Die globale Erwärmung erweitert die Möglichkeiten für eine Erschließung der Arktis und die Entwicklung des Nördlichen Seeweges. Gleichzeitig aber zerstört die Klimaveränderung die Infrastruktur. Für die Russische Föderation drohen die Folgen der Degradierung des Permafrostbodens, einen Schaden in einer Höhe von Milliarden Dollar zu verursachen. Die aktive Entwicklung der Region und der Nördliche Seeweg werden nicht die Verluste wettmachen können, die mit der Klima-Krise verbunden sind.
Die Durchschnittstemperatur in der Arktis steigt zweimal schneller als in der übrigen Welt. Und obwohl es die Bewohner der arktischen Breitengrade Russlands lieben, sich darüber zu amüsieren und meinen, die die globale Erwärmung ihnen nichts anhaben könne, können schon jetzt die Verluste aufgrund des Verschleißes der Infrastruktur, der direkt mit der Erwärmung in einer Verbindung steht, der russischen Wirtschaft mehr als zwei Milliarden Dollar im Jahr kosten. Solch eine Zahl nannte der russische Unternehmer Oleg Deripaska unter Berufung auf eine Untersuchung von Analytikern der Nachrichtenagentur Bloomberg.
„Folglich wird es nichts, abseits herumzusitzen und abzuwarten. Uns tangiert die globale Erwärmung ebenfalls, habt keinen Zweifel daran“, meint einer der größten Aktionäre des Unternehmens „Norilsk Nickel“, das überaus große Verluste einstecken musste, indem es eine mehrere Milliarden Rubel ausmachende Strafe für den Austritt von Treibstoffen aus einem Risse erhaltenen Tank in die Umwelt im vergangenen Jahr zahlte.
Das Problem des Auftauens des Permafrostbodens hat nicht nur Russland berührt. Festgestellt wurden bereits eine Zerstörung von Straßen und das Absacken von Häusern im Norden Alaskas. Straßen, Start- und Landebahnen und andere Infrastruktur-Objekte in der Arktis können schnell unbrauchbar werden, warnen die Autoren der Untersuchung, die in der Zeitschrift „The Cryosphere“ der European Geosciences Union (einer interdisziplinären wissenschaftlichen Gesellschaft für Forscher, die in den Geowissenschaften und benachbarten Fachgebieten arbeiten – Anmerkung der Redaktion) veröffentlicht wurde.
Die Degradierung des Permafrostbodens erfolgt in zwei Etappen: zuerst ein allmähliches anfängliches Auftauen, nach dem ein beschleunigter Prozess folgt. Das Fazit: Die aktuellen Modelle für das Tauen des ewigen Frostbodens können stark die Zeit bis zur Zerstörung der Infrastruktur unterschätzen. Der Schaden für die Russische Föderation wird von den Experten mit 2,3 Milliarden Dollar im Jahr geschätzt. Auf Alaska werden 18 Prozent der Landgemeinden einem großen Risiko aufgrund der Degradierung des Permafrostbodens ausgesetzt.
Laut Angaben der Verwaltung des russischen Katastrophenschutzministeriums für die Verwaltungsregion Krasnojarsk sind durch die Verringerung der Permafrostböden bereits fast 60 Prozent der Gebäude und Bauten in Norilsk, Igarka, Dikson und Wijuisk sowie rund 40 Prozent in Workuta deformiert worden. Das Zurückweichen der Permafrostböden ist bereits unumkehrbar, meint der Bloomberg-Analytiker Julian Lee. Die Degradierung des ewigen Frostbodens ist zu 23 Prozent die Ursache für die Ausfälle technischer Systeme und zu 29 Prozent die Ursache für die Verluste an Kohlenwasserstoffen, betonte im Mai der russischen Minister für Naturressourcen und Umweltschutz Alexander Koslow. Unter Berufung auf Daten von Wissenschaftlern aus der Moskauer Lomonossow-Universität, der Russischen Akademie der Wissenschaften und von Hydrospezgeologie betonte er, dass der wahrscheinliche Schaden aufgrund der Degradierung der Permafrostböden bis zum Jahr 2050 rund fünf Billionen Rubel ausmachen könne. Nach Aussagen des Ministers würden sich rund 65 Prozent des Territoriums Russlands (elf Millionen Quadratkilometer) heute in der Zone der Permafrostböden befinden. Davon sind 3,5 Millionen Quadratkilometer durchgängige Dauerfrostböden.
Die interdisziplinäre Regierungsgruppe von Experten für Fragen der Klimaveränderung betonte, dass die Fläche des Eises in der Arktis sich weiter verringere. Und dieser Faktor wird beinahe zum bestimmenden für die Entwicklung des Nördlichen Seeweges. Russland plant, über ihn seine Transporte zu steigern und buhlt aktiv um internationale Transporteure und Investoren für die Schaffung einer Konkurrenz zu den anderen maritimen Routen auf dem Weg aus China nach Europa.
Die Grundlage des Frachtgutstromes auf dem Nördlichen Seeweg machen derzeit für den Export bestimmte Rohstoffe aus und werden auch in der überschaubaren Perspektive dominieren (vor allem verflüssigtes Erdgas), berichtete Wjatscheslaw Rukscha, Direktor der Direktion für den Nördlichen Seeweg. Laut Angaben der Verwaltung des Nördlichen Seeweges sind im vergangenen Jahr über die Trasse 30,8 Millionen Tonnen befördert worden, darunter fast 1,3 Millionen Tonnen Transitgüter. Rukscha ist der Auffassung, dass man den Transit auf der Trasse bis auf drei bis fünf Millionen Tonnen im Jahr in den nächsten drei bis fünf Jahren erhöhen könne.
Präsident Wladimir Putin bezeichnete den Nördlichen Seeweg als „Schlüssel zur Entwicklung der russischen Arktis und der Regionen des Fernen Ostens“. Seit 2018 ist zum einheitlichen Infrastruktur-Betreiber des Nördlichen Seeweges der Staatskonzern „Rosatom“ ernannt worden. Der Leiter des Staatsunternehmens Alexej Lichatschjow berichtete, dass in der ersten Entwicklungsetappe des Nördlichen Seeweges bis zum Jahr 2024 Basisbedingungen für die Entwicklung der Infrastruktur dieses Seeweges und der Küstenterritorien geschaffen werden. (Vorgesehen ist, eine Reihe hydrografischer, Lotsen- und Rettungsschiffe in Dienst zu stellen und Objekte in den Häfen von Pewek und Sabetta zu rekonstruieren.) Die Leistung der Häfen des Nördlichen Seeweges soll bis auf 83 Millionen Tonnen und der Frachtgutumschlag bis auf 80 Millionen Tonnen im Jahr gebracht werden. In der zweiten Etappe bis zum Jahr 2030 ist geplant, Eisbrecher eines neuen Projekttyps in Betrieb zu stellen, einen Schiffsverkehr auf der gesamten Route das ganze Jahr über zu organisieren und den Frachtgutumschlag bis auf 110 Millionen Tonnen im Jahr zu bringen. In der dritten Etappe bis zum Jahr 2035 soll der Nördliche Seewege zu einem wettbewerbsfähigen internationalen und nationalen Transportkorridor mit einem Frachtgutaufkommen von bis zu 160 Millionen Tonnen im Jahr werden.
Alexander Nekljudow, Generaldirektor des Unternehmens „Rosatom Cargo“ (gehört zum Staatskonzern „Rosatom“), zeichnete ein sehr optimistisches Bild: Mit Hilfe arabischer und chinesischer Investoren hofft er, die Arbeit des „Nördlichen Seeweg-Transitkorridors“ mit einem Umfang der Transporte von acht bis zehn Millionen Tonnen im Jahr ab dem Jahr 2024 aufzunehmen.
Es sei unmöglich, den Nördlichen Seeweg zu entwickeln, nachdem man sich auf die Bahntransporte von Containern per Bahn konzentriert hatte, zumindest jetzt im Zusammenhang mit den großen Mengen an Kohletransporten, sagte am vergangenen Dienstag der Präsident des Instituts für Untersuchungen der Probleme des Bahntransports, Pawel Iwankin, bei der Rundtischdiskussion „Der Nördliche Seeweg. Ein internationaler Transportkorridor und seine Möglichkeiten“, die durch das Informations- und analytische Zentrum des Projektoffice für die Entwicklung der Arktis und die A.-M.-Gortschakow-Stiftung für öffentliche Diplomatie organisiert worden war. „Zu sagen, dass die Auslastung der BAM (Baikal-Amur-Magistrale) einer kritischen nahe ist, ist noch verfrüht. Aber ihre Ressourcen können sich als unzureichend erweisen, wenn man die großen Transporte an Kohle und das Tempo, mit denen die Container-Transporte zunehmen, berücksichtigt. Die Zunahme macht derzeit rund 20 Prozent aus. Und im Jahr 2020 ist es um 16 Prozent angestiegen“. Die Transit-Container-Transporte haben im vergangenen Jahr ganze 37,6 Prozent zugelegt, berichtete Alexander Slobodnjak, Leiter der Abteilung für die Untersuchung von Frachtguttransporten des Instituts für Probleme der natürlichen Monopole.
„Die Degradierung der Permafrostböden ist eine der vielen anderen Folgen der globalen Klimaveränderung, unter denen die katastrophalen Überschwemmungen, Brände, Hitzewellen und der Anstieg der Pegel der Weltmeere usw. sind. All diese Erscheinungen kosten in der ganzen Welt alljährlich zehntausende Menschenleben, fügen dem Wohlergehen der Menschen und der Wirtschaft einen kolossalen Schaden zu, führt zu einer erzwungenen Migration und zu sozialen Spannungen. Dabei gibt es keinerlei kurzfristigen Vorteile, sei es von der Eröffnung des Nördlichen Seeweges oder durch eine Erweiterung der Zone des Ackerbaus. Sie können nicht über den Verlusten liegen, die mit der Klimakrise verbunden sind, sagte der „NG“ der Leiter des Bereichs „Klima und Energiewirtschaft“ des russischen Greenpeace-Ablegers Wassilij Jablokow.
Derzeit gehe es eher um begreifbare Schätzungen, meint der Staatsduma-Abgeordnete Alexej Weller (Kremlpartei „Einiges Russland“). „In den letzten Jahrzehnten hat es bei uns kein Monitoring des Zustands der Permafrostböden gegeben. Erst jetzt, nach den bekannten Vorfällen in Norilsk, nehmen Wissenschaftler diese Arbeit in Angriff“, sagte er der „NG“. „Die Entwicklung der Arktis und des Nördlichen Seeweges als deren Haupttransportader geben die Hoffnung auf einen Sprung in der Entwicklung unserer Wirtschaft. Und dieser Track (Entwicklungsrichtung – Anmerkung der Redaktion) ist in den strategischen staatlichen Dokumenten festgeschrieben worden. Bei der Ausarbeitung der taktischen Dokumente jedoch, die es bisher nicht gibt, ist eine Berücksichtigung des Einflusses des Klimas auf die Infrastruktur für ein effektives Management der Entwicklung der Region absolut notwendig“.
Von einer Degradierung der Onshore-Infrastruktur in der Arktis zu sprechen, sei recht unkorrekt. Ihr Verschleiß sei ein ungleichmäßiger. Ein Teil von ihr würde noch viele Jahre ohne Probleme bestehen. Und ein Teil sei ein neuer. Im Norden würden zahlreiche Objekte errichtet werden. Daher können derzeit keiner genaue Berechnungen hinsichtlich der Schäden in der Arktis vorlegen, sagte der „NG“ Igor Pawlowskij, Direktor des Informations- und analytischen Zentrums des Projektoffice für die Entwicklung der Arktis. „Die Angaben können nur ungefähre sein, da die Objekte in der Arktis zu verschiedenen Zeiten und mit einer unterschiedlichen Festigkeitsreserve errichtet wurden“, sagt der Experte.
„Was den Gewinn durch den Nördlichen Seeweg im Falle einer Klimaerwärmung angeht, wird sich ein Vorteil aus der Entwicklung des Nördlichen Seeweges (richtiger und angebrachter wäre es, von einer Konzeption für den „Nördlichen Transportkorridor“ zu sprechen) in dem Fall ergeben, wenn sich die Sache nicht einfach auf einen Transit beschränkt. Solch ein Transportkorridor muss in erster Linie den Interessen der Wirtschaft Russlands dienen. Man muss große Logistikzentren, wo eine Vorbereitung der Waren, eine Ent- und Beladung von Containern, eine Neusortierung, Entzollung usw. möglich sind, errichten und die flankierenden Inlandstransporte über die Flüsse in die Tiefe des Festlands entwickeln. Dies wird zusätzliche Arbeitsplätze schaffen, aber auch die Entwicklung nicht nur der maritimen, sondern auch der Onshore-Infrastruktur fördern. Notwendig sind die Entwicklung der Häfen in Murmansk und im Fernen Osten als Hubs und eine Entwicklung von Service-Objekten entlang der gesamten Route im Nördlichen Eismeer“, sagt Pawlowskij.
Russland ist ein vollwertiger Beteiligter der Klima-Gespräche und muss wie auch die anderen Länder dem Kampf gegen die Klimaveränderungen eine Priorität einräumen und zum Entwicklungsweg mit einem geringeren Anteil von Kohlenstoff und Kohlenwasserstoffen so schnell wie möglich übergehen, sagt Greenpeace-Vertreter Jablokow. „Dies ist teuer, doch die Folgen der Klimakrise werden für unser Land noch teurer werden. Und von irgendeinem kompensierenden Vorteil ist in diesem Fall keine Rede. Eine optimale Lösung in dieser Situation ist der Übergang zu einem neuen Wirtschaftsmodell“, meint der Experte.