„Nord Stream 2“ hat durch den Markt Unterstützung bekommen. Obgleich „Gazprom“ mit einem Rekordtempo Gas nach Europa liefert, ist auf dem Kontinent eine geringe Auslastung der Untergrundgasspeicher zu beobachten. Und die Preise kletterten auf Rekordwerte. Weder das amerikanische verflüssigte Erdgas (LNG), noch das aus Qatar und selbst das aus Russland retten nicht die Situation, da die Tanker nach wie vor gen Asien unterwegs sind, wo die Preise höher sind. „Gazprom“ deutet an, dass nur „Nord Stream 2“ die Situation beheben werde, wenn die Pipeline im Herbst erfolgreich fertiggebaut werden wird, meinen Experten.
In Europa ist es bis Ende Juni gelungen, von den mehr als 66 Milliarden Kubikmeter Gas, die aus den Untergrundgasspeichern laut Angaben von Gas Infrastructure Europe während der Herbst-Winter-Saison 2020/2021 ausgespeichert wurden, nur 18 Milliarden Kubikmeter aufs Neue einzuspeichern, das heißt nur ein Viertel, meldete „Gazprom“ am Donnerstag.
Zuvor hatte der Konzern betont, dass der geringe Umfang der Reserven zu einem der Faktoren für den Anstieg der Gaspreise auf dem europäischen Markt geworden sei. In der EU wurde der Donnerstag zum siebten Handelstag in Folge, an dem der Preis für 1000 Kubikmeter über der 400-Dollar-Marke lag und sich damit bei einem Maximus seit dreizehn Jahre befand. Seit Jahresbeginn sind die Spotpreise für Gas in Europa beinahe um das 2fache angestiegen. Und hinsichtlich der geringsten Preise vom Vorjahr – praktisch um das 10fache. Ende Juni hat „Gazprom“ sogar seine Prognose für den mittleren Exportpreis für Gas in Europa im laufenden Jahr bis auf 240 Dollar angehoben, obgleich ursprünglich im Haushalt 170 Dollar zugrunde gelegt worden waren. Aber bereits im ersten Quartal betrug der mittlere Verkaufspreis für Gas bei „Gazprom“ für das ferne Ausland 193,9 Dollar (je 1000 Kubikmeter).
Traditionell gleicht Europa seinen Verbrauch durch Importe aus. Wobei neben den Gaseinkäufen aus der Russischen Föderation über Pipelines der zweite Hauptteil des Imports LNG aus Ländern des Nahen Ostens und in der letzten Zeit aus den USA ausmacht. LNG ist von vornherein teurer als Pipeline-Gas. Und durch den starken Aufschwung der Wirtschaft Chinas und anderer Länder Asiens hat die Nachfrage in diesem Teil der Erde die Preise bis auf 450 Dollar in Bezug auf die August-Futures hochgetrieben. Die LNG-Lieferungen nach Europa sind im Juni um 20 Prozent eingebrochen. Die asiatischen Länder kaufen aktiv LNG ein, um eine Wiederholung der drastischen Preissprünge zu vermeiden, wie dies im vergangenen Winter der Fall gewesen war, betonte Sarah Behbehani, Geschäftsführerin der BEnergy Solutions DMCC in Dubai.
Die Einspeicherung von Gas in die Untergrundspeicher befindet sich auf einem geringen Stand, was bereits keine Zweifel dahingehend aufkommen lässt, dass Europa mit halbleeren Untergrundgasspeichern in den neuen Winter kommen wird, schreiben Analytiker der russischen Nachrichtenagentur Interfax. In Europa bezeichnet man die Situation als eine krisenhafte und versucht, die Schuld „Gazprom“ zuzuschieben, wobei man unterstreicht, dass sich der Konzern weigere, von der Ukraine zusätzliche Möglichkeiten für das Durchpumpen von Brennstoff bei den Auktionen, die Kiew seit dem Frühjahr durchführt, zu erwerben. Der letzte derartige Fall ereignete sich am Dienstag, als „Gazprom“ ein weiteres Mal die Möglichkeit ignorierte, den Transit durch die Ukraine um 63,7 Millionen Kubikmeter im Juli aufzustocken. „Gazprom“ hat für das laufende Jahr langfristig ukrainische Kapazitäten im Umfang von 40 Milliarden Kubikmeter gebucht. Dies sind 109 Millionen Kubikmeter am Tag. Im Juni hatte „Gazprom“ aber im Durchschnitt 124 Millionen Kubikmeter täglich durch die Ukraine gepumpt, womit der Konzern vollkommen den gebuchten Transitumfang ausgeschöpft hat.
„Gazprom“ vermeidet in den letzten Monaten bewusst eine Zunahme der Transit-Gaslieferungen durch die Ukraine, meint man im Moskauer Investitionsunternehmen „Finam“. Die Sache ist die, dass diese Route die teuerste für den Gasgiganten ist. 31,7 Dollar für 1000 Kubikmeter. Und die zusätzlichen Kapazitäten sind noch um 20 Prozent teurer. Außerdem zahlt „Gazprom“ im Unterschied zu den meisten anderen Gaspipelines im Falle des Transits durch die Ukraine nicht an die eigenen Tochterunternehmen, sondern an den Betreiber das Gastransportsystems der Ukraine, erläutert man in dem Investitionsunternehmen.
Die Situation hängt in erster Linie damit zusammen, dass der Gasverbrauch unerwartet schneller als geplant sowohl in Europa als auch in Asien zugenommen hat, sagte der „NG“ Sergej Prawosudow, Direktor des Instituts für nationale Energiewirtschaft. „Russland und Norwegen verstärken die Lieferungen. Sie können dies aber nicht endlos lange tun. „Gazprom“ hat seit Jahresbeginn solch ein Tempo des Exports nach Europa erreicht, dass, wenn es gewahrt wird, der Konzern zum Jahresende einen neuen Rekord aufstellen kann, indem er rund 200 Milliarden Kubikmeter liefert“, sagt Prawosudow.
Der Experte betont, dass sich auch Russland selbst auf die nächste Heizsaison vorbereiten müsse. „Der Winter war nicht nur in Europa, sondern auch bei uns ein kalter. Es wurden große Mengen aus den Speichern ausgespeichert. Und jetzt muss „Gazprom“ in erster Linie sie auffüllen“.
Prawosudow ist der Auffassung, dass es keine Probleme mit dem Auffüllen der europäischen Speicher geben werde. „Erstens muss man sie nicht zu 100 Prozent auffüllen. Zweitens ist noch Zeit. Üblicherweise wird das Programm für das Auffüllen der Speicher Ende Oktober erfüllt. Möglicherweise wird die Frist in diesem Jahr verschoben, doch im Verlauf des Novembers können die Speicher aufgefüllt sein“, sagt der Experte. „Derzeit ist die Hauptfrage der Preis, der den Europäern natürlich nicht gefällt. „Gazprom“ erfüllt aber erstens vollkommen die Vertragspflichten, darunter mit der Ukraine bezüglich der Durchpumpmengen. Und zweitens gefällt ihm auch nicht, dass die Kosten für den Transit der Mengen über diese Vereinbarungen hinaus die üblichen um 30 bis 50 Prozent übersteigen“.
„Gazprom“ beeile sich nicht, den Export zu steigern, solange „Nord Stream 2“ nicht in Betrieb genommen worden ist, sagte der „NG“ Sergej Kaufman der Analytiker des Unternehmens „Finam“. „Die einzige Möglichkeit für ein signifikantes Wachstum des Exports ist jetzt das Buchen zusätzlicher Transitkapazitäten durch die Ukraine. Dies ist aber die teuerste Route nach Europa. Und die zusätzlichen Kapazitäten sind noch um 20 Prozent teurer. In solch einer Situation ist es für „Gazprom“ vorteilhafter, die Inbetriebnahme von „Nord Stream 2“ abzuwarten und vorerst einen Nutzen aus dem Ansteigen der Gaspreise zu erzielen“, sagt der Experte.
„Gazprom“ würde tatsächlich keine zusätzlichen Mengen für ein Durchpumpen durch die Ukraine vertraglich vereinbaren. Aber die übrigen Gaspipelines seien faktisch bis zum Maximum ausgelastet, unterstreicht der leitende Analytiker der Stiftung für nationale Energiesicherheit und der Finanzuniversität bei der Regierung der Russischen Föderation, Igor Juschkow. „Gazprom“ deute somit an, dass die Europäer zusätzliche Gasmengen erhalten könnten, wenn „Nord Stream 2“ in Betrieb genommen werde, sagt der Experte. „Dabei erfüllt der Konzern all seine Vertragspflichten. Er kann nur auf neue zusätzliche Anforderungen verzichten. Doch selbst die Erfüllung der Vertragspflichten führt dazu, dass „Gazprom“ einen neuen historischen Exportrekord im Jahr 2021 aufstellen kann – über 200 Milliarden Kubikmeter im Jahr. Schließlich sind im ersten Halbjahr bereits rund 100 Milliarden (Kubikmeter) exportiert worden“.
„Groß ist die Wahrscheinlichkeit dessen, dass nach Inbetriebnahme des ersten Strangs von „Nord Stream 2“ „Gazprom“ engagierter die zusätzlichen Anforderungen der Abnehmer erfüllen und das ukrainische Gastransportsystem aktiver auslasten wird“, sagte Juschkow der „NG“. „Obgleich für „Gazprom“ ein anderes Szenario wünschenswerter ist. Das Unternehmen erwirkt das Recht auf eine eigenständige 100-prozentige Auslastung von OPAL (Ostsee-Pipeline-Anbindungsleitung als eine der zwei Fortsetzungen von „Nord Stream 1“)“.
„Gazprom“ teilte am Donnerstag mit, dass sein Erdgasexport ins ferne Ausland innerhalb des ersten Halbjahres um 25,7 Prozent bis auf 99,9 Milliarden Kubikmeter angestiegen und dicht an die historische Rekordmarke für das erste Halbjahr (101,2 Milliarden Kubikmeter) herangekommen ist. Unter anderem haben sich die Lieferungen in die Türkei und nach Rumänien mehr als verdoppelt (209,3 bzw. 264 Prozent), nach Deutschland stiegen sie um 43,4 Prozent, nach Italien – um 14,1 Prozent, nach Frankreich – um 15,1 Prozent, nach Polen – um 18,6 Prozent, nach Bulgarien – um 42,6 Prozent, nach Serbien – um 103 Prozent und nach Griechenland – um 24 Prozent. Im Unternehmen betonte man, dass die Lieferungen nach China über die Pipeline „Power of Siberia“ weiterhin wachsen würden. Auch hat „Gazprom“ die Lieferungen für den Binnenmarkt erhöht – um 16 Prozent (um 19,1 Milliarden Kubikmeter).