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Russische staatliche Geheimhaltung bringt den EGMR in eine Sackgasse


Die Behörden der Russischen Föderation wollen unter dem Vorwand von Staatsgeheimnissen dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) oft keine Angaben zur Verfügung stellen, die aber für die Behandlung von Klagen russischer Bürger notwendig sind. In Straßburg erhält man die Mitteilung, dass es beispielsweise um die nationale Sicherheit gehe. Aber dort kann man in keiner Weise überprüfen, ob die Informationen wirklich nicht preisgegeben werden können oder ob dies der Versuch ist, gewisse Fakten zu verbergen. Früher hatte sich der EGMR einfach auf die Seite der Kläger gestellt und Entscheidungen zu ihren Gunsten getroffen. Jetzt aber umgehen sie nicht selten die Behandlung der Fälle vom Wesen her, indem sie lediglich konstatieren, dass sich Russland weigere zusammenzuarbeiten.

Entsprechend der Regel 44A des Regelwerkes des EGMR (Verfahrensordnung) sind die Seiten verpflichtet, mit dem Gericht im Verlauf der Untersuchungen zu den Fällen allseitig zusammenzuarbeiten. Unter anderem „alle Maßnahmen, soweit sie in ihrer Macht stehen, zu treffen, die der Gerichtshof für eine geordnete Rechtspflege für erforderlich hält“. Von der Schaffung der notwendigen Bedingungen dafür ist auch im Artikel 38 der Europäischen Menschenrechtskonvention die Rede. Daher ist der Straßburger Gerichtshof berechtigt, bei den angeklagten Staaten unterschiedliche Dokumente anzufordern, die die Argumente des Antragstellers widerlegen oder bestätigen können. Wenn sich aber die Behörden des Landes weigern, Informationen weiterzugeben, verletzen sie automatisch diesen Artikel 38.

Die russischen Behörden verweisen dennoch häufig auf den geheimen Charakter von Angaben, die man aufgrund des Fehlens der nötigen Prozeduren nicht an internationale Strukturen und das Wichtigste – aufgrund des Fehlens von Garantien für die Wahrung der Staatsgeheimnisse übergeben könne. Dabei wird in der Gesetzgebung der Russischen Föderation dieser Terminus auf eine maximale breite Art und Weise interpretiert. Ja, und in der Praxis des EGMR gibt es auch wenig Konkretes hinsichtlich der Geheimhaltung. Eine Erörterung dieser Probleme erfolgte im Rahmen des Webinars des Instituts für Recht und öffentliche Politik „Das Staatsgeheimnis als Rechtfertigung für die Nichtvorlage von Dokumenten im EGMR“. Die Juristin Alexandra Sutschkowa, ehemalige Mitarbeiterin des Sekretariats des EGMR, betonte, dass Russland besonders ungern unter Berufung auf die große Wahrscheinlichkeit einer Preisgabe auf die Vorschläge zur Übergabe geheimer Dokumente bezüglich jener Prozesse reagiere, bei denen kein Bürger der Russischen Föderation Antragsteller ist.

Vom EGMR fordert man bestimmte Garantien, wobei darauf verwiesen wird, dass weder die Konvention noch die Verfahrensordnung des Gerichtshofs Sanktionen für die Preisgabe solcher Informationen vorsehen würden. In Straßburg aber will man sich zuerst von der Stichhaltigkeit der Gründe für eine Geheimhaltung überzeugen. „Herauskommt ein endloser Streit: Der Staat erklärt die Ablehnung, Informationen zur Verfügung zu stellen, mit dem Fehlen von Garantien für deren Unversehrtheit. Der EGMR aber besteht darauf, dass er ohne eine Durchsicht der Dokumente nicht sagen könne, ob sie einem öffentlichen Zugang unterliegen oder nicht“, erläuterte Sutschkowa. Beispielsweise war bei einem der Fälle gegen Russland der Beklagte einverstanden, nur den Inhalt eines Urteils nachzuerzählen. Und früher hatte sich der EGMR in solchen Fällen auf die Seite der Antragsteller gestellt, die Verstöße gegen die einen oder anderen Artikel der Europäischen Konvention konstatiert und Entschädigungszahlungen zuerkannt. Später jedoch hat das Straßburger Gericht immer häufiger die Russischen Föderation nur wegen einer Verletzung des Artikels 38 „verurteilt“, womit es einer Behandlung der Klagen vom Wesen her aus dem Wege ging. Im Verlauf des Webinars kamen die Experten zu der Schlussfolgerung, dass sich offensichtlich eine gewisse unabhängige und unvoreingenommene Struktur am besten mit dem Schleier der Geheimhaltung auseinandersetzen würde, die dies unter Berücksichtigung der Interessen aller Seiten tun würde. Es ist aber klar, dass dies ein rein hypothetischer Wunsch ist.

Das skizzierte Problem sei bei weitem nicht neu, erläuterte der „NG“ der Experte für die Arbeit mit dem EGMR Anton Ryschow. „Bereits in der Mitte der Nulljahre, als ich gerade angefangen hatte, mit Fällen im EGMR zu arbeiten, wurde ich mit Verstößen gegen den Artikel 38 durch Russland konfrontiert. Wobei in einer Reihe von Fällen der EGMR den entsprechenden Verstoß konstatierte und manchmal ohne eine Behandlung ließ, wobei er dies nicht für prinzipiell hielt“. Nach seinen Worten habe sich die Russische Föderation nicht immer direkt geweigert. Die Behörden hatten entweder die Dokumente nicht vollständig zugesandt oder über deren planmäßige Vernichtung informiert. Beispielsweise werden die Materialien von Voruntersuchungsüberprüfungen des Untersuchungskomitees oder die Erfassungsberichte des Föderalen Dienstes für den Strafvollzug überhaupt nicht ewig aufbewahrt. Einmal hatte man keine Dokumente geschickt, einfach weil sich in der Staatsanwaltschaft ein Brand ereignet hatte, erinnerte sich Ryschow. Er fing nicht an, davon zu sprechen, ob es da irgendwelche zielgerichteten Manipulationen gegeben hatte oder nicht. Die Tatsache besteht aber darin, dass der EGMR in keiner Weise die Worte der Offiziellen bzw. Behörden überprüfen kann. Übrigens, später hatte man aufgehört, aus der Russischen Föderation Materialien eingestellter Strafverfahren zuzusenden, wobei man auf die Gesetzesnormen verwies, dass, da die Nachforschungen formell weitergehen, das Untersuchungsgeheimnis gelte. Aber auch solche Argumente haben nicht funktioniert, und Straßburg bestrafte Russland weiter gemäß dem Artikel 38.

„Schließlich ist die Sache auch bis zu den Staatsgeheimnissen gekommen. Aber der EGMR ist auch hier unnachgiebig. In einer ganzen Reihe von Beschlüssen hinsichtlich der Russischen Föderation unterstreichen die Richter zwei Momente. Der erste: In der russischen Gesetzgebung ist das Prozedere für eine Übergabe von für geheime erklärte Informationen an internationale Organisationen nicht festgeschrieben worden. Es wäre übrigens nicht schlecht, diese in Zusammenarbeit mit dem Ministerkomitee des Europarates auszuarbeiten. Der zweite: Ein absolutes Verbot ist unproduktiv. Irgendwelche besonders delikaten Passagen in den Dokumenten kann man schwärzen oder die Informationen in einem entsprechenden Bescheid verallgemeinern“, sagte Ryschow der „NG“. Im Übrigen, in der Verfahrensordnung des EGMR gibt es die Regel 33, der gemäß die Behörden des einen oder anderen Landes die Richter bitten können, bestimmte Materialien zu Verschlusssachen zu erklären und den Zugang der Öffentlichkeit zu ihnen einzuschränken. Dabei schlägt der EGMR selbst den Staaten vor, aktiver diese Möglichkeit zu nutzen. „Im vergangenen Jahr erfolgte so etwas in einem Fall, in dem ich die Interessen eines der Flüchtlinge vertrete. Die Russische Föderation hatte sich dennoch aber geweigert, irgendetwas zuzusenden, wobei sie darauf hinwies, dass die angeforderten Dokumente „Informationen enthalten, deren Nutzung zu einer Offenlegung von Angaben über die Kräfte, Mittel, Methoden sowie die Organisation und Taktik der operativen und dienstlichen Tätigkeit des FSB (Russlands Inlandsgeheimdienst – Anmerkung der Redaktion) führen kann“. Und es musste lediglich ein Dokument eingesandt werden, auf dessen Grundlage man dem Antragsteller auch die Einreise nach Russland für zwanzig Jahre verboten hatte“. Ryschow räumt ein, dass der Übergang der Vollmachten für das Vertreten der Interessen Russlands im EGMR vom Justizministerium an die Generalstaatsanwaltschaft erlauben werde, irgendwie die Probleme der Geheimhaltung zu lösen.

Anwalt Dmitrij Agranowskij erklärte, dass, wenn ein Land entschieden habe, seine Argumente nicht vorzulegen, so „ist dies sein Problem. Es beraubt sich einfach der Möglichkeit, sich zu rechtfertigen und die Argumente der Kläger zu dementieren“. Was meistens zu einer Niederlage des Staates führe. Dabei sei aber klar, dass, wenn die Beamten von vornherein die Haltlosigkeit ihrer Argumente begreifen, so wozu sollen sie die dann ein weiteres Mal verkünden? Derweil müsse der EGMR auch die Interessen der Mitgliedsstaaten des Europarates berücksichtigen, merkte Agranowskij an. Das heiße, er müsse lavieren und eine Balance wahren, „ohne es hinsichtlich dieser Staaten zu übertreiben, die gleichfalls nicht an einem Konflikt mit Straßburg interessiert sind“. Nach seiner Meinung sei gerade dies ausgezeichnet am Beispiel der Beziehungen Russlands und des EGMR zu sehen. „Wir erfüllen seine Entscheidungen, wobei wir einen Ausstieg aus dem EGMR androhen. Und der demonstriert seinerseits uns gegenüber Nachsicht in vielen Fällen“. In Russland an sich wolle sich keinerlei konkreter Beamter ein Bein stellen. Um ein Geheimnis aufzudecken, müsse er Verantwortung übernehmen. Aber plötzlich stellt sich dann heraus, dass er damit dem Land einen Schaden zugefügt hat. „Ergo, wenn es um sensible Fragen geht, wägen die Amtspersonen ab, was für die Interessen des Staates schlechter ist: irgendeinen Fall zu verlieren oder, damit dies nicht geschieht, für die ganze Welt Informationen zu einem gewissen akuten Problem preiszugeben“. Und zu Verschlusssachen machen kann man auch Angaben über Verletzungen der Verfassungsrechte. Obwohl dies entsprechend der Verfassung an sich verboten ist, tatsächlich aber vorkommt. Folglich ist sich Agranowskij dessen gewiss, dass es Sinn mache, im Gesetz klar festzuschreiben: Wenn es um Verletzungen der Menschenrechte geht – der politischen, sozial-ökonomischen oder ökologischen -, so müsse es eine vereinfachte Prozedur für eine Aufhebung der Geheimhaltung in Bezug auf die entsprechenden Angaben geben. Wenn es aber um – sagen wir einmal – Fragen der Verteidigung gehe, so müssten hier die Interessen des Staates die Priorität haben.