Die am 7. Oktober erfolgte Absetzung von Dmitrij Rasumkow als Vorsitzenden der Werchowna Rada (des ukrainischen Parlaments – Anmerkung der Redaktion) kann den Mechanismus für die Vorbereitung zu vorgezogenen Parlamentswahlen in Gang setzen. Obgleich alle Oppositionskräfte an solch einem Szenario interessiert sind, haben die Personalentscheidungen der regierenden Partei nur wenige ihrer politischen Gegner unterstützt. Die meisten waren sich aber in der Meinung einig, dass sich jetzt die ganze Macht im Land in den Händen von Präsident Wladimir Selenskij befinden würde.
Von einer Machtusurpation sprachen lauter als die anderen in der Werchowna Rada die Mitglieder der Partei „Europäische Solidarität“ von Petro Poroschenko. Ihre Vertreterin Irina Gerastschenko erklärte, dass der Hauptgrund für die Entlassung Rasumkows der Wunsch der präsidententreuen Partei „Diener des Volkes“ sei, die Absicht von Wladimir Selenskij zu befriedigen. Nach Aussagen von Gerastschenko habe der Präsident die Aufgabe gestellt, in alle Schlüsselämter „zu 200 Prozent eigene Leute“ zu bringen. Und in diesem System müsse der Vorsitzende der Werchowna Rada ein „handsamer“ sein. Noch ein Vertreter der Poroschenko-Partei – Artur Gerassimow – ist der Auffassung, dass die Ablösung von Rasumkow nicht bloß eine Personalentscheidung sei. „Was ab dem morgigen Tag beginnen wird, kann man sich nur vorstellen, denn die Machtusurpation erfolgt mit einem Wahnsinnstempo“. Die Abgeordnete Viktoria Sjumar von der Partei „Europäische Solidarität“ betonte in ihrer Wortmeldung, dass „der Weg der Diktatur (der ukrainischen Politiker – „NG“) maximal bis Rostow (Anspielung auf Ex-Präsident Janukowitsch, der in diese russische Stadt geflohen war – Anmerkung der Redaktion) führen wird“.
Historische Parallelen klangen auch im Auftritt des Vertreters der „Golos“-Fraktion Sergej Rachmanin an. Er erinnerte sich, wie er als Journalist arbeitend 1995 mit dem heute nicht mehr lebendem Vater von Dmitrij Rasumkow, mit Alexander Rasumkow, gesprochen hatte, den der damalige Präsident Leonid Kutschma als seinen ersten Berater entlassen hatte. Nach Aussagen Rachmanins hätte Rasumkow Senior als reale Gründe für seine Ablösung gesagt, dass der Präsident „müde geworden ist, einen Standpunkt zu hören, der sich von seinem eigenen unterscheidet“. Wenn es um eine Privatperson gegangen wäre, wäre dies normal gewesen. Wenn es aber um den Präsidenten gehe, so sei die Situation für den Staat gefährlich, gab Sergej Rachmanin die damalige Position von Alexander Rasumkow wieder. Er deutete an, dass sich mit Dmitrij Rasumkow auch solch eine Situation wiederholen würde. Und er schlug den heutigen Herrschenden vor, nicht das Gesetz des politischen Lebens zu vergessen: „Wenn Sie jetzt am Tisch sitzen, bedeutet dies nicht, dass Sie morgen nicht auf der Speisekarte sein werden“.
Die Partei „Diener des Volkes“ hatte ihrer früheren Nummer 1 in den Kandidatenlisten bei den Wahlen von 2019 nicht wenige Beanstandungen vorgebracht. Viele im Saal amüsierte die Frage des Abgeordneten Vladlen Nekljudow, warum Dmitrij Rasumkow nicht den Oppositionsvertretern das Mikrophon abgeschaltet hatte, die in den Wortmeldungen Präsident Selenskij kritisiert und beleidigt hatten. Über ernsthafte Gründe für die Personalentscheidung sprach in seiner Wortmeldung der Chef der Partei „Diener des Volkes“ Alexander Kornijenko: „Wir müssen den Mut haben, unseren Wählern offen zu sagen, dass Dmitrij Alexandrowitsch (Rasumkow – „NG“) von den generellen Prinzipien abgewichen war und nicht mehr Mitglied unseres Teams ist und nicht mehr unsere Partei in solch einer hohen Funktion vertreten kann“. Er erinnerte an eine Reihe von Fällen, in denen die Position des Vorsitzenden der Werchowna Rada nicht mit der Parteilinie übereinstimmte, wobei er dies mit dem Satz markierte: „…irgendwer hatte entschieden, dass die eigenen politischen und sogar Lebensambitionen über den Zielen und Absprachen des Teams stehen“.
Der Auftritt Kornijenkos erinnerte die Alteingesessenen des ukrainischen Parlaments an noch eine historische Parallele, die mit der 1996 durch Präsident Leonid Kutschma getroffenen Entscheidung über die Entlassung von Jewgenij Martschuk als Premierminister zusammenhängt. Damals hatten die Mitarbeiter der Präsidialadministration bei der Erläuterung der Ursachen für die überraschende Personalumbesetzung die Formulierung „für die Schaffung eines eigenen politischen Images (durch Martschuk – „NG“)“ verwendet. Diese Formulierung wurde sofort zu geflügelten Worten. Und die in den 1990er Jahren verfolgte Politik, die auf einer Machtkonzentration in den Händen des Präsidenten beruhte, führte zu massenhaften Protestaktionen (der orangenen Revolution von 2003 und 2004).
In den Wortmeldungen von Oppositionsvertretern klang die These an, dass Rasumkow im Amt des Vorsitzenden der Werchowna Rada die Rolle einer „Sicherung vor Autoritarismus“ gespielt habe, da er bestrebt gewesen sei, nicht über den Rahmen des Gesetzes hinauszugehen. Wie das Mitglied der Partei „Golos“ Jaroslaw Schelesnjak in den sozialen Netzwerken schrieb, sei Rasumkow in Ungnade seines Teams gerade deshalb gefallen, weil er das Gesetz befolgt habe. „Jetzt sind keine Menschen an der Macht geblieben, die imstande sind, dem Präsidenten „nein“ zu sagen. Jetzt – nur „ja““.
Rasumkow selbst betonte in seiner Ansprache vor den Abgeordneten, dass er weiter die Wahlkampfversprechen erfüllen werde, die das Selenskij-Team den Wählern im Jahr 2019 gegeben hatte. „Wir waren angetreten, um die Ukraine zu einer anderen zu machen, zu einer besseren. Alle hatten aufrichtig daran geglaubt. Ich erinnere mich, wie die Augen jener leuchteten, die in unser Team gekommen waren. Heute sehe ich im Saal bereits andere Augen. Sie haben sich stark verändert. Ich habe die ganze Zeit versucht, so zu handeln, dass ein Teil der Versprechen zu einer Realität werden…“. Rasumkow ist der Auffassung, dass viele seiner ehemaligen Kameraden den Prinzipien untreu geworden seien. „Als wir ins Parlament einzogen, haben wir das eine gesagt: Wir müssen zu Politikern werden, aber Menschen bleiben. Lasst uns zumindest dieses Versprechen erfüllen“.
Vertreter der Opposition denken, dass dieser Auftritt keinen Sinngehabt hätte. Einer der Anführer der „Oppositionsplattform – Für das Leben“, Jurij Boiko, betonte, dass er bereits mehrere Tage Auftritte von Mitgliedern der Partei „Diener des Volkes“ höre und erstaunt sei: „Wir sind buchstäblich in die Zeiten zurückgekehrt, von denen wir glücklicherweise nur aus Spielfilmen wissen, in das Jahr 1937. Irgendwem wirft man kollektiv vor, dass er ein Volksfeind sei. Und jedes Mitglied des Kollektivs muss kommen und erklären, dass der Angeklagte ein Spion sei, dass er schlecht gearbeitet habe…“. Boiko erklärte zugleich, dass seine Partei nicht für die Ablösung von Rasumkow stimmen werde, „denn dies sind rein politische Intrigen, die in einer für das Land schweren Zeit gesponnen werden“. Die Vertreter der Julia-Timoschenko-Partei „Bakiwstschina“ hatten dagegen entschieden, für die Ablösung Rasumkows gerade deshalb zu votieren, da die Ukraine schwere Zeiten durchmache. Wie das Parteimitglied Sergej Wlassenko von der Parlamentstribüne aus erklärte, bedeutet der Wechsel der Parlamentsführung den Beginn der Vorbereitung zu vorgezogenen Wahlen. Und die Opposition sei daran interessiert, die Herrschenden abzulösen. Andernfalls sei es unmöglich, die sich angehäuften Probleme zu lösen. Letztlich stimmten 284 Abgeordnete bei einer erforderlichen Anzahl von 226 Stimmen für die Ablösung.
Nachdem diese Frage geklärt war, schickte sich die Werchowna Rada an, eine neue Führung zu benennen. Für das Amt des Parlamentschefs schlug die Regierungspartei den 1. Stellvertreter Rasumkows vor – Ruslan Stefantschuk. Und für das Amt des 1. Stellvertreters des Rada-Vorsitzenden – den Führer von „Diener des Volkes“ Alexander Kornijenko. Vor Behandlung dieser Frage waren aber Konsultationen erforderlich. Die Stimmen hätten nicht ausreichen können, da die Partei „Batkiwstschina“ gewarnt hatte, dass sie nicht den Kandidaten unterstütze, der von der regierenden Partei vorgeschlagen werde. Die Konsultationen zogen sich in die Länge. Am Donnerstag war die Rada ohne einen neuen Vorsitzenden geblieben, was jedoch am Freitag Geschichte wurde. 261 Abgeordneten stimmten letzten Endes für Ruslan Stefantschuk – bei drei Gegenstimmen und 63 Enthaltungen.