In der Ukraine gewinnt der Skandal um die russischen Pässe immer mehr an Dynamik, die für die Ukrainer, die ihre Inhaber geworden sind, zu einem Unglück werden können. In einem Monat, gleich nach den Sommerferien wird die Werchowna Rada (das ukrainische Parlament – Anmerkung der Redaktion) die Neuordnung der Staatsbürgerschaftsfragen in Angriff nehmen. Es kann die Frage nach einer strafrechtlichen Verantwortung für das Verheimlichen der Tatsache des Vorhandenseins eines zweiten Passes aufkommen. Den Ukrainern soll erlaubt werden, die Staatsbürgerschaft befreundeter Länder zu besitzen, zu denen jedoch nach Aussagen des ukrainischen Außenministers Dmitrij Kuleba Russland nicht gehöre. Denjenigen, die einen russischen Pass erhalten haben, werde man die ukrainische Staatsbürgerschaft entziehen. In Russland ist man gegen solch einer Unterteilung der Ukrainer, von denen eine Million mit einem Schlage zu Nicht-Staatsbürgern werden können.
Der Gesetzentwurf über den automatischen Verlust der Staatsbürgerschaft der Ukraine im Falle des freiwilligen Erhalts der russischen Staatsbürgerschaft ist dieser Tage in der Werchowna Rada registriert worden. Als dessen Co-Autoren traten Abgeordnete der Oppositionsfraktionen „Golos“ („Die Stimme“) und „Europäische Solidarität“ sowie ein fraktionsloser Abgeordneter, ein Mitglied der Partei „Swoboda“ („Freiheit“) auf. Sie schlagen vor, das Gesetz „Über die Staatsbürgerschaft der Ukraine“ durch einen Paragrafen zu ergänzen, dessen Wesen darin besteht, dass die Person, die einen russischen Pass erhalten hat, sofort aufhört, Staatsbürger der Ukraine zu sein. Die Entscheidung soll automatisch fallen, ohne die Unterzeichnung eines speziellen Erlasses durch den Präsidenten der Ukraine, wie dies in allen anderen Fällen bei der Klärung einer Staatsbürgerschaftsfrage gefordert wird.
Die Nuance besteht darin, dass vorgeschlagen wird, die harten Maßnahmen nur hinsichtlich derjenigen anzuwenden, die freiwillig einen Pass der Russischen Föderation erhalten haben. Aber wer und wie die Motive für den Erhalt der russischen Staatsbürgerschaft durch Ukrainer überprüfen und kontrollieren wird, ist unbekannt. Es kann um eine Überprüfung hunderttausender Menschen gehen, denen der Status von Nicht-Staatsbürgern droht. Der stellvertretende Leiter der russischen Präsidialadministration Dmitrij Kosak erklärte jüngst in einem Interview für die französische Zeitschrift „Politique Internationale“, dass im Zeitraum von 2016 bis einschließlich 2020 fast 978.000 Ukrainer die russische Staatsbürgerschaft erhalten hätten. „Unsere Staatsbürgerschaft beantragen nicht nur Bürger des Donbass, sondern auch Einwohner der übrigen Ukraine“.
Bekanntlich gilt für jene, die in den Gebieten wohnen, die durch die nichtanerkannten Gebilde „Donezker Volksrepublik“ und „Lugansker Volksrepublik“ kontrolliert werden, ein vereinfachtes Prozedere für den Erhalt der russischen Staatsbürgerschaft. Laut Angaben der Menschenrechtsbeauftragten der Werchowna Rada Ludmilla Denisowa hätten rund 583.000 Menschen diese Prozedur genutzt. Sie haben ein Stimmrecht bei den Herbstwahlen zur russischen Staatsduma (das Unterhaus Russlands), obgleich es auf dem Territorium der „Republiken“ keine Wahllokale geben wird. In Kiew ist man empört. Das ukrainische Außenministerium veröffentlichte eine Erklärung, in der es heißt, dass „die Organisierung eines Wahlprozesses auf dem okkupierten Territorium der Ukraine und die Hinzuziehung der örtlichen Bevölkerung zu diesem, der zwangsweise die russische Staatsbürgerschaft aufgezwungen wurde, die Legitimität des Ergebnisses der Wahlen in Zweifel ziehen“.
Es sei hervorgehoben, dass in dem während der Präsidentschaft von Petro Poroschenko verabschiedeten und geltenden Gesetz „Über die Gewährleistung der Rechte und Freiheiten der Bürger und über das Rechtsregime auf dem zeitweilig okkupierten Territorium der Ukraine“ gesagt wird, dass die Ukraine die Ausgabe russischer Pässe auf der Krim und im Donbass für eine „gewaltsame Ausstattung mit Pässen“ ansehe und daher die russische Staatsbürgerschaft der Bewohner der „Donezker Volksrepublik“ und der „Lugansker Volksrepublik“ sowie der Krim nicht ansehen und sie als ihre Bürger betrachte. Außerdem ist dort gesagt worden, dass die zwangsweise Ausgabe russischer Pässe keine Grundlage für eine Aufhebung der ukrainischen Staatsbürgerschaft sei.
Insgesamt aber ist die Situation eine verwirrte. Die Verfassung der Ukraine sieht keine zweite Staatsbürgerschaft vor. Daher erkennt der Staat als seine Bürger nur die mit einer Staatsbürgerschaft – mit der ukrainischen – an. Dabei sind keinerlei Strafen für das Vorhandensein eines zweiten Passes nicht vorgesehen worden. Selbst die obligatorische Anforderung für Beamte, nur die Staatsbürgerschaft der Ukraine zu besitzen, ist früher nicht kontrolliert worden. In diesem Jahr hat der Rat für nationale Sicherheit und Verteidigung die Aufmerksamkeit auf diese Tatsache gelenkt, nachdem er beschlossen hatte, die Situation in Ordnung zu bringen. Sich von der Entscheidung dieses Gremiums leiten lassen, hat Präsident Wladimir Selenskij Mitte Juli einen Erlass unterzeichnet, durch den er alle Beamten, die Vertreter der örtlichen Machtorgane und Politiker verpflichtete, in den jährlichen elektronischen Einkommens- und Vermögenserklärungen nicht nur Angaben über die Einkünfte und den Besitz, sondern auch Informationen über das Vorhandensein einer zweiten Staatsbürgerschaft auszuweisen.
Im März dieses Jahres hatte man in Kiew die Frage nach der Legalisierung einer doppelten Staatsbürgerschaft erörtert. Damals erläuterte Außenminister Dmitrij Kuleba, dass dies Millionen Ukrainern, die ins Ausland gegangen sind, aber die Verbindung mit der Heimat bewahren wollen, das Leben vereinfachen werde. „Wir planen, die doppelte Staatsbürgerschaft mit den EU-Ländern und den Ländern, die für uns freundschaftliche sind, zu erlauben“, hatte er gesagt. Im Einzelnen präzisierte der Minister, dass Russland nicht zu dieser Liste gehöre und folglich der russische Pass für die Bürger der Ukraine ein widerrechtlicher bleibe. Aber für alle Personen, die eine doppelte Staatsbürgerschaft haben beabsichtigte Kiew, einige Einschränkungen einzuführen. Sie können unter anderem nicht auf Ämter in der Staatsführung und in den Machtorganen aller Ebenen Anspruch erheben, keinen Zugang zu Staatsgeheimnissen bekommen, keine strategischen Staatsunternehmen leiten, Mitglieder politischer Parteien sein, aber auch nicht Wahlkommissionen bei Wahlen angehören.
Diese Gesetzesvorlage ist bisher von der Werchowna Rada nicht behandelt worden. Die Abgeordneten von der Opposition sind der Auffassung, dass man ihre Vorschläge nicht auf die lange Bank schieben dürfe. Im Erläuterungsschreiben zum Gesetzentwurf über die Aberkennung der ukrainischen Staatsbürgerschaft für diejenigen, die einen russischen Pass erhalten haben, heißt es, dass eine neue Welle der Ausstattung der Einwohner in den nicht von Kiew kontrollierten Gebieten mit (russischen) Pässen erwartet werde. „Es wird der Versuch unternommen, mehrere Millionen Pässe auszustellen und in der Ukraine eine „fünfte Kolonne“ zu etablieren, die gegenüber Russland loyal und im Bedarfsfall bereit ist, Russland anzurufen, sie zu verteidigen. Faktisch wird eine erneute Gefahr einer Einmischung in die inneren Angelegenheiten der Ukraine zu jeglichem Zeitpunkt geschaffen“. Die Mitglieder der Oppositionsfraktionen sind der Auffassung, dass die Aufhebung der ukrainischen Staatsbürgerschaft für diejenigen, die sie als „fünfte Kolonne“ bezeichnen, einen Schutz der Souveränität der Ukraine fördern werde.
Der Jurist Alexander Afanasjew betonte in einem Kommentar für das Nachrichtenportal „Apostroph“, dass zum nächsten Schritt der ukrainischen Offiziellen der Beschluss der Werchowna Rada über Änderungen am Strafgesetzbuch werden müsste, um eine Bestrafung für die Verletzter des Gesetzes vorzusehen. „Es müssen separat in der Gesetzgebung die Fälle eines gewaltsamen und freiwilligen Erhalts ausländischer Pässe und die Modalitäten für einen schriftlichen Verzicht auf früher erhaltene Pässe festgeschrieben und Faktoren vorgesehen werden, die eine Bestrafung verringern oder verschärfen. Es müssen Register der Bürger angelegt werden, die eine doppelte Staatsbürgerschaft haben“, schrieb er.
Diese Fragen werden seit 2014 von Zeit zu Zeit im ukrainischen Parlament diskutiert. Bisher hatte es aber keine Systemlösungen gegeben. Jetzt tritt als Initiator zur Neuordnung der Staatsbürgerschaftsfrage der Rat für nationale Sicherheit und Verteidigung unter Leitung des Präsidenten auf. Afanasjew betonte, dass sich die Offiziellen „mit dem Staatsorgan festlegen müssen, das für die Realisierung der verabschiedeten Gesetzgebung im Bereich der Staatsbürgerschaft verantwortlich sein wird“. Nach seiner Meinung müsse man die Vollmachten des Migrationsdienstes der Ukraine erweitern.