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Der Artikel Putins – ein Ultimatum, aber nicht gegenüber der Ukraine


Der Präsident der Russischen Föderation tritt nicht oft persönlich mit Artikeln in der Presse auf. War aber der letzte Beitrag über die Einheit Russlands und der Ukraine nötig? Dass er seit langem vorbereitet wurde, löst keine Zweifel aus. Schließlich war bereits am 30. Juni sein Erscheinen angekündigt worden. Wer ist aber der Adressat dieses Textes? Wie viele Menschen werden ihn selbständig vom Anfang bis zum Ende lesen, gerade lesen und nicht Kommentare anhören? Wem erklärt Wladimir Putin die Geschichte des Vaterlandes, beginnend ab den grauen Vorzeiten? In den letzten sieben Jahren haben sich in den Gesellschaften – in der russischen und in der ukrainischen – die Meinungen bereits ausgeprägt. Es ist praktisch unmöglich, irgendwen umzustimmen.

Der Artikel enthält eine Reihe von Behauptungen, mit denen man streiten kann. In ihm gibt es etwas, was man detailliert erörtern, dem man widersprechen sowie was man erweitern und vertiefen kann. Er ist mehrschichtig und mannigfaltig. Lesen kann man ihn mit einem Dutzend Intonationen. Und von der Intonation hängt das Eindringen in den Sinn des Geschriebenen ab. Eine Reihe von Experten wird unbedingt die Aufmerksamkeit darauf lenken, dass es im historischen Teil des Artikels viel Umstrittenes gibt. Vergessen wurden beispielsweise die Ethnien, die unmittelbar an der Gestaltung der historischen Vergangenheit unseres Vaterlandes teilgenommen haben, eben jene ugro-finnischen Völker und Tataren. Einer Reihe von Ereignissen ist eine zu große Bedeutung beigemessen worden. Und über irgendwelche andere ist ganz und gar nichts gesagt worden. Irgendwer wird sagen, dass der Artikel viele komplizierte Erscheinungen vereinfache und Ereignisse mythologisiere, dass hinter der Unterschrift Putins eine kollektive Arbeit stehe, dass der Beitrag ein zu großer sei usw. Viele Anmerkungen werden sich als berechtigte erweisen. Dies ist jedoch ein Artikel eines amtieren Politikers, des Oberhauptes einer Großmacht, der dazu berufen ist, nicht nur seine persönliche Position (eine persönliche und keine tiefgründig wissenschaftliche) und Anschauungen, sondern auch die Position seines Teams und seiner Anhänger zu skizzieren.  Der veröffentliche umfangreiche Text enthält eine ernsthafte Message. Sie zu unterschätzen, wäre eine große Fahrlässigkeit und ein Fehler. Eben aus dieser Sicht ist dieser Beitrag zu erörtern.

Putin sagt selten direkt unangenehme Sache, wobei er es vorzieht, sie abzuschwächen, oder verwendet eine äsopische Sprache. Ja, und auch jetzt schreibt er nicht direkt und geradlinig. Aber durch den gesamten Artikel zieht sich wie eine rote Linie der Gedanke, dass es seit jeher objektiv mehrere Konzepte für eine gesellschaftliche und kulturelle Entwicklung gegeben hat, mehrere Gesellschaftsmodelle. Unseren gemeinsamen Vorfahren sei es dank ihrer Weisheit, Arbeitsliebe, Selbstaufopferung und Beharrlichkeit gelungen, ihren geistig-moralischen Code, ihre gesellschaftlich-kulturelle Welt mit einmaligen allgemeinmenschlichen Wertekategorien und dem charakteristischen Wesenszug – das Nichtbestehen einer höchsten „Team“-Ethnie – zu gestalten. Diese Welt hatte über Jahrhunderte einem äußeren Druck standgehalten.

Eines der direkt konkurrierenden Modelle sei das anglo-sächsische Modell der Weltordnung, dass in der Praxis das Vorhandensein dominanter ethnischer Gruppen vorsehe. Und der Kampf der beiden weltanschaulichen Positionen sei über Jahrhunderte hinweg die Grundlage in den Beziehungen der westlichen Welt und der russländischen Welt gewesen.

Aber wem erklärt Putin dies alles? Es scheint, dass die Hauptmessage nicht an die Führung der Ukraine, sondern an die westlichen Staats- und Regierungschefs geht. Dieser Artikel, der im Kontext des Deutschland-Besuches von Wladimir Selenskij erschienen ist, ist eine direkte und, ich denke, eine letzte Erläuterung der Position Russlands für den „kollektiven Westen“ bezüglich der Ukraine.

In dem Beitrag erläutert Putin allen klar und recht scharf, warum sein Treffen mit Selenskij unmöglich ist. Das im Text verwendete Wort „Lüge“ (es ist wohl drastischer als das Wort „Killer“) kann man als eine Widerspiegelung von Abscheu höchsten Grades demgegenüber ansehen, was Selenskij tut.

Der Präsident der Russischen Föderation weist auf ein vollkommenes Fehlen von Logik der Administratoren und Kuratoren der Ukraine hin: Wenn sie die ganze kommunistische Vergangenheit aufgeben würden, würde sich die Frage nach dem Bestehen im Grunde genommen der eigentlichen Ukraine mit ihrem Territorium ergeben. Erstmals signalisieren die höchsten Offiziellen der Russischen Föderation offen das mögliche direkte Aufwerfen einer Frage nach territorialen Ansprüchen Russlands gegenüber der Ukraine bei einem bestimmten Zusammentreffen von Umständen. Und zu solchen Umständen könnten ein erneuter Umsturz, der Beginn von Kampfhandlungen der Ukraine, das Eintreffen von NATO-Kräften auf ständiger Grundlage und möglicherweise auch die weitere Offensive gegen die russischsprachige Bevölkerung, zu der auch die in Transkarpatien lebenden Russinen gerechnet worden sind.

Es kommt die Empfindung auf, dass dieser Artikel ein realer Antrag Russlands auf den Status eines Schutzpatrons und Verteidigers aller Russischsprachigen, wie einstmals das Russische Imperium (Zarenreich) stillschweigend als Schutzherr der christlich-orthodoxen Völker auftrat, ist. Und dies sagt Putin nicht der Ukraine, sondern dem kollektiven Westen.

Aus dem Text wird offensichtlich, dass sich Putin gewiss ist: Die in der Ukraine herrschende Gruppierung stehe immer mehr vor einem Verlust ihres Landes, vor dessen endgültigen Zerstörung. Der Präsident der Russischen Föderation signalisiert klar den Ländern, die das Projekt „Anti-Russland“ schaffen und unterstützen, dass sie entscheiden müssten, inwieweit sie bereit seien, die eigenen Bürger und das eigene Wohlergehen im Interesse dieses insgesamt wahnwitzigen Projekts zu opfern.

Putin gibt zu verstehen: In dem Fall, dass man Russland zu äußersten Maßnahmen treibe, würden die Bürger Russlands begreifen, dass dies keine Wahl der Bürger der Ukraine sein werde, sondern dies eine Entscheidung des Westens sein werde. Er erklärt, dass es für die Bürger der Ukraine, die nicht am Projekt „Anti-Russland“ teilgenommen haben, keinen Anlass für Sorge und Aufregungen gebe, denn Russland werde nie zu einer „Anti-Ukraine“ und es werde nur um eine Schaffung von Ordnung und einer Vertreibung der Marionetten- und verlogenen Administration gehen.

Faktisch ist dies nicht einfach ein Artikel. Dies ist ein in ein belletristisches Wort, mit lyrischen Abschweifungen à la Gogol gehülltes Ultimatum seitens Russlands sowohl an den kollektiven Westen als auch an die Administration der Ukraine.

Wird der Westen und die Ukraine Putin erhören? Die Ukraine – nein. Dort wird alles auf eine Erniedrigung und Flüche reduziert, wird man sich an Peanuts und unwesentliche Momente aus der Kategorie „Wessen ist der Borstsch?“ klammern. Die Trägheitskraft ist groß, und Weitsicht ist nicht das Ding der Vertreter der ukrainischen Administration. Ja, aber im Westen wird man dies vernehmen und, unter anderem mit Blick auf die Reaktion der herrschenden Gruppe in der Ukraine, seine Schlussfolgerungen ziehen. Und irgendetwas sagt mir, dass diese Schlussfolgerungen nicht zu Gunsten der Anstifter und Anhänger des Maidans von 2014 ausfallen werden.