Es ist kein Geheimnis, dass „Nord Stream 2“, für die nur noch wenige Kilometer gebaut werden müssen, bereits bis zum Jahresende in Betrieb genommen werden kann. Das Gas, das durch sie fließen wird, wird sowohl von der deutschen als auch der europäischen Wirtschaft dringend gebraucht, zumal Deutschland zu einem Distributionshub für ganz Zentraleuropa werden kann. Gas wird in Europa noch mehr als ein Jahrzehnt nötig sein.
Dies erklärte Bundeskanzlerin Angela Merkel dieser Tage auf einer Pressekonferenz mit dem ukrainischen Präsidenten Wladimir Selenskij. Nach ihren Worten rechne Europa damit, bis zum Jahr 2050 eine Klimaneutralität zu erreichen. Deutschland werde sich schon 2045 klimaneutral aufstellen. Und bis dahin werde der Bedarf an russischem Gas sich wesentlich verringern, wenn gar nicht ganz verschwinden. Bis dahin aber wird Europa, und in erster Linie Deutschland, das auf eine Nutzung von Kohle verzichten will und im kommenden Jahr die letzten AKW stilllegt, ohne Gas nicht auskommen.
Dies begreifen die Politiker aller deutschen Parteien, mit Ausnahme der GRÜNEN. Ja, und die machen sich in dieser Hinsicht mehr Sorgen um die Notwendigkeit einer Auslastung des ukrainischen Gastransportsystems als um einen vollkommenen Verzicht auf Erdgas. Sowohl der Kanzlerkandidat von CDU/CSU Armin Laschet als auch der zum Spitzenreiter gewordene Kandidat der Sozialdemokraten Olaf Scholz unterstützen den Bau und die Inbetriebnahme von „Nord Stream 2“. Sie halten sie für ein rein wirtschaftliches Vorhaben und weisen alle Erfindungen zurück, die unter anderem von den Gegnern der Gaspipeline in den USA verbreitet werden und wonach sie zu einem Instrument für die Ausübung politischen Drucks auf die BRD und Europa werden könne.
Die vollwertige Nutzung von „Nord Stream 2“ stößt jedoch auf schwierige bürokratische Probleme. Sie hängen mit dem Dritten Energiepaket der EU (Third Energy Package) zusammen. Es handelt sich dabei um gesetzliche Regelungen der Europäischen Union zur Liberalisierung das Gas- und des Energiemarktes, die durch den Europarat und das Europaparlament im Juli 2009 verabschiedet wurden und am 3. September des gleichen Jahres in Kraft traten. Ein Schlüsselaspekt dieses Pakets von Direktiven und Regelwerken der EU ist die Einschränkung der Monopolstellung von Gas- und Stromlieferanten, die die Lieferungen konkurrierender Energiekonzerne durch den Besitz der Liefernetze bis zu den Verbrauchern (Gaspipelines, elektrische Leitungsnetze usw.) blockieren. Formell harmoniert das Dritte Energiepaket mit der Initiative zur Entwicklung liberaler europäischer Werte, solcher wie „Europa 2020“. In der Praxis aber ist die eine harte Antikartellgesetzgebung, die man als eine Spielart von Sanktionen anwenden kann.
Das hauptsächliche juristische Ziel des Dritten Energiepakets ist, keine Situationen zuzulassen, in denen Monopolisten, die Energieträger liefern, den Zugang der Konkurrenten zu den Verbrauchern durch den Besitz der Distributionsnetze blockieren. Wenn ein Monopolist solche Netze besitzt, muss er 50 Prozent deren Kapazität den Mitbewerbern zur Verfügung stellen. Er darf sie nicht allein nutzen oder diese Netze an unabhängige Betreiber verkaufen.
Freilich, es gibt Ausnahmen. Wenn es keine Konkurrenten gibt, die die Energienetze des Monopolisten nutzen wollen, oder diese kein Interesse für sie bekunden, kann die Europäische Kommission als eine Ausnahme dem Monopolisten das Recht auf eine alleinige Nutzung einräumen.
Gerade die Regel der Trennung zwischen Lieferanten und Besitzer der Pipeline ist auch hinsichtlich „Nord Stream 2“ angewandt worden. Im Jahr 2019 weitete die EU die Antimonopolgesetzgebung auf den maritimen Teil der Gasleitung aus, die deren vollkommene Nutzung einschränkt. Zu jener Zeit hätte die Gaspipeline aber noch unter die Ausnahmeregel fallen können, wenn die Bauarbeiten bis zum 23. Mai 2019 abgeschlossen worden wären, das heißt bis zum Inkrafttreten der neuen Einschränkung. Und diese Ausnahmeregelung hätte auch Deutschland als erstes europäisches Land, über dessen Territorium die Gaspipeline verläuft, auch beantragt.
Man kann nicht sagen, dass dies eine Überraschung für „Gazprom“ war. Die Sache ist die, dass die Bundesnetzagentur Deutschlands bereits vor einigen Monaten einen Antrag vom Betreiber der Leitung „Nord Stream 2“, von der in der schweizerischen Stadt Zug registrierten Nord Stream 2 AG auf eine Zertifizierung als unabhängiger Betreiber des Gastransportsystems erhalten hatte. Diese Entscheidung wird aber seitens der EU so interpretiert, dass die Nord Stream 2 AG Betreiber der ganzen Leitung bis zur deutschen 12-Meilen-Zone sein kann. Der letzte Abschnitt bis zum Erreichen des Festlands muss aber einem unabhängigen Betreiber übergeben werden.
Die Bundesnetzagentur antwortete unter Verweis auf die oben erwähnte Direktive mit einer Ablehnung, und die Nord Stream 2 AG versuchte erfolglos, diese Entscheidung im Oberlandesgericht Düsseldorf anzufechten. Zu einem formalen Grund für die Ablehnung wurde das, dass die Gaspipeline nicht bis zum 23. Mai 2019 fertiggebaut worden war. Möglicherweise hängen derartige negative Entscheidungen unter anderem damit zusammen, dass in dieser schweizerischen Firma Kapitalanteile der Firma Gazprom International Project LLC gehören, die eine „Gazprom“-Tochter ist. Wahrscheinlich liegt aber alles an den deutsch-russischen Vereinbarungen, die damit zusammenhängen, dass die USA zustimmten, die Inbetriebnahme von „Nord Stream 2“ unter der Bedingung einer Einhaltung der Regeln des Dritten Energiepakets nicht zu behindern.
Unter den sich ergebenen Bedingungen tauchten in der deutschen Presse Meldungen über einen möglichen Verkauf von „Nord Stream 2“ auf.
Was steht hinter der Ablehnung der Bundesnetzagentur und des Oberlandesgerichts Düsseldorf? Vor allem das, dass selbst eine für „Gazprom“ positive Entscheidung keine endgültige gewesen wäre, da man sie in Brüssel doch hätte billigen müssen. Andererseits will man „Gazprom“ offensichtlich zur Annahme einer Entscheidung über Lieferungen der durch das Dritte Energiepaket blockierten Gasmengen durch das ukrainische Gastransportsystem veranlassen. Unter diesen Bedingungen sind für „Gazprom“ folgende Varianten außer eines Anfechtens der Entscheidung des Düsseldorfer Gerichts in den obersten Gerichtsinstanzen möglich. Dazu gehört der Zugang anderer Lieferanten zur Pipeline. In der russischen Presse tauchten in diesem Zusammenhang bereits Meldungen über eine Bereitschaft von „Rosneftj“ auf, an „Gazprom“ bis zu zehn Milliarden Kubikmeter Gas im Jahr zu verkaufen und sie über „Nord Stream 2“ zu liefern. In diesem Fall muss bewiesen werden, dass der neue Lieferant ein unabhängiger ist und das durch die Pipeline zu liefernde Gas formal „Gazprom“ nicht gehört.
Aus der Sicht von Igor Juschkow, eines leitenden Analytikers der Stiftung für nationale Energiesicherheit, könnte „Gazprom“ die Punkte für die Übergabe und Übernahme des Gases in den Verträgen mit den europäischen Kunden in die Ostsee verlegen, zwölf Meilen von der deutschen Küste entfernt, wo die europäische Gesetzgebung zu wirken beginnt. Diese Punkte würden virtuelle sein, doch die EU-Regeln würden formell eingehalten werden.
Vorerst aber hat „Gazprom Export“ aufgehört, Gas über seine elektronische Plattform für das Jahr 2022 zu verkaufen, meldete die Nachrichtenagentur Bloomberg. Im Ergebnis dessen könnten es die europäischen Trader nicht schaffen, ihre Speicher bis zum Anbruch des Winters in ausreichendem Maße aufzufüllen. Die Gaspreise würden drastisch zunehmen, und die Europäer könnten den bevorstehenden Winter ordentlich frieren.