Die sich zugespitzte Situation im Rahmen der Delimitation der Staatsgrenze zwischen Aserbaidschan und Armenien veranlassen die Konfliktparteien, ihre diplomatischen Anstrengungen zu aktivieren, um eine für sich akzeptable Lage in der Region zu erreichen. Während Aserbaidschan sich bemüht, sich auf den von ihm befreiten Territorien festzusetzen, deren Infrastruktur modernisiert und die Wirtschaft wiederaufbaut, treffe sich Armeniens Regierungschef laut Angaben der Zeitung „Moskowskij Komsomolez“ (MK) mit europäischen Diplomaten, um Unterstützung zu finden und den Versuch zu unternehmen, vom Wesen dieses Dokument „einer Revision zu unterziehen“. Dabei hatte er zuvor mit dem Oberhaupt der Russischen Föderation Wladimir Putin gesprochen.
Ein Treffen mit Russlands Präsident Wladimir Putin hatte Nikol Paschinjan dieser Tage durchgeführt, wobei unter anderem die Lage in Bergkarabach erörtert worden war. Nach der Begegnung war erklärt worden, dass die Seiten die Fragen der Umsetzung der trilateralen Deklarationen zu Bergkarabach vom 9. November 2020 und 11. Januar dieses Jahres tangiert hätten. Es sei daran erinnert, dass Aserbaidschan im November vergangenen Jahres innerhalb kurzer Frist im Ergebnis eines bewaffneten Konflikts die Kontrolle über Territorien von Bergkarabach und angrenzende Gebiete wiedererlangt hatte. Und unter Beteiligung der Russischen Föderation war ein trilaterales Abkommen über die Einstellung der Kampfhandlungen zwischen Armenien und Aserbaidschan unterzeichnet worden. Gemäß dem Dokument verließen die Streitkräfte Armeniens das Territorium Aserbaidschans, und in Bergkarabach an sich wurde ein friedenstiftendes Kontingent der russischen Truppen stationiert. Das Dokument war durch Aserbaidschans Präsident Ilham Alijew, Russlands Präsident Wladimir Putin und Armeniens Premierminister Nikol Paschinjan unterzeichnet worden. Jetzt gibt es, wenn man anhand der sich vollziehenden Ereignisse urteilt, unter den Unterzeichnern dieses Dokuments scheinbar unzufriedene, die nach einem neuen vermittelnden Zentrum suchen.
Laut Angaben des Moskauer Blattes „MK“ würden Diplomaten Frankreichs und Armeniens intensiv in Jerewan, Paris und New York sprechen, um „zu versuchen, das am 9. November 2020 abgeschlossene trilaterale Abkommen über die Feuereinstellung in Bergkarabach zu delegitimieren“.
Wie das russische Medium schreibt, „erörtern Emmanuel Macron und Nikol Paschinjan die Möglichkeit, einen neuen Plan zu verabschieden, der eine Revision der vorangegangenen Resolution des UN-Sicherheitsrates zur Situation im Bergkarabach vorschlägt“.
Das Bestreben von Paris, größeres diplomatisches Gewicht zu erlangen und eine bedeutsamere Rolle in der EU zu spielen, wird seit langem zur Kenntnis genommen. Bereits Nicolas Sarkozy hatte versucht, die Rolle eines Friedensstifters und Unterhändlers im Verlauf des Südossetischen Konflikts im Jahr 2008 zu spielen. Emmanuel Macron hält man für eine Fortsetzer dieser Tradition. Und daher ist es nicht erstaunlich, dass er an alternativen Vorschlägen interessiert ist, die in der Lage sind, die Positionen von Paris im Transkaukasus zu verstärken.
Wie „MK“ betont, „ist nicht ausgeschlossen, dass die Möglichkeit nicht bloß einer Verlegung französischer Truppen in den Südkaukasus und deren Stationierung entlang der armenisch-aserbaidschanischen Grenze, sondern auch eines Einzugs nach Karabach behandelt wird“.
Gegenwärtig kontrollieren russische Friedenstruppen die Ordnung in der Region. Paschinjan gibt aber regelmäßig zu verstehen, dass dies unzureichend sei, wobei er behauptet, dass Aserbaidschan angeblich bereit sei, erneut Kampfhandlungen in Bergkarabach zu beginnen. Dabei sei Paschinjan, der dieser Tage vor der Regierung mit der ersten Rede nach dem Wahlsieg aufgetreten ist, in einen „verbalen Krieg“ eingetreten, wie die Moskauer Zeitung „Kommersant“ schreibt, der „dem ähnelte, der vor einem Jahr zu einer richtigen Konfrontation ausgeufert war“.
Hervorgehoben sei, dass der Präsident des Europäischen Rates Charles Michel in Jerewan erklärte: Die EU beabsichtige, aktiver an der Lösung der Probleme der Region teilzunehmen, schreibt die Deutsche Welle. Er bekräftigte die Bereitschaft Brüssels, Armenien finanzielle Hilfe über eine Summe von 2,6 Milliarden Euro bereitzustellen, die für die Entwicklung der Infrastruktur und demokratische Reformen eingesetzt werden sollen. Am 1. Mai ist das Abkommen über eine allumfassende und erweiterte Partnerschaft zwischen der Europäischen Union und Armenien in Kraft getreten. „Ein effektive Umsetzung des Abkommens wird den Bürgern Armeniens spürbare Ergebnisse bringen, eine Stärkung der Demokratie sowie die politische, wirtschaftliche und soziale Stabilität durch großangelegte Reformen fördern und mit der Zeit Einfluss auf das Wohlergehen und das Lebensniveau der Bürger ausüben“, heißt es in einer Erklärung von Armeniens Außenministerium.
Folglich liegt das Streben der europäischen – und vor allem der französischen – Diplomatie, sich einen neuen Einflussbereich im Transkaukasus zu sichern, auf der Hand.
Derweil können Frankreichs Aktivitäten Russland teuer zu stehen kommen. Wenn im Ergebnis des Zusammenwirkens von Paschinjan und Macron das trilaterale Abkommen in Gefahr gerät, wird sich die Russische Föderation in einer schwierigen Lage wiederfinden. Die Hauptrolle im Verhandlungsprozess wird dann schon nicht Moskau spielen. Und folglich wird es schwieriger als früher werden, seine Interessen in der strategisch wichtigen Region zu verteidigen.
Schwieriger wird es auch werden, Armeniens Führung vor unüberlegten Schritten zu bewahren, die imstande sind, eine Zuspitzung des Konflikts auszulösen.
Während Russland an einer Bewahrung der gegenwärtigen Situation interessiert ist, zieht man es in der EU und in Paris vor, wie angenommen werden kann, die Situation auf den Stand des vergangenen Jahres zurückzubringen, wobei man mögliche Verluste ignoriert, um dann in der Rolle des einzigen Konfliktvermittlers aufzutreten.
Die Perspektive für das Einbringen einer französisch-armenischen Resolution über eine Stationierung französischer Militärs in Armenien an der Grenze zu Aserbaidschan zwecks Behandlung durch die UNO kann sich bald als eine durchaus reale erweisen. Wahrscheinlich muss Russland von seinem Vetorecht Gebrauch machen, um sowohl dem Verbündeten seinen Platz aufzuzeigen als auch um seine Südgrenzen von einer Präsenz ausländischer Truppen zu befreien. Ja, und die in Europa laufenden Verhandlungen kann man vom Wesen her als einen „Handel mit der Souveränität“ bezeichnen. Paschinjan führt sich so auf, als wäre man in Armenien bereit, sich auf jegliche Opfer einzulassen, nur um nicht mit Aserbaidschan ein Abkommen über die Delimitation und Demarkation der Grenzen zu unterschreiben, das heißt: nur um nicht die territoriale Integrität einander anzuerkennen.