In Russland muss wohl als wichtigstes Ereignis des Novembers und möglicherweise auch des gesamten Jahres im Zusammenhang mit der Außenpolitik die Tagung des Kollegiums des Außenministeriums anerkannt werden. Allein die Tatsache ihrer Durchführung – ja und noch unter Beteiligung des Staatsoberhauptes – ist schon bemerkenswert, denn derartiges passiert nicht sehr oft. Und da hatte auch noch Wladimir Putin gesprochen, wobei er sich in den Formulierungen absolut nicht gescheut hatte, damit rechnend, dass ihn alle interessierten Personen sowohl in Russland als auch im Ausland eindeutig verstehen.
Also denn, was hatte da der Präsident gesagt? Kurz gesagt – dies, dass die Zeit, in der man versucht hatte, sich mit den USA und Europa einvernehmlich zu einigen, vorbei sei. Nunmehr werde die Außenpolitik Russlands einem Ziel untergeordnet: den „westlichen Partnern“ ihren Platz zu zeigen. Weder der internationale Terrorismus, wie in früheren Jahren, noch die Türkei, die immer aktiver ihre globalen Ambitionen signalisiert, darunter hinsichtlich der russischen Einflussgebiete mit einer turk-sprachigen Bevölkerung, und umso mehr weder China sind das Problem Nummer 1. Zur Hauptursache der Kopfschmerzen der für die russische Außenpolitik Verantwortlichen sollen die NATO-Erweiterung gen Osten und die militärischen Aktivitäten des Westens unweit der russischen Grenzen werden. „Ja, wir bekunden ständig unsere Besorgnis aus diesem Anlass, sprechen von „roten Linien“. Wir verstehen aber natürlich, dass unsere Partner sehr eigenartige sind und sich so – um es einmal gelinde zu sagen – sehr oberflächlich gegenüber all unseren Warnungen und Worten von den „roten Linien“ verhalten“, sagte der Präsident.
Da es nicht im Guten geklappt hat, den Westen zu überzeugen, müsse auf schlechte Art und Weise gehandelt werden. „Bekannte Spannungen“ hätten sich bei den westlichen Partnern bereits gegeben, und es sei notwendig, wie Putin unverblümt sagte, „dass dieser Zustand bei ihnen so lange wie möglich anhält, damit ihnen nicht in den Sinn kommt, uns an unseren westlichen Grenzen irgendeinen für uns unnötigen Konflikt zu verursachen“. Gleichzeitig damit müsse man den Westen vor die Frage nach der Gewährung „ernsthafter Sicherheitsgarantien“ stellen. Wobei sich damit, wie aus den Worten Putins folgt, gerade die Diplomaten befassen müssten. Die Präzisierung ist keine überflüssige: Es ist kein Geheimnis, dass die russische Außenpolitik heutzutage nicht nur allein im Außenministerium gestaltet wird.
Wie Putin diese Sicherheitsgarantien sieht – im Idealen und in einer minimal akzeptablen Variante -, hat er nicht konkretisiert. Seinen Zuhörern blieb nur, Versionen zu entwickeln und historische Analogien zu suchen, aus denen sich in erster Linie natürlich die Abkommen von Jalta aufdrängen. Das heißt, eben jene vom Wesen zurückgewiesene und beschimpfte Variante von einer Aufteilung der Einflusssphären. Bereits in den 1990er Jahren hatte der schwedische Diplomat Anders Åslund entsprechend einer Analogie zur Monroe-Doktrin die Idee von einer Anerkennung der ausschließlichen Rechte Russlands, die Situation in den früheren Sowjetrepubliken zu beeinflussen, als eine „Monroesche Doktrin“ bezeichnet. Und da hatte er auch begründet, warum sie dem Westen niemals passen werde: Die Werte der Demokratie seien universell. Man kann von ihnen nicht abgehen, man könne sie nicht durch die Rahmen staatlicher Grenzen einschränken. Ihnen gehöre die Zukunft, die Logik des historischen Prozesses. Und könne man etwa diese Logik besiegen?
Das könne man, antwortet man jetzt bestimmt in Russland. Diesen dreisten historischen Optimismus suggerieren wohl sicher die jüngsten Ereignisse. Bei weitem nicht nur die USA, sondern auch die NATO insgesamt haben in Afghanistan ein großes Fiasko erlitten. Alexander Lukaschenko hat wohlbehalten den revolutionären Ansturm abgewehrt. Mehr noch, der Westen selbst befindet sich derzeit in der Lage eines sich verteidigenden. Er wehrt sich gegen Migrantenwellen, wobei er sowohl Ansehens- als auch materielle Verluste erleidet. Der Westen hat Schwäche gezeigt. Folglich kann man auf ihn Druck ausüben und vor ihm „rote Linien“ aufzeichnen. In der Hoffnung darauf, dass man sich nicht dazu entschließt, sie zu übertreten.
Dazu gibt es natürlich eigene Einwände. In erster Linie kommen da zahlreiche und erneut historische Analogien in Erinnerung, die belegen, dass man den Westen mehrfach für einen schwachen gehalten hatte. Und wie immer verkehrte sich die „allgemeine Krise des Kapitalismus“ in eine Krise gerade für die Gegner des Westens. Außerdem sind für die Vereinigten Staaten derzeit sowohl Afghanistan als auch selbst Russland eine zweitrangige geopolitische Front, wo Rückzüge nicht fatal sind.
Rasant verstärkt sich die Konfrontation Washingtons und Pekings. Zu einem Schlüsselpunkt in ihr wird Taiwan. Die Versuche von Joseph Biden und Xi Jinping, die bestehenden Meinungsverschiedenheiten auf dem Wege persönlicher Gespräche zu lösen, haben zu keinem Erfolg geführt. Am 16. November hatten sich der US-Präsident und das Oberhaupt der Volksrepublik China drei Stunden online unterhalten, ohne einen Kompromiss zur Taiwan-Frage zu finden.
Xi Jinping bekräftigte die Ablehnung Pekings hinsichtlich des Kurses auf eine Unabhängigkeit, den die auf der Insel regierende Demokratische Fortschrittspartei verfolgt. Ihre Vertreterin Tsai Ing-wen war zum Unmut der Volksrepublik China im vergangenen Jahr mit einer überwältigenden Mehrheit als Präsidentin von Taiwan wiedergewählt worden. Dieses Ereignis hält man in China für den Beginn der Zeitrechnung für die Krise um die Insel. Xi Jinping hat klar zu verstehen gegeben, dass für die Volksrepublik zu einer „roten Linie“, die man nicht übertreten dürfe, die Anerkennung der Unabhängigkeit von Taiwan werde. Biden und der Pressedienst des Weißen Hauses waren dagegen in den Formulierungen zweideutig. Sie bezeichneten Taiwan als ein Teil Chinas, wobei sie gegen eine Unabhängigkeit der Insel auftreten. Die Volksrepublik China war von ihnen nicht erwähnt worden. Unter Berücksichtigung dessen, dass Taiwan offiziell als Rechtsnachfolger der Republik China aus den Zeiten von Chiang Kai-shek angesehen wird, kann man dies auch als eine Nichtanerkennung der Souveränität Pekings über die Insel ansehen. Außerdem hatten sich die USA „gegen einseitige Anstrengungen zur Änderung des Status quo oder Untergrabung des Friedens und der Stabilität jenseits der Formosastraße (Taiwan-Meerenge)“ ausgesprochen. Einfacher gesagt: Man verurteilte den Versuch der Volksrepublik China, die Insel auf bewaffnetem Wege einzunehmen.
Der i-Punkt in der Position der USA wurde in der vergangenen Woche gesetzt. Taiwan erhielt von Biden eine Einladung zum von Washington im Dezember organisierten virtuellen Summit for Democracy. An ihm werden nur offiziell anerkannte Staaten teilnehmen. Unter den teilweise anerkannten befindet sich außer Taiwan nur Kosovo auf der Liste der eingeladenen. Die Einladung von letzterem wurde aber durch eine Einladung für Serbien ausbalanciert.
Unter den kritischen Erklärungen Chinas hinsichtlich des Summits for Democracy hebt sich ein Beitrag in der konservativen Fachzeitschrift „The National Interest“ ab, der am 26. November erschien. Seine Autoren sind der russische Botschafter in den USA, Anatolij Antonow, und der Botschafter der Volksrepublik China in den Vereinigten Staaten, Qin Gang (https://nationalinterest.org/feature/russian-and-chinese-ambassadors-respecting-people%E2%80%99s-democratic-rights-197165). In ihm wird unter anderem betont, dass „es keinerlei Notwendigkeit gebe, um sich über die Demokratie in Russland und China Sorgen zu machen. Einige ausländische Regierungen sollten besser über sich selbst und darüber, was sich bei ihnen zu Hause ereignet, Gedanken machen“. In dem Gastbeitrag ist der Aufruf enthalten, die Nutzung einer „auf Werten beruhenden Diplomatie“ … für ein Provozieren von Konfrontation zu beenden“. All dies kann man als einen Beleg dafür auslegen, dass Russland in der amerikanisch-chinesischen Konfrontation immer stärker in Richtung der Volksrepublik China tendiert. Wenn dieser Trend fortgesetzt wird, wird die Relevanz der russischen Warnungen gegenüber dem Westen zunehmen. Zunehmen werden aber auch die Risiken. Freilich die machen dem Kreml bisher keine Angst.