Das durch den russischen Präsidenten aufgeworfene Thema der Einheit der Ukrainer und Russen löst nach wie vor brisante Streitigkeiten in der Ukraine aus. Präsident Wladimir Selenskij stimmt der Meinung des russischen Staatsoberhauptes nicht zu. Er ist bereit, seine Argumente und Schlussfolgerungen im Verlauf einer persönlichen Begegnung mit Wladimir Putin darzulegen. Die Aufgabe Selenskijs wird dadurch erschwert, dass es in der ukrainischen Gesellschaft keine einheitliche Meinung in Bezug auf Russland und die Russen gibt.
Die soziologische Gruppe „Rating“ führte in der vergangenen Woche eine spezielle Umfrage durch, um herauszufinden: Pflichten die Ukrainer der Behauptung bei, dass sie mit den Russen „ein Volk sind, das zu einem historischen und geistigen Raum gehört“. Zum Erstaunen vieler Experten stimmten 41 Prozent der Bürger der Ukraine der These von Wladimir Putin zu. Die Mehrheit vertritt eine andere Meinung. 55 Prozent sind davon überzeugt, dass die Ukrainer und die Russen zwei verschiedene Völker seien. Der Unterschied in der Größe der beiden angenommenen Lager ist jedoch nicht so groß, wenn man die sich in den letzten Jahren verschlechterten Beziehungen ins Kalkül zieht.
Laut den Daten von „Rating“ ist das Alter der Befragten nicht zum bestimmenden Faktor bei der Bewertung der These von einem Volk geworden. Die Anhänger und die Gegner verteilen sich relativ gleichmäßig in den unterschiedlichen Altersgruppen. Die Meinung der Ukrainer beeinflusst stärker ihre politische Orientierung. Die Wähler der Parteien, die Fraktionen in der gegenwärtigen Zusammensetzung der Werchowna Rada (das Landesparlament – Anmerkung der Redaktion) haben, repräsentieren gerade diese beiden sich gegenüberstehenden Lager. Unter jenen, die für die „Oppositionsplattform – Für das Leben“ von Viktor Medwedtschuk, Jurij Boiko und Wadim Rabinowitsch votiert hatten, stimmen 86 Prozent der Meinung von Wladimir Putin zu. Lediglich elf Prozent sind dagegen. Unter den Wählern der Partei „Europäische Solidarität“ von Petro Poroschenko besteht ein entgegengesetztes Bild. 10 Prozent stimmen zu, 86 Prozent sind dagegen. Die Anhänger von „Batkiwstschina“ von Julia Timoschenko haben sich geteilt. 45 Prozent halten die Ukrainer und die Russen für ein Volk, 54 Prozent sind nicht dieser Meinung. Ein ähnliches Bild liegt unter jenen vor, die für die Partei „Golos“ („Die Stimme“), die durch den Rocksänger Swjatoslaw Wakartschuk gebildet worden war, votierten. 40 Prozent sind mit Putins Meinung einverstanden, 60 Prozent – nicht. Die Wähler der Präsidentenpartei „Diener des Volkes“ neigen zu einer Unterstützung für die Meinung Selenskijs. 35 Prozent halten die Ukrainer und Russen für ein Volk, 59 Prozent sind nicht dieser Meinung.
Insgesamt kontrastieren die Ergebnisse der Umfrage von „Rating“ mit den Angaben einer Untersuchung aus dem Mai, die durch die I.-Kutscheriw-Stiftung „Demokratische Initiativen“ und dem Rasumkow-Zentrum durchgeführt worden war. Damals hatten 71 Prozent der Ukrainer (von 48 Prozent in den östlichen Verwaltungsgebieten bis zu 91 Prozent in den westlichen Regionen) erklärt, dass Russland im Donbass gegen die Ukraine einen Krieg führe. Bei der Aufschlüsselung dieses Ergebnisses wiesen die Soziologen darauf hin, dass 53,5 Prozent der Ukrainer den Konflikt im Donbass für eine „russische Aggression gegen die Ukraine unter Einsatz einheimischer Kämpfer“ halten. Nur 15 Prozent charakterisierten die Situation als §einen inneren Konflikt in der Ukraine, in dem Russland eine der Seiten unterstützt“. 13 Prozent erklärten, dass im Donbass „Russland gegen den Westen auf ukrainischem Territorium kämpft“. Die wenigsten Befragten (7 Prozent) wählten die These von einem „ukrainischen inneren Konflikt“.
Unter Berücksichtigung der Ergebnisse der Umfrage von „Rating“ könnte man sagen, dass viele jener der Ukrainer, die die Meinung von einem Volk teilen, die Auffassung vertreten, dass ein Teil dieses Volkes gegen die eigenen kämpfe. Die Nuance besteht darin, dass die Befragten ihre Haltung zu Russland als ein Staat und zur Staatsführung der Russischen Föderation von der Haltung zu den Bürgern Russlands trennen. Dies stellte sich früher im Verlauf der regelmäßigen Befragungen zur Haltung der Ukrainer zu Russland und der Bürger Russlands zur Ukraine heraus, die durch das Kiewer internationale Institut für Soziologie und das Moskauer Levada-Zentrum durchgeführt werden. Bis zum Jahr 2014 hätte die These von einem Volk keine brisanten Streitigkeiten ausgelöst. Rund 90 Prozent der Ukrainer erklärte eine gute Haltung zu Russland und zu den Bürgern der Russischen Föderation. Nach den Krim-Ereignissen und dem Beginn des Kriegs im Donbass hat sich die Haltung drastisch verschlechtert. Erstmals seit dem Zeitpunkt der Proklamierung der Unabhängigkeit der Ukraine. Beginnend ab dem Jahr 2016, als die großangelegten Kampfhandlungen eingestellt wurden, begannen sich die Umfrageergebnisse zu verändern.
Vor einem halben Jahr teilte des Kiewer internationale Institut für Soziologie mit, dass 41 Prozent der Ukrainer positiv Russland gegenüberstehen würden, 42 Prozent – negativ. Interessant ist, dass im gleichen Zeitraum 51 Prozent der Bürger Russlands eine gute Haltung gegenüber der Ukraine signalisierten, 31 Prozent – eine schlechte. Dabei unterstützten die Unabhängigkeit der Ukraine von Russland 88 Prozent der Ukrainer und 80 Prozent der Bürger Russlands. Eine Vereinigung beider Staaten würden sieben Prozent der Ukrainer und 17 Prozent der Bürger der Russischen Föderation wünschen. Vom Vorkriegszustand, als die Ukraine und Russland befreundete Staaten mit transparenten Grenzen waren, träumen 49 Prozent der Ukrainer und 57 Prozent der Bürger Russlands. Diese Angaben erlauben die Annahme, dass die ukrainischen Befragten Russland als Staat die Verschlechterung vorwerfen und nicht den Russen als ein Volk.
Dieser Aussage widersprechen aber die Angaben noch einer soziologischen Untersuchung, die durch die Stiftung „Demokratische Initiativen“ und das Rasumkow-Zentrum zum Thema der Bündnis- bzw. verbündeten Staaten der Ukraine durchgeführt wurde. Russland erwies sich auf dem 8. Rang in einer Liste von 22 Ländern (die Befragten konnten drei Länder aus einer vorgeschlagenen Liste auswählen). Zur ersten Gruppe der Verbündeten rechneten die Ukrainer die USA (28,3 Prozent), Polen (25,5 Prozent), Deutschland (23,2 Prozent) und Weißrussland (20,8 Prozent). In der zweiten Gruppe fanden sich hinsichtlich der Häufigkeit der Erwähnungen Litauen (13,8 Prozent), Georgien (13,5 Prozent), Kanada (10,6 Prozent) und Russland (10,4 Prozent) wieder.
Aus den angeführten Daten ergibt sich, dass es in der ukrainischen Gesellschaft keine einheitliche Meinung in Bezug auf Russland und die Russen gibt. Die Stimmungen beeinflusst nicht nur die Krim-Frage, sondern auch die aktuelle Situation im Donbass, aber auch die Erklärungen der Politiker. Wladimir Fesenko, Leiter des analytischen Zentrums „Penta“, lenkte die Aufmerksamkeit darauf, dass die Erklärung von Wladimir Putin über das einige Volk und danach der Artikel des russischen Präsidenten zu dem gleichen Thema den Startschuss zu einer ganzen Serie von Erklärungen und Publikationen gegeben hätte, darunter auch in westlichen Massenmedien. Der ukrainische Politologe ist der Auffassung, dass es sich um eine „propagandistische Attacke“ handele, die als eine „informationsseitige Artillerie-Vorbereitung“ für eine neue politische und möglicherweise auch militärische Offensive gegen die Ukraine“ erfolge. Für eine gefährliche Zeit hält man in diesem Sinne in Kiew Ende August, wenn der 30. Jahrestag der ukrainischen Unabhängigkeit begangen wird.