Das „Blockadebuch“ von Ales Adamowitsch und Daniil Granin ist etwas mehr als 40 Jahre alt. Die Geschichte seiner Veröffentlichung hatte sich als eine so dramatische erwiesen, so dass Forscher nach wie vor neue und neue Details erschließen, die mit dem Werk zusammenhängen, das von Historikern als „Leningrader Bibel“ bezeichnet wurde. Wie die Autorin des Projekts („Die Menschen möchten es wissen: Die Geschichte der Gestaltung des „Blockadebuchs“ von Ales Adamowitsch und Daniil Granin“, Sankt Petersburg: Verlag der „Puschkin-Stiftung“, 2021) und Schriftstellerin Natalia Sokolowskaja meint, hatten Adamowitsch und Granin im „Blockadeversuch“ versucht, nicht nur die Zensur-Hürden zu überwinden. Sie hatten den Versuch unternommen, das Monopol des Staates auf ein Recht zu überwinden, auf das Recht der Menschen zu wissen und zu gedenken. Darunter die wahre Zahl der Blockadeopfer. Schließlich entwickelt sich gerade vor allem um diese auch die schwierige Geschichte der Publikation des „Blockadebuchs“.
In der Stiftung für die Bewahrung und Popularisierung des Erbes von Daniil Granin werden über einhundert Karteikarten mit Angaben zu Menschen aufbewahrt, die ihre Erinnerungen den Schriftstellern mitgeteilt hatten. Dies sind unterschiedliche Menschen, verschiedene Biografien. Aber sie haben, wie Granin sagte, „ein Schicksal – das Leningrader, eines der Blockade“. Es gibt auch ein Stenogramm eines Gesprächs mit Iwan Andrejenko, der in jenen Blockadejahren die Handelsabteilung leitete und stellvertretender Vorsitzender des Exekutivkomitees des Leningrader Stadtsowjets der Abgeordneten der Werktätigen war. Damals hatte absolut jeder Einwohner seinen Vor- und Nachnamen gekannt. Aber dann ist dieser Mann faktisch aus den Erinnerungen des Volkes verschwunden…
Die Normen für Lebensmittel wurden im belagerten Leningrad einmal in zehn Tagen überprüft und revidiert. Unter jeder Mitteilung über sie stand die Unterschrift von Andrejenko. Seine Auftritte hatte man sich mit Ungeduld und stockendem Herzen dreimal im Monat im Rundfunk angehört oder in der Zeitung nachgelesen, mit einem Gefühl von Enttäuschung und einer nicht wiederzugebenden Gereiztheit („und wieder eine weitere Sinfonie Andrejenkos!“), aber auch noch mit Humor (die nicht todzukriegende Lebenskraft der Einwohner Leningrads). Er hatte sogar einen Spitznamen im Volk – „Vater des Essens“. Ihm widmete man gleichfalls Verse. „Was wird uns heute Andrejenko geben?“. Jedes Mal hatten sich dies die Menschen einander gefragt. Und dies war im buchstäblichen Sinne eine Frage von Leben und Tod.
Im Gespräch mit den Schriftstellern hatte Andrejenko die wichtigsten Zahlen genannt: Wie viele Einwohner Leningrads in jenen 872 Tagen den Hungertod gestorben waren. Er berichtete, dass zum 8. September 1941 in Leningrad 2,544 Millionen Menschen gelebt hatten. In den Vororten 38.000. Bis zum Oktober 1942 war es gelungen, aus der belagerten Stadt 961.079 Menschen zu evakuieren. 1943 waren in Leningrad 700.000 Menschen geblieben. Das bedeutet, dass mindestens 900.000 Stadtbewohner ums Leben gekommen waren.
Damals, in jenen Jahren durfte man auf keinen Fall solche Zahlen nennen! Bekanntlich hat die offizielle Zahl der ums Leben gekommenen Menschen einst die Außerordentliche Staatskommission für die Aufklärung der Untaten der deutsch-faschistischen Eroberer bestimmt – 632.253 Menschen. Sie figurierte beim Nürnberger Prozess, wurde in allen Dokumenten über den Zweiten Weltkrieg ausgewiesen und galt faktisch als eine unumstößliche. Daher hatte Andrejenko gebeten, die von ihm genannte Zahl nicht auszuweisen: „Wir werden dies nicht (wieder) aufrollen“.
Andrejenko erzählte den Schriftstellern auch von jenen wichtigen Dezembertagen von 1942, als die schicksalhafte Entscheidung getroffen worden war, ab dem 25. den Arbeitern die Brotration um 100 Gramm zu erhöhen, und den übrigen Bevölkerungsgruppen um jeweils 75 Gramm. „Ich muss Ihnen sagen, dass die Zulage natürlich eine geringe war. Aber wie wird das Volk, verstehen Sie einmal, dies aufnehmen?! (Damals hatte man sich auch damit befasst, wie das Volk darauf reagieren wird). Denn die Menschen hatte nicht gewusst (dies war am Abend beschlossen worden), dass sie in den Brotladen kommen werden, ins Geschäft, und man wird ihnen nicht 125 Gramm geben, sondern 200 Gramm. Die Menschen verspüren in dieser Sache Kraft nicht so sehr dadurch, dass sich der Mensch an diesen draufgeschlagenen 75 Gramm satt zu essen beginnt, nein, sondern einen Glauben daran, dass die Sache doch darauf hinausläuft, dass wir diesen Faschisten bezwingen und mit den Fragen im Zusammenhang mit der Versorgung fertig werden“.
Beim Erzählen über Andrejenko stellen Adamowitsch und Granin dahingehend Überlegungen an, dass „jeder Leiter, ob er dies nun will oder nicht, im Volk einen Ruf hat. Diesem Schicksal kann man nicht entrinnen. Und umso mehr der Mann, der Ihnen ein Urteil mitteilte: leben oder nicht leben, wird es eine Erhöhung oder im Gegenteil eine Verringerung der bescheidenen Brotration geben… Die Anforderung gegenüber solch einem Menschen ist eine besonders große“. Andrejenko hatte nicht gehungert, aber auch keine Fettlebe gemacht. Hatte er die Situation mit den Lebensmitteln in jener Blockadezeit beeinflussen können? Die Frage ist eine offene. Möglicherweise werden die Erforscher der Blockade irgendwann einmal die Antworten finden können.
Wie aber gestaltete sich das Leben des Mannes, der in den Kriegsjahren vielen als ein allmächtiger erschienen war, da er lange Zeit eine so „kalorienreiche“ Funktion bekleidet hatte? „Iwan Andrejenko ist unbedingt eine markante Figur jener Zeit“, meint Alexander Smirnow, Mitarbeiter des Staatlichen Museums für die politische Geschichte Russlands. Heute ist jedoch nicht einmal bekannt, wo Iwan Andrejenko beigesetzt wurde. Es hatte sich so ergeben, dass er wie auch viele andere Führungskräfte Leningrads, nachdem er Ende der 30er Jahre den Großen Terror überlebt, in der Stadt den ganzen Großen Vaterländischen Krieg gearbeitet sowie zwei Orden – den Lenin-Orden und den Rotbanner-Arbeitsorden – erhalten hatte, von der „Leningrader Affäre“ plattgemacht wurde, die selbst Tschekisten-Geheimdienstler als einen „schmutzigen und rätselhaften“ bezeichneten (Leningrader Affäre – eine Serie von angeblichen kriminellen Fällen, die Ende der 1940er Jahre im Bereich der Leningrader Parteigliederung der KPdSU stattgefunden haben sollen, deren Opfer wurden viele Leningrader Funktionäre wurden, vor allem Anhänger des Politbüromitglieds und Leningrader Parteisekretärs Andrei Schdanow, der bis zu seinem Tod im Sommer 1948 neben Stalin der mächtigste Mann in der Sowjetunion war – Anmerkung der Redaktion). Eben dies ist auch die Erklärung, warum dieser Mann für mehr als ein Jahr aus dem historischen Raum verdrängt worden war.
Das Staatliche Museum für die politische Geschichte Russlands sammelt nicht erst seit einem Jahr Materialien im Zusammenhang mit der „Leningrader Affäre“, die auch heute eine Vielzahl „weißer Flecken“ aufweist. Die bis zum heutigen Tag zusammengetragenen Dokumente spiegeln am vollständigsten ihre Dimension und ihren Charakter wider. Museumsmitarbeitern ist es gelungen, über einhundert Fotografien von Repressionen ausgesetzten Führungskräften aufzufinden, die aus den gesellschaftlichen Erinnerungen herausgestrichen wurden und von denen es nicht einmal in den Archiven Aufnahmen gibt. Folglich ist das sich heute im Fundus des Museums befindliche Foto von Andrejenko eine Rarität.
Alexander Smirnow zeigte noch eine Reliquie des Museums – einen Personalbogen, der von Iwan Andrejenko ausgefüllt wurde. Aus diesem Dokument erfahren wir, dass er in der Familie eines Arbeiters (eines Weichenwärters) an der Bahnstation Kupjansk-Uslowaja des Verwaltungsgebietes Charkow am 25. September 1905 geboren wurde. Der Kommunistischen Partei trat er 1926 bei. 1934 beendete er ein Studium am Leningrader Institut für Handel und Warenkunde. Danach studierte er ein Jahr lang als Doktorand. Den sicheren Weg einer Partei- und Beamtenkarriere schlug er 1936 ein. Ab Januar 1939 – Mitglied des Präsidiums und Leiter der Abteilung für Handel des Leningrader Sowjets. Bereits im Sommer des gleichen Jahres wird er als ein Stellvertreter des Vorsitzenden des Leningrader Sowjets bestätigt. Mit 34 Jahren!
Vor nicht allzu langer Zeit sind als geheime eingestuft gewesene Briefe freigegeben worden, die Einwohner von Leningrad in den Blockadejahren an die Lebensmittelkommission des Militärrates der Leningrader Front geschickt hatten. In dem Buch „Im Griff des Hungers. Die Blockade Leningrads in Dokumenten deutscher Geheimdienste und des NKWD sowie Briefen von Leningradern“ von Prof. Dr. sc. hist. Nikita Lomagin ist unter vielen anderen solch ein Brief eines anonymen Autors publiziert worden: „…Dank Ihrer weisen Führung ist die bis zum geht nicht mehr überfüllte Stadt Lenins zu einer Hungerration übergegangen und stirbt vorerst noch einen langsamen Tod aufgrund Unterernährung. Aber wo, Genosse Andrejenko, sind die Mobilisierungsreserven für den Kriegsfall? Schließlich dauert der Krieg gerade einmal viereinhalb Monate an! Und was für Idioten haben Lebensmittel aus Leningrad gebracht und nicht die Bevölkerung evakuiert? Womit haben die gedacht – mit dem Kopf oder dem Hintern?“ Was konnte Andrejenko als Antwort erwidern? Wir wissen nicht, ob er sich die Frage danach stellte, ob er alles Mögliche in seinem Amt getan hatte. Er hat keinerlei schriftlichen Zeugnisse über sein Leben, Überlegungen und Erklärungen für die einen oder anderen Taten hinterlassen. Auf jeden Fall ist den Historikern nichts darüber bekannt.
„Iwan Andrejenko gehörte zu der vom Leben gebeutelten Generation, die es vorgezogen hatte, sich nicht unnötig über das schmerzhafte Thema zu äußern und zu schweigen“, meint der Leiter des Lehrstuhls für neueste Geschichte Russlands am Institut für Geschichte der Staatlichen Universität von Sankt Petersburg, Dr. sc. hist. Michail Chodjakow.
Nach dem Krieg, 1946, hatte es Andrejenko wie auch viele andere Leningrader Führungskräfte nach Moskau verschlagen. Er wurde zu einem Abteilungsleiter der Personalverwaltung des ZK der Kommunistischen Allunions-Partei (Bolschewiki). Ein hohes Amt. Und 1949 ging er ins Baltikum, wo er das Amt des stellvertretenden Handelsministers der Estnischen SSR für allgemeine Fragen einnahm. 1950 war er in Untersuchungshaft und wurde zu 15 Jahren Freiheitsentzug verurteilt. Die Anklage war eine standardgemäße: „Iwan Andrejenko hatte als ein Alexej Kusnezow, Pjotr Popkow und Pjotr Lasutin nahestehender zusammen mit ihnen staatliche Mittel und Nahrungsmittel verschwendet“.
„Es ist bekannt, dass sich der Hauptteil der Dokumente zur „Leningrader Affäre“ bei uns in Russland unter Verschluss befindet. In Estland sind sie freigegeben worden“, berichtete Chodjakow. „In Estlands Archiven habe ich die persönlichen Unterlagen estnischer Führungskräfte studiert und sehr damit gerechnet, eine Akte von Iwan Andrejenko zu finden. Aus unbekannten Gründen hatte sie es aber dort nicht gegeben“. Vier Jahre verbrachte Andrejenko in der Haft, wurde 1955 rehabilitiert und bekleidete, nachdem er nach Leningrad zurückgekehrt war, bis zur Pensionierung das Amt des Direktors der Höchsten Handelslehrgänge des Ministeriums für Handel der RFSFR.
In seinen Memoiren hat der Leningrader Boris Michailow über Iwan Andrejenko solche Zeilen niedergeschrieben: Er „starb 1987 im Leningrader Krankenhaus für Patienten mit chronischen Erkrankungen, verlassen von seinen Kindern und Verwandten“. Ob dies die Wahrheit ist? Es ist unbekannt. Eines wissen wir aber genau: Wenn es die „Leningrader Affäre“ nicht gegeben hätte, hätten sich die Moleküle des Schicksals von Iwan Andrejewitsch (Andrejenko) ganz anders gruppieren können.