In Russland nimmt scheinbar der Grad der sozialen Spannungen zu. Unterschiedliche landesweite Messungen demonstrieren, dass in der Russischen Föderation die Intoleranz der Bürger gegenüber wirtschaftlicher Ungleichheit größer als im weltweiten Durchschnitt ist. Und während insgesamt in der Welt die Befürchtungen zunehmen, die mit dem Coronavirus zusammenhängen, beunruhigen in Russland die Bürger vor allem Arbeitslosigkeit, eine geringe Arbeitsvergütung und die Armut.
Während für viele Länder der Welt der Kampf gegen die Coronavirus-Pandemie und deren wirtschaftlichen Folgen das Thema Nr. 1 bleibt, erweist sich in Russland das Bild als ein völlig anderes. Wie eine jüngste Ipsos-Umfrage unter Einwohnern von 28 Ländern zeigte, ist das Coronavirus auf dem ersten Platz in der Liste der Hauptursachen für die Sorgen der Menschen in der ganzen Welt geblieben. Das Thema COVID-19 bewegt 36 Prozent der Bürger des Planeten. Dabei machen die Pandemie-Probleme maximal 13 Prozent der Bürger der Russischen Föderation Sorgen.
Andererseits besorgt die Bürger Russlands weitaus stärker als im weltweiten Durchschnitt das Problem der Armut und der sozialen Ungleichheit. Wie die Ipsos-Befragung zeigt, beschäftigt 56 Prozent der Einwohner der Russischen Föderation diese Frage. Und hinsichtlich der Besorgtheit aufgrund dieses Themas nimmt das Land den ersten Rang in der Welt ein.
Ein Großteil der Bevölkerung unterstützt dabei nicht die gegenwärtige Politik der Offiziellen. Über die Hälfte der Bürger Russlands (56 Prozent) ist der Auffassung, dass sich das Land in einer falschen Richtung bewege.
Die Verstärkung der Fragen unter den Bürgern Russlands, die mit der Armut und wirtschaftlichen Ungleichheit in Verbindung stehen, ist insgesamt verständlich. Die realen, zur Verfügung stehenden Bevölkerungseinkommen haben bereits im Jahr 2014 begonnen, sich zu verringern, und haben immer noch nicht ein stabiles Wachstum im Sinne einer Wiederherstellung erreicht. Dabei lebten laut Angaben des russischen Statistikamtes Rosstat im Jahr 2020 fast 18 Millionen Menschen oder 12 Prozent der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze.
Dabei erweist sich das Thema der Armut und sozialen Ungleichheit als das wichtigste für die Bürger Russlands, während sich die russischen Offiziellen scheinbar bemühen, diese Themen zu umgehen. So ist bei der letzten „Bürgersprechstunde“ des russischen Präsidenten Wladimir Putin das Thema der Armut gar nicht konkret angesprochen worden. Und Probleme im Zusammenhang mit den zurückgehenden Einkommen wurden nur im Zusammenhang mit den Pandemiefolgen erwähnt. Finanzminister Anton Siluanow betonte in einem jüngsten Interview für das Magazin „Finanzen“ lediglich, dass das Wirtschaftswachstum zu einem Ansteigen der Bevölkerungseinkommen führen und dem Erreichen der nationalen Ziele für die Entwicklung des Landes helfen werde.
Bemerkenswert ist, dass die Staatsbeamten früher erklärten, dass gerade die Realisierung der nationalen Projekte erlauben werde, sowohl ein Wirtschaftswachstum anzuschieben als auch das Lebensniveau der Bürger der Russischen Föderation zu verbessern. Eines der nationalen Ziele für die Landesentwicklung besteht gerade in einer Verringerung der Armut um die Hälfte bis zum Jahr 2030. Wie aber hoffen die Offiziellen, die Armut im Land zu bekämpfen, in dem die Wirtschaft bereits unabhängig von der Krise stagniert und keinerlei Voraussetzungen für eine Verbesserung des Wohlergehens seiner Bürger geschaffen werden?
Für die russischen Offiziellen ist die üblichste Form des Kämpfens nicht die Schaffung von Voraussetzungen für ein Ansteigen der Bevölkerungseinkommen, sondern die Vergabe von Haushaltsgeldern an bestimmte Bevölkerungskategorien. Das Problem besteht darin, dass dies ebenfalls oft nicht die Probleme der Armut und der geringen Einkommen löst. So haben die Rechnungsprüfer des russischen Rechnungshofs nach einer vorherigen Analyse der Realisierung der staatlichen Programme betont, dass die Maßnahmen der Programme beispielsweise wenig die Aufgabe zur Verringerung der Armut in der Russischen Föderation beeinflussen würden. Der fünfte Teil der sozial schwachen Haushalte habe sich ganz und gar außerhalb der staatlichen Sozialpolitik befunden, indem diese keinerlei soziale Zahlungen erhalten hätten.
Unabhängige Wirtschaftsexperten haben gleichfalls eingestanden, dass die staatliche Unterstützung für die Bevölkerung nur teilweise den Schlag durch die Corona-Krise gedämpft habe. Ihre Berechnungen zeigten, dass die Hilfe für die Familien mit Kindern und für die Arbeitslosen lediglich den siebten Teil der weggefallenen Geldeinnahmen und mehr als ein Drittel der Zunahme der Armut kompensiert hätte. Gleichzeitig aber habe unter den Familien ohne Kinder, die nicht von den Maßnahmen einer staatlichen Unterstützung erfasst wurden, die Armut in der Krise mehr als um das 2fache zugenommen.
Eine zielgerichtete Unterstützung für die Bevölkerung ist eine richtige und wichtige Politik der Offiziellen. Wichtig ist aber, nicht einfach Geld an bestimmten Bevölkerungsgruppen zu verteilen, sondern die Probleme der geringen Einkommen, der Armut und sozialen Ungleichheit komplex zu lösen.