Unabhängige Zeitung

Private Tageszeitung

Handgreifliche Polizeibeamte machen ihre Opfer mitunter auch zu Angeklagten


In der Föderalen Anwaltskammer (FAK) signalisierte man eine Eskalation von Gewalt gegen Verteidiger. Die Anwälte, erinnern Experten, haben keinen staatlichen Schutz, aber es gibt auch keine speziellen Normen, die eine Haftung – bis hin zu einer strafrechtlichen – für eine Einmischung in ihre berufliche Tätigkeit vorsehen. Vorgeschlagen wird, die Handgreiflichkeiten von Vertretern der Rechtsschutzorgane mit Hilfe des Instituts von Untersuchungsrichtern zu bekämpfen.

In der jüngsten Vergangenheit haben sich mehrere Überfälle auf Anwälte in verschiedenen Landesregionen ereignet. „Über solche Vorfälle informierten unter anderem die Präsidentin der Anwaltskammer Chakassiens Tatjana Nagrusowa und die Präsidentin der Anwaltskammer des Jüdischen Autonomen Verwaltungsgebietes Tatjana Bolotowa“, berichtete man in der FAK. In Chabarowsk überfiel ein Mitarbeiter des Straßenpatrouillendienstes einen Anwalt. Der handgreifliche Vertreter des russischen Innenministeriums hatte erklärt, dass „er selbst entscheidet, wen er als Verteidiger zulasse und wen nicht“, wonach der Inspektor den Anwalt wegstieß und später ihm auch einen Arm verdreht. Die Kammer hat sich bereits an den Leiter des Untersuchungskomitees Alexander Bastrykin mit der Bitte gewandt, auf deren artige Fälle zu reagieren. Die Juristen selbst beklagen sich immer häufiger über Handgreiflichkeiten seitens Vertreter der Rechtsschutzorgane, die Anwälte aus Polizeiräumen verjagen, sie herumschubsen und schlagen und danach auch Strafverfahren gegen ihre Opfer einleiten.

Für Richter und Staatsanwälte ist schon lange eine Garantie für deren Unantastbarkeit bei der Durchführung ihrer beruflichen Tätigkeit vorgesehen. Ja, aber hinsichtlich der Verteidiger gibt es nach wie keine solche Normen. „Womit ist heute ein Anwalt „bewaffnet“? Nur mit seinem Wissen, seinen Fertigkeiten sowie dem Können, durch das Wort, die Gesetze und Logik seine Opponenten zu überzeugen.

Leider können als Antwort darauf die Maßnahmen zur Abwehr die inadäquatesten sein, bis hin zu einem physischen Vorgehen“, berichtete der „NG“ der Vizepräsident des Föderalen Verbands der Anwälte Russlands, Alexej Iwanow. Jeglicher Teilnehmer der Rechtsprechung müsse nach seinen Worten geschützt sein, „nicht nur durch die Regeln der Moral, sondern auch durch konkrete Rechtsnormen“, bis hin zu strafrechtlichen. Die Offiziellen beeilen sich aber nicht, eine Haftung für ein Einmischen in die Anwaltstätigkeit und aufgrund von Angriffen auf Leben und Gesundheit der Anwälte einzuführen, womit sie weniger geschützt sind als deren Mandanten“.

Der Anwalt sei der ungeschützteste Teilnehmer des Systems der Rechtsprechung, meint Michail Totschejew, Vizepräsident der Föderalen Anwaltskammer der Russischen Föderation, denn „eine widerrechtliche Einflussnahme auf einen Verteidiger bei Wahrnehmung der beruflichen Funktionen durch ihn wird weder durch den Gesetzgeber noch durch den Rechtsanwender als Handlungen angesehen, die auf eine Untergrabung des Prozesses einer Vornahme der Rechtsprechung abzielen“. Die Möglichkeit, ungestraft auf die Verteidigung Einfluss zu nehmen, zieht aber die Gerechtigkeit des Gerichtsaktes insgesamt in Zweifel.

Wie der Anwalt Sergej Kolosowskij gegenüber der „NG“ betonte, würden Angriffe auf Verteidiger am meisten durch Mitarbeiter der Rechtsschutzorgane vorgenommen. Es sei aber unglaublich schwer, sie dafür zur Verantwortung zu ziehen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat schon mehrfach darauf hingewiesen, dass jegliche Schikanen gegen Juristen ein Schlag gegen das konventionelle System (die Römische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten) seien und jeder Fall eine sorgfältige Überprüfung und ein unverzügliches Reagieren verlange. Die russischen Rechtsschützer und Richter fassen jedoch die Anwälte „nicht als einen untrennbaren Bestandteil des Systems der Rechtsprechung, sondern als ihre Gegner und sogar Feinde auf“. Daher „wird den Tatsachen von Übergriffen in den meisten Fällen nicht nur keine prinzipielle Wertung erteilt, sondern im Gegenteil, durch die Mitarbeiter der Untersuchungsorgane werden Versuche unternommen, die Verteidiger selbst zu den Schuldigen der Zwischenfälle zu machen“. Die Schutzlosigkeit der Anwaltschaft, sagt Kolosowskij, sei auch auf gesetzgeberischer Ebene auszumachen. Schließlich würden die meisten Normen des Kapitals 31 des russischen Strafgesetzbuches über Straftaten gegen die Rechtsprechung eine Haftung für widerrechtliche Handlungen gegen Mitarbeiter der Rechtsschutzorgane und Richter, aber nicht gegen Anwälte vorsehen.

Experten schlagen vor, die Haftung der Beamten für kein ordnungsgemäßes Reagieren auf Fälle von Übergriffen auf Anwälte zu verstärken und eine strafrechtliche Verantwortung für eine Behinderung deren Tätigkeit einzuführen. Der föderale Richter im Ruhestand Sergej Paschin bestätigte gegenüber der „NG“, dass die Rechte der Anwälte überall verletzt werden würden. Man bringe sie zwangsweise zu Vernehmungen in Bezug auf Fälle von Mandanten, dringe ungesetzlich in Dossiers der Verteidiger ein, realisiere gegen sie operative und Fahndungsmaßnahmen. „Wenn aber Untersuchungsbeamte einen Anwalt aus dem Büro werfen, ist dies nicht bloß Rowdytum, sondern eine richtige Straftat“.

Nach seiner Meinung liege die Ursache in der geringen Rechtskultur der Vertreter der Rechtsschutzorgane und der Qualität der Ausbildung der Kandidaten „für das Metier der Untersuchungsarbeiten“. Solange die Untersuchungsorgane bei der Staatsanwaltschaft arbeiteten, ergaben sich keine Zwischenfälle. Kaum dass man die staatsanwaltschaftliche Aufsicht beiseiteschob und aus dem Untersuchungskomitee eine Pyramide errichtete, verschlechterte sich drastisch die Situation hinsichtlich der Rechte der Anwälte und ihrer Mandanten. „Als man den Untersuchungsbeamten Schulterstücke und Uniformen verpasste, begannen sie, in einem größeren Maße eine Abhängigkeit von den Vorgesetzten als vom Gesetz zu spüren. Über ihnen hat sich eine riesige Anzahl von Chefs und Kontrollierenden angesammelt. Von daher gibt es Stress, den man am einfachsten am Angeklagten oder seinem Verteidiger auslassen kann“, berichtete der Experte. Nach Aussagen des Juristen seien die Untersuchungsbeamten „nicht nur prozessual, sondern auch administrativ vom Vorgesetzten abhängig. Er kann eine disziplinarische Untersuchung/Verfolgung einleiten und die Karriere behindern“.

Außerdem würde man in den Akademien die künftigen Rechtsschützer noch darauf orientieren, dass der Anwalt ein Feind sei, der anstrebe, einen Fall um jeden Preis zu kippen. Und ein Mensch in Freiheit sei Ergebnis einer mangelhaften Arbeit der Organe. Nach Meinung Paschins könnte das Auftauchen eines Instituts von Untersuchungsgerichten die Situation nivellieren, da es „in ihnen keine solche Orientierung auf eine Entlarvung gebe wie bei den einfachen Untersuchungs- und Ermittlungsbeamten“. Und folglich würde es mehr Objektivität und Konkurrenzkampf bzw. Wettstreit geben.