten, wobei sie die alten Gotteshäuser der Republik, die aus der vororthodoxen Epoche stammen, keinem Verschleiß und keiner Zerstörung aussetzen und umso mehr deren authentisches altes Aussehen durch klobige Anbauten heidnischer Symbole verändern“, heißt es gleichfalls in dem Schreiben. In der Republik Karatschai-Tscherkessien gibt es eine ausreichende Anzahl von Kirchen (über 37). Und in der Hauptstadt der Republik hat man unmittelbar im Stadtzentrum unter Beteiligung von Vertretern aller Völker der Republik Karatschai-Tscherkessien die von den Ausmaßen her gewaltige Kathedrale für Nikolaus den Wundertäter errichtet. Jedoch muss leider angemerkt werden, dass sie die meiste Zeit aufgrund des Ausbleibens von Gemeindemitgliedern, die sie systematisch besuchen würden, leer steht“. „Wir bitten Sie, die Öffentlichkeit der Republik Karatschai-Tscherkessien von diesem Provokateur zu befreien – ihn von der Wahrnehmung der hohen Pflichten eines Erzbischofs auf dem Territorium der Republik Karatschai-Tscherkessien zu entbinden“, schreiben die Autoren des Appells über Erzbischof Theophylakt.
Wenn Patriarch Kirill die Forderungen der Autoren des Schreibens nicht erfülle, würden sie beabsichtigen, bei Präsident Wladimir Putin und dem Patriarchen von Konstantinopel Bartholomäus I. nach der Wahrheit suchen. Den Appell unterschrieben die Spitzenvertreter des Verbands der Repressalien ausgesetzten Völker Russlands, des Kongresses des Volkes der Karatschaier, des Ältestenrates der Regionalen gesellschaftlichen Organisation von Karatschai-Tscherkessien „Karatschai Alan Chalk“ und anderer NGOs.
Als Antwort auf die Bitte, die Situation zu kommentieren, sandte der Pressesekretär der Diözese von Pjatigorsk und Tscherkession, Oberpriester Michail Samochin, folgendes Schreiben an die Redaktion der „NG“-Beilage „NG Religionen“: „Der Klerus und die Gläubigen befinden sich in der Schoana-Kirche als Pilger und zelebrieren als solche Gottesdienste dort. Dabei werden eine Massenwallfahrt und ein Gottesdienst auf der Grundlage der geltenden Gesetzgebung vorab mit der staatlichen Einrichtung abgestimmt, die diese Kirche im Namen des Eigners operativ verwaltet. Ein Gottesdienst wird nur nach Erhalt einer Zustimmung vollzogen. Wir danken der Leitung der Republik und den Vertretern der Museumsgemeinschaft für die achtende Aufmerksamkeit gegenüber den Pilgern und den Bitten der Gläubigen“.
Samochin teilte ebenfalls mit, dass in der Kosta-Chetagurow-Siedlung eine ständig wirkende christlich orthodoxe Gemeinde existiere. Somit wies er die Behauptungen der Opponenten zurück, dass es in der Umgebung des Berges Schoana keine ständigen Gläubigen der Russischen orthodoxen Kirche gebe.
Der Vertreter der Diözese präzisierte, mit welchen staatlichen Einrichtungen konkret die Gottesdienste in den Geschichtsdenkmälern abgestimmt werden: „Bis 2018 war dies die Republikanische staatliche Haushaltseinrichtung „Staatliches karatschai-tscherkessisches M.-O.-Baitschorowa-Geschichts- und Kultur- sowie Natur-Freilichtmuseum“, seit 2018 – die Karatschai-tscherkessische republikanische Haushaltseinrichtung „Alanisches christliches Zentrum im Nordkaukasus“.
Das „Alanische christliche Zentrum“, von dem Samochin spricht, ist ein einzelner Reizfaktor für den Kongress des Karatschaier-Volkes. Das Zentrum wurde im März 2018 auf Anweisung des Oberhauptes der Republik Karatschai-Tscherkessien Raschid Temresow gerade für die Verwaltung der fünf mittelalterlichen alanischen Kirchen, darunter der Schoana-Kirche, gebildet. Die neue Organisation war aus dem Bestand des M.-O.-Baitschorowa-Freilichtmuseums herausgelöst worden. Und gerade diese Handlungen der Führung der Republik hatten im Sommer des gleichen Jahres die Empörung der gesellschaftlichen Aktivisten der Karatschaier ausgelöst. Der Kongress schrieb Kulturminister Wladimir Medinskij. Die Aktivisten lenkten die Aufmerksamkeit des damaligen Ministers darauf, dass die alten Denkmäler aus der föderalen Unterstellung in die republikanische übergehen würden. „Besorgnis löst die Tatsache aus, dass die Führung von Karatschai-Tscherkessien die Struktur des Freilichtmuseums durch eine Überführung der oben ausgewiesenen Objekte in den Haushalt der Republik Karatschai-Tscherkessien zerstörte“.
Ungeachtet dessen, dass derartige Streitigkeiten bereits mehr als ein Jahr andauern, erschließt sich die Diözese von Pjatigorsk und Tscherkessien weiter alte Denkmäler. Scheinbar sieht man in der Moskauer Kirchenführung nicht das Problem, wobei man die Protestierenden als eine „marginale Gruppierung“ bezeichnet. Der stellvertretende Leiter der Wirtschaftsverwaltung des Moskauer Patriarchats, Bischof Sawwa (Tutunow), ist beispielsweise der Auffassung, dass Erzbischof Theophylakt „durch seine Involviertheit in das Leben der Diözese und der Region, durch seinen – in der profanen Sprache gesprochen: guten Kontakt mit dem Klerus in Sonderheit und den Menschen insgesamt ein ausgezeichnetes Beispiel eines russischen orthodoxen Erzpriesters in der Kaukasus-Region darstellt“. „Natürlich, das Vorhandensein solch eines Erzpriesters ist ganz und gar denjenigen nicht von Vorteil, die – sowohl in Russland als auch im Ausland – an einer Nivellierung einer starken Präsenz Russlands im Kaukasus interessiert sind“, schrieb Tutunow in seinem Telegram-Kanal.
„Bis Mitte der Null-Jahre bedeutete eine Bekehrung zur Orthodoxie de facto eine Russifizierung“, erläuterte der „NG“ der stellvertretende Direktor des Europa-Instituts der Russischen Akademie der Wissenschaften, Roman Lunkin. „Die Änderung der Haltung zu den nationalen Sprachen und Traditionen im Kirchenleben begann, sich in den letzten 10-15 Jahren zu vollziehen, darunter unter dem Einfluss des Erfolgs der Protestanten unter den indigenen Völkern Russlands. Während in den 1990ern und zu Beginn der 2000er Jahre die orthodoxen Missionäre direkt mit den örtlichen Religionen wie mit dem Heidentum in Jakutien oder den Schamanen in Burjatien in einen Konflikt gerieten, so sind die Probleme heutzutage andere. Und die Situation in Nordossetien und in der Republik Karatschai-Tscherkessien zeigen dies auffällig“. „Die Russische orthodoxe Kirche hat begonnen, wobei sie offiziell eine Missionierung unter anderen Völkern nicht anerkennt, diese mit einer Übersetzung des Gottesdienstes, mit einer Weihe von Priestern aus den Reihen der Einheimischen sowie der Vereinnahmung heiliger Stätten und Helden eines Epos wie in Ossetien durch die Orthodoxie vorzunehmen. Erzbischof Theophylakt hat Kontakte der Diözese mit Kosaken-Stanizen angebahnt und ist der Annahme, dass die Kirche eine große Rolle in der Gesellschaft spielen muss. Jedoch erfreut dies nicht alle. Die Ältesten haben sich über die Gottesdienste in den Kirchen von Archys (Region in Karatschai-Tscherkessien – Anmerkung der Redaktion) empört, und die ossetischen Heiden – über den Bau einer Kapelle in einem heiligen Wäldchen“, berichtete Lunkin.
Der Politologe Alexej Malaschenko hält das Geschehen in Karatschai-Tscherkessien für Erscheinungen „fehlenden Taktgefühls und eines Unterschätzens der kulturellen Mannigfaltigkeit und gleichzeitig des Empfindens ihrer Überlegenheit, der Führungsrolle im religiösen Leben des Landes“ seitens der Russischen orthodoxen Kirche. „Aus dem Nichts wird die ethnische und kulturelle Harmonie zerstört, wobei in einer Region, wo die Situation in dieser Hinsicht die bei weitem nicht einfachste ist. Dies ist ein Fehler, den man in der Patriarchie nie anerkennen wird – und erneut aufgrund der Empfindung einer zweifellosen Führungsrolle“, sagte der Experte gegenüber der „NG“.
Das fehlende Taktgefühl des Moskauer Patriarchats erscheint bisher kein fatales zu sein. Die Erfahrungen vom Ende des 20. Jahrhunderts zeigen jedoch, zu welchen politischen Folgen angetastete nationale Gefühle führen. Es sei daran erinnert, dass die Erschütterungen der 1980er Jahre oft mit Protesten eines Häufchens von Aktivisten begannen, die auf einmal beschlossen hatten, sich für einen heiligen Wald oder alte Kurgane (Hügelgräber) einzusetzen. Das lange Ignorieren der nationalen Bewegungen führte lediglich zu einem Ausufern und zu einer Vertiefung des Konflikts. Aber dann ist es schon nicht mehr möglich, die Probleme mit einem Schlag zu lösen. Selbst wenn du es verstanden hast, das dreibeinige Pferd Avsurg zu bändigen.