Der natürliche Bevölkerungsrückgang in Russland hat sich um das 1,5- bis 2fache im Vergleich sowohl zum Vor-COVID-Jahr 2019 als auch zum Pandemiejahr 2020 beschleunigt. Wobei es auch bis zur Pandemie nicht gelang, ein natürliches Bevölkerungswachstum zu sichern. Aber, wie Demografen erklären, sei die Depopulation in den vergangenen Jahren durch einen Rückgang der Geburtenraten verursacht worden. Jetzt ist dazu die in die Höhe geschnellte Sterblichkeit gekommen. Im Juni hat die Sterblichkeit aufgrund des neuen Stamms „Delta“ um 14 Prozent gegenüber dem Juni des vergangenen Jahres zugenommen, teilte Vizeregierungschefin Tatjana Golikowa mit. Laut Expertenprognosen sei der Rückgang ohne neue spezielle Maßnahmen nicht zu stoppen. Die Ausgaben für das Gesundheitswesen müssten schon nicht mehr um Dutzende Prozent, sondern um ein Mehrfaches angehoben werden.
In Russland hat sich der natürliche Bevölkerungsrückgang wesentlich beschleunigt (die Zahl der Verstorbenen ist höher als die Zahl der Neugeborenen). Wie Ende vergangener Woche das russische Statistikamt Rosstat mitteilte, lag im Zeitraum Januar-Mai dieses Jahres der Rückgang bei über 360.000 Menschen, was um das 1,6fache mehr war als im analogen Zeitraum des Jahres 2020 und beinahe 2mal mehr als in eben jenem Zeitraum des Jahres 2019.
Die Situation hatte sich bereits in der Vor-COVID-Periode zu verschlechtern begonnen. So erklärte im Jahr 2019 Vizeregierungschefin Tatjana Golikowa, dass „wir katastrophal an Landesbevölkerung verlieren“. Damals ging es um einen Rückgang in den ersten vier Monaten jenes Jahres von 149.000 Menschen. „Dies bedeutet, dass bei uns die Geburtenrate fällt. Und die Sterblichkeit nimmt nicht mit solch einem Tempo ab, wie wir dies gerne hätten“, erläuterte sie damals. Es macht aber Sinn zu präzisieren, dass die Sterblichkeit damals doch zurückgegangen war.
Wie in einem Gespräch mit der „NG“ Andrej Korotajew, leitender wissenschaftlicher Mitarbeiter des internationalen Labors für Demografie und menschliches Kapital der Russischen Akademie für Volkswirtschaft und Staatsdienst, mitteilte, habe sich bis zur Pandemie, etwa ab 2005 die Sterberate systematisch verringert, und dabei mit einem schnellen Tempo. „Russland war weltweit auf einem der ersten Plätze hinsichtlich der Abnahme der Sterberate“.
Nach 2015 habe sich jedoch im Land doch ein natürlicher Bevölkerungsschwund abgezeichnet und begonnen zuzunehmen. Dies hing aber nicht mit dem Faktor der Sterblichkeit, sondern mit dem Faktor der Geburtenrate zusammen, die ungeachtet der stimulierenden Programme zu fallen begann.
Die Pandemie hat die Situation drastisch verschlechtert. Jetzt sei, wie der Experte präzisierte, die Sterblichkeit kolossal in die Höhe geschnellt. Ende vergangener Woche teilte Tatjana Golikowa mit, dass laut operativen Angaben „im Juni des Jahres 2021 im Zusammenhang mit dem drastischen Ansteigen der Erkrankungsrate, ausgelöst durch die Verbreitung des neuen Stamms der Coronavirus-Infektion „Delta“, die Sterblichkeit im Vergleich zum Juni des vergangenen Jahres um 13,9 Prozent angestiegen ist“. Laut Rosstat erreichte im Juni vergangenen Jahres die Zahl der Verstorbenen in Russland fast 163.000 Menschen, was um etwa 19 Prozent mehr als im Juni des Jahres 2019 gewesen war.
Das Statistikamt von Pawel Malkow hat bisher keine Daten zu den Ergebnissen des Junis dieses Jahres veröffentlicht. Aber ausgehend von jenen Erklärungen, die Golikowa abgegeben hat, kann angenommen werden, dass in diesem Juni die Zahl der Verstorbenen die 185.000-Marke überschritten hat. Im Vergleich zum Vor-COVID-Juni ist dies eine Zunahme um bereits 35 Prozent.
Wie Korotajew der „NG“ sagte, gebe es vom Prinzip her Gründe, nachdem die Pandemie wirklich zu Ende ist, einen Rückgang – eine rekordverdächtige Verringerung der Sterblichkeit – zu erwarten. Danach aber werde sich die Situation ausgleichen, und wir werden zu einem Abebben jenes Trends zurückkehren, der vor der Pandemie zu beobachten war. Denn auch vor der Pandemie war dieses Abebben zu erwarten gewesen. „Der Hauptfaktor für eine Verringerung der Sterberate waren bei uns nach 2005 erstens die Antialkohol- und zweitens die Antitabak-Maßnahmen gewesen. Aber das Potenzial dieser Maßnahmen hat sich bereits zu erschöpfen begonnen», präzisierte der Experte. Und die Sterblichkeit werde sich überhaupt nicht mit jenem Tempo verringern, das erlauben würde, ein natürliches Bevölkerungswachstum zu erreichen.
Dabei seien laut einer Präzisierung Korotajews, wenn von der Geburtenrate gesprochen werde, Anfang des Jahres 2020 im Land recht starke Maßnahmen zu ihrer Stimulierung ergriffen worden. Ihre Wirkung habe aber nach Meinung des Experten die Pandemie auch nivelliert, genauer gesagt: schon sie nicht an sich, sondern jene Wirtschaftskrise, die sie ausgelöst habe. Zugenommen habe die Ungewissheit der Bürger hinsichtlich der wirtschaftlichen Zukunft sowohl des Landes als auch der Familie.
Wenn man all diese Schlussfolgerungen summiert, so sieht die Expertenprognose so aus: Nach dem realen Ende der Pandemie werde der natürliche Bevölkerungsschwund mindestens zwei, drei Jahre anhalten. Er werde sich verringern. Bisher sei aber nicht zu sehen, dass er aufhören und zu einem natürlichen Anstieg übergehen könne.
Für die Gewährleistung eines natürlichen Anstiegs müsse man schon jetzt neue großangelegte Maßnahmen zur Stimulierung und Beschleunigung der Geburtenrate (einmal angenommen — Vaterschaftskapital) und für eine Bekämpfung der Sterblichkeit konzipieren und verabschieden.
Um unter anderem eine neue spürbare Welle einer Verringerung der Sterberate zu bekommen, sei, wie Korotajew sagt, eine Anhebung der staatlichen Ausgaben für das Gesundheitswesen erforderlich. Aber nicht so, wie geplant wurde, sondern um das 2- bis 3fache. Hinsichtlich jeder Richtung müsse eine Anhebung um ein Mehrfaches erfolgen. Beispielsweise müsse man die Gehälter für Krankenschwestern nicht um 20 bis 30 Prozent anheben, sondern um ein 4- bis 5faches, damit die Menschen zum Arbeiten in die Krankenhäuser kommen, führte der Experte als Beispiel an. Aber solch eine Erhöhung der staatlichen Ausgaben erscheine bisher keine realistische zu sein, präzisierte er.
Wie der wissenschaftliche Leiter des Instituts für regionale Probleme Dmitrij Schurawljow betonte, müsse man berücksichtigen, dass die Verbindung zwischen den demografischen und wirtschaftlichen Prozessen eine direkte sei. Bei einem gleichen Niveau der technologischen Entwicklung hänge die Größe der Wirtschaft von der Zahl der in ihr agierenden Beschäftigten ab. Nach seinen Worten sei jetzt die Wirtschaft stärker, je größer die Bevölkerung sei, obgleich der Experte ebenfalls präzisierte, dass diese Schwelle in den Ländern mit einem geringeren Bevölkerungsanteil als in Russland zu einer sensiblen werde.
Die Alterung und das Ausbleiben eines natürlichen Bevölkerungswachstums würden eine Abhängigkeit vom Zustrom von Arbeitsmigranten auslösen, folgt aus einem Kommentar des offiziellen Sprechers des sozialen Projekts „Humanity“, Andrej Loboda. Und in der Regel würden wir einen Zustrom nichtqualifizierter Arbeitskräfte erhalten, die man beinahe bei jedem Projekt einzusetzen beginne. „Im Ergebnis dessen wird es schwierig, von einer Entwicklung der Wirtschaftsbranchen und des Business mit einem hohen Mehrwert zu sprechen“, meint der Experte.
Wenn man aber von der Sterblichkeit spreche, so würde derzeit ein Problem das andere belasten. Es würden, wie Schurawljow betonte, sowohl junge, aktiv in der Wirtschaft agierenden Menschen als auch die ältere Generation, ohne die es zu einem Bruch in der Kontinuität der Erfahrungen kommt, sterben.