Zur Halbzeit seiner Amtszeit hat sich für Präsident Wladimir Selenskij ein neues Problem ergeben, das mit den künftigen Wahlen zusammenhängt. Unter Berücksichtigung dessen, dass sich im Jahr 2014 der Zeitplan aufgrund der außerplanmäßigen Neuwahl des Präsidenten und der Werchowna Rada (das ukrainische Landesparlament – Anmerkung der Redaktion) verschoben hatte, fordert die Opposition, zu den Fristen zurückzukehren, die in der Verfassung ausgewiesen worden sind. Dies kann aber zu einer Niederlage Selenskijs bei den nächsten Wahlen führen.
Der amtierende Präsident hatte im Jahr 2019 erklärt, dass er nur für eine 5jährige Amtszeit antrete. Anderthalb Jahre später räumte er eine Teilnahme an den nächsten Wahlen ein, wenn eine zweite Legislaturperiode für einen Abschluss der begonnenen Projekte erforderlich werde. Nunmehr, genau zur Halbzeit der Amtszeit als Präsident sagte Selenskij am Freitag bei einer Pressekonferenz gegenüber Journalisten, dass er noch nicht entschieden habe, ob er an den nächsten Wahlen teilnehmen werde. Dabei präzisierte er: „Wenn wir aber von irgendeinem gewaltsamen Druck auf mich sprechen, damit ich früher abtrete, so ist dies bereits eine andere Geschichte. Dies ist eine Herausforderung. Wenn dem so sein wird, so werden Sie eine absolut entgegengesetzte Wirkung zu sehen bekommen… Dann werde ich nirgendwohin abtreten. Ich werde bis zum Letzten kämpfen“.
Bisher hatte der Kampf für Selenskij verhießen, ein leichter zu sein. Der amtierende Präsident bewahrt die führenden Positionen in allen Ratings. Die Situation begann sich aber zur Halbzeit der 5jährigen Präsidentschaft zu ändern. Dies wurde anhand der Ergebnisse einer soziologischen Umfrage deutlich, die im November durch das Rasumkow-Zentrum durchgeführt worden war. Wenn die Präsidentschaftswahlen jetzt abgehalten werden würden, würde das Staatsoberhaupt jetzt wie auch früher den ersten Platz belegen. Für ihn würden 17 Prozent aller Wähler stimmen oder beinahe ein Viertel derjenigen, die unbedingt an der Abstimmung teilnehmen würden und sich mit der Entscheidung endgültig festgelegt hätten (diese Kategorie reflektiert nach Aussagen der Soziologen recht genau das Ergebnis der richtigen Wahlen). Petro Poroschenko würde elf Prozent aller Wählerstimmen und 17 Prozent der sich bereits festgelegten Wähler erhalten. Jurij Boiko von der Partei „Oppositionsplattform – Für das Leben“ acht bzw. elf Prozent, Julia Timoschenko – sieben bzw. neun Prozent und der frühere Vorsitzende der Werchowna Rada Dmitrij Rasumkow, der auf skandalöse Weise das Team von Selenskij verlassen hatte, würde jetzt 5,5 Prozent an Unterstützung aller Wähler erhalten und 7,5 Prozent der Stimmen der sich bereits festgelegten.
Beim zweiten Urnengang der Präsidentschaftswahlen aber könnte gerade Rasumkow Selenskij den Sieg streitig machen. Hierbei muss berücksichtigt werden, inwieweit die Ukrainer dem einen oder anderen Politiker vertrauen oder nicht vertrauen. Laut Angaben des Rasumkow-Zentrums liegt derzeit der Grad des Misstrauens gegenüber allen ukrainischen Spitzenpolitikern über dem Grad des Vertrauens. Doch die Werte unterscheiden sich sehr. So vertrauen Dmitrij Rasumkow 35 Prozent der Bürger des Landes, kein Vertrauen schenken ihm 51 Prozent. Selenskij vertrauen 28 Prozent, während 66 Prozent ihm nicht vertrauen. Bei den anderen Politikern, die mit Selenskij bei den Präsidentschaftswahlen theoretisch konkurrieren könnten, sind die Werte schlechter. Julia Timoschenko vertrauen 17 Prozent, 77 Prozent schenken ihr kein Vertrauen. Petro Poroschenko genießt bei 19 Prozent Vertrauen, 76 Prozent vertrauen ihm nicht. Jurij Boiko vertrauen 19 Prozent, 72,5 Prozent misstrauen ihm. Spitzenreiter des Misstrauensratings (82 Prozent gegenüber elf Prozent) ist laut Angaben der Soziologen Boikos Mitstreiter aus der Partei, Viktor Medwedtschuk.
Solch eine Haltung gegenüber den Politikern würde das Abstimmungsverhalten der Ukrainer beeinflussen, wenn jetzt ein zweiter Urnengang der Präsidentschaftswahlen stattfinden würde. Im Falle einer Konkurrenz zwischen Selenskij und Poroschenko würde der amtierende Präsident 54 Prozent der Stimmen der Wähler erhalten, die unbedingt an den Wahlen teilnehmen würden und sich mit der Entscheidung festgelegt haben. Sein Vorgänger – 46 Prozent. Wenn Selenskij bei den Stichwahlen gegen Boiko antreten würde, so würden 66 Prozent das derzeitige Staatsoberhaupt unterstützen. Den Anführer der Oppositionspartei – 34 Prozent. Die Soziologen betonten, dass sowohl Poroschenko als auch Boiko hinsichtlich der Unterstützung beim zweiten Urnengang zugelegt haben, wenn man die jetzigen Werte mit den Sommer-Umfrageergebnissen vergleicht. Aber nur Dmitrij Rasumkow könnte jetzt bei Stichwahlen eine Unterstützung von 50 Prozent der Wähler erhalten – genauso viel wie auch Selenskij. Freilich, derzeit könnte der Ex-Vorsitzende der Werchowna Rada nicht die erforderliche Unterstützung für ein Weiterkommen beim ersten Wahlgang erhalten.
Und da ist die Frage darüber prinzipiell wichtig, wann in der Ukraine die nächsten Wahlen abgehalten werden. Das heißt: Wieviel Zeit haben die potenziellen Kandidaten für eine Vorbereitung auf die Auseinandersetzung? Außerdem ist die Abfolge der Parlaments- und der Präsidentschaftswahlen wichtig. Dieses Thema hatte im Verlauf der Selenskij-Pressekonferenz die Chefredakteurin des Nachrichtenportals „Linkes Ufer“, Sonja Koschkina, angesprochen. Sie betonte, dass die Präsidentenpartei „Diener des Volkes“ bei den nächsten Parlamentswahlen wohl kaum ihren Erfolg von 2019 wiederholen und die Mehrheit der Sitze in der Werchowna Rada erhalten könne. Dies bedeutet, dass, wenn die Parlamentswahlen vor den Präsidentschaftswahlen erfolgen würden, so Wladimir Selenskij an diesen ohne eine auf das amtierende Staatsoberhaupt ausgerichtete parlamentarische Mehrheit und ohne „seine“ Regierung teilnehmen werde, das heißt mit geschwächten Positionen.
Die Umfrageergebnisse bestätigen die Vermutung von Sonja Koschkina. Laut Angaben des Rasumkow-Zentrums würde die regierende Partei „Diener des Volkes“, wenn die Parlamentswahlen jetzt stattfinden würden, 15 Prozent aller Wählerstimmen bekommen. Oder 23 Prozent der Stimmen derjenigen Wähler, die sich bereits festgelegt haben. Dies wäre ein Viertel oder weniger Sitze in der Werchowna Rada. Die Partei „Europäische Solidarität“ von Poroschenko – zwölf Prozent aller Wählerstimmen und 19 Prozent der Stimmen der Whler, die sich festgelegt haben. Die Partei „Oppositionsplattform – Für das Leben“ von Jurij Boiko, Viktor Medwedtschuk und Wadim Rabinowitsch – neun bzw. 13 Prozent, „Batkiwstschina“ von Julia Timoschenko – sieben bzw. neun Prozent, die Partei „Stärke und Ehre“ unter Führung des Ex-Chefs des ukrainischen Sicherheitsdienstes Igor Smeschko – vier bzw. sechs Prozent. Für die bisher nichtexistierende Partei unter dem angenommenen Namen „Dmitrij-Rasumkow-Partei“ sind fünf Prozent aller Wähler bereit zu stimmen. Sieben Prozent derjenigen, die sich festgelegt haben.
Die Ergebnisse einer soziologischen Untersuchung, die Ende Oktober das Kiewer Internationale Institut für Soziologie durchgeführt hatte, zeigen, dass, wenn in diesem Herbst Parlamentswahlen stattgefunden hätten, die Partei „Diener des Volkes“ 11,2 Prozent aller Wählerstimmen erhalten hätte (18,3 Prozent der Stimmen der Wähler, die sich festgelegt haben). Nach ihr folgen die Partei „Oppositionsplattform – Für das Leben“ (10,4 bzw. 17 Prozent), „Batkiwstschina“ von Julia Timoschenko (9,4 bzw. 15,4 Prozent) und Poroschenkos „Europäische Solidarität“ (9,2 bzw. 15,1 Prozent). Im Bereich der Sperrklausel von fünf Prozent sind „Stärke und Ehre“ und die angenommene „Dmitrij-Rasumkow-Partei“. Das Kiewer Institut fand heraus, dass ein Drittel der Wähler selbst durch Proteste die Partei „Diener des Volkes“ gern aus dem Sattel heben würde.
Das heißt, gegenwärtig könnte die Partei „Diener des Volkes“ keine monolithische Mehrheit in der Werchowna Rada bekommen. Und sie müsste entweder mit jenen politischen Kräften eine Koalition eingehen, gegen die sie seit 2019 angetreten war, oder in die Opposition gehen. Beide Varianten würden wirklich die Positionen des Kandidaten Wladimir Selenskij schwächen, wenn die Präsidentschaftswahlen nach den Parlamentswahlen stattfinden würden. Der ukrainische Präsident sagte bei Beantwortung einer entsprechenden Frage während seiner Freitag-Pressekonferenz, dass er nicht über die Abfolge der Wahlen nachgedacht habe und dass diese Frage das Verfassungsgericht klären müsse.
Die Opposition wirft den Offiziellen Missbräuche vor. Irina Gerastschenko aus der Partei „Europäische Solidarität“ erklärte in der TV-Talk-Show „Redefreiheit von Sawik Schuster“, dass Selenskij bestrebt sei, loyale Richter für das Verfassungsgericht zu ernennen und „die Vollmachten des gegenwärtigen Parlaments um ein Jahr zu verlängern“. Es ist offensichtlich, dass die Oppositionsparteien, die entsprechend den Ergebnissen der Wahlen zur Werchowna Rada ihre Positionen verstärken würden, für eine Ansetzung der Abstimmung auf den Oktober des Jahres 2023 kämpfen werden.