Die Leidenschaften um die Vereinbarung zwischen Joseph Biden und Angela Merkel, die grünes Licht für die Fertigstellung von „Nord Stream 2“ gegeben hat, kommen nicht zur Ruhe. Es lärmen die Kritiker des amerikanischen Präsidenten bei ihn in der Heimat, in Polen und im Baltikum. Selbst von Ministern sind das Wort „Verrat“ und Andeutungen dahin gehend zu vernehmen, dass sich die höchsten staatlichen Vertreter der USA und Deutschlands „Putin verkauften“.
Weniger emotionale Kommentatoren stellen sich die Frage, wofür Europa die zusätzlichen Gasmengen brauche. Schließlich werden dessen Bedürfnisse auch so gedeckt, ohne „Nord Stream 2“. Derweil hat eine einfache, aber erschöpfende Erklärung der Fraktionschef der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands im Bundestag, Dr. Rolf Mützenich, gegeben. Er sagte, dass seine Landsleute das Gas „in der Übergangstechnologie brauchen, denn man will im Land schnell zu alternativen Energiequellen übergehen und dabei auf die Kern- und Kohleenergie verzichten“.
Anders gesagt: Die Zunahme des Gasverbrauchs im nächsten Jahrzehnt ist die Zahlung für die ökologische Tagesordnung, die die Herzen der Europäer eroberte. Diese scheinbar offensichtliche Tatsache erkennt man in der Europäischen Union äußerst ungern an. In Deutschland hat sich gar eine paradoxe Situation herausgebildet. Die konsequentesten Gegner von „Nord Stream 2“ sind die eigenen „Grünen“. Das heißt diejenigen, die ein Maximum an Anstrengungen zur Beendigung der Kernenergieprogramme aufgeboten hatten. Das letzte Kernkraftwerk wird in Deutschland – wie geplant worden war – Ende des Jahres 2022 stillgelegt. Obgleich das Rating von „Bündnis 90/Die Grünen“ spürbar eingebrochen ist, ist die Variante immer noch nicht ausgeschlossen, dass dieses Ereignis das Land unter Führung einer Kanzlerin von dieser Partei begehen wird, die entgegen den Programm-Aussagen ihrer Gleichgesinnten die Früchte des Funktionierens von „Nord Stream 2“ nutzen muss.
Das gesellschaftliche Bedürfnis nach umweltfreundlicher Energie, das sowohl für die EU als auch für die Vereinigten Staaten charakteristisch ist, vermochte auch Donald Trump nicht Paroli zu bieten, obgleich er sich sehr angestrengt hatte. Nicht zuletzt damit ist das Scheitern seines Versuchs, „Nord Stream 2“ zu verhindern, zu erklären. Die Sanktionen gegen das Vorhaben waren im Rahmen des Verteidigungshaushaltes verabschiedet worden und nicht durch ein einzelnes Gesetz, einfach weil die Kongressmänner und -frauen begriffen hatten: Indem sie zustimmen, den Übergang zu alternativen Energiequellen auszubremsen, werden sie nicht einmal gegen die Haltung der europäischen Verbündeten (dies wäre noch halb so schlimm), sondern letzten Endes gegen die Meinung vieler ihrer Wähler vorgehen. „Nord Stream 2“ wurde durch die USA kurz vor dem Ende der Trump-Herrschaft und als die Pipeline bereits fast fertiggebaut war blockiert. Folglich konnte man sich von ihr ohne einen Milliarden-Schaden für die europäische Wirtschaft, was die Beziehungen der Verbündeten auf beiden Seiten des Atlantiks hätte vollkommen untergraben können, nicht verabschieden. Es entsteht der Eindruck, dass mit solch späten Sanktionen für Biden „ein Fallstrick“ gespannt wurde. Ihm fielen alle politischen Risiken des Schrittes vor die Füße, den auch Trump hätte gehen müssen, wenn er für eine neue Amtszeit gewählt worden wäre.
Allerdings freuen sich jene zu früh, die der Auffassung sind, dass die Wirtschaft die Politik besiegt und der Westen im Interesse der Ökologie die Ukraine und Osteuropa endgültig vergessen hätte. In eben jenem Deutschland will man mehr russisches Gas bekommen, aber man ist nicht gerade gewillt, in eine vollkommene Energieabhängigkeit von Russland zu geraten. Die Forderung, einen Neuabschluss des Vertrages über den (russischen) Gastransit durch die ukrainische „Röhre“ nach dem Jahr 2024, die in der Gemeinsamen Erklärung von Merkel und Biden verankert wurde, haben viele russische und ukrainische Kommentatoren als eine rhetorische Formel, die nichts bedeuten würde, aufgefasst. Es gibt jedoch rechtlich verbindliche Forderungen des sogenannten Dritten Energiepakets – des Gesetzes der EU, das das Monopol von Gaslieferanten einschränkt. Es kann als ein Instrument zur Beibehaltung des ukrainischen Transits genutzt werden, wenn es dafür einen politischen Willen in der EU und den USA gibt. Und um diesen Willen zu wecken, arbeitet derzeit verstärkt der Präsident der Ukraine Wladimir Selenskij. Vorerst klappt dies bei ihm nicht allzu sehr. Das Thema des ukrainischen Transits, nachdem dem „Nord Stream 2“ fertiggestellt worden ist, will Biden offenkundig nicht ansprechen. Aber was wird dann passieren?