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Selenskij ist bereit, ein Referendum zu Fragen von Krieg und Frieden abzuhalten


Die Beraterin des US-Außenministers für Europa- und Eurasien-Fragen Karen Donfried beginnt in diesen Tagen einen Arbeitsbesuch in Kiew und Moskau. Und am Mittwoch wird sie nach Abschluss ihrer Gespräche in der russischen Hauptstadt nach Brüssel fliegen. Geplant ist die Behandlung der Frage nach einem „diplomatischen Fortschritt bei der Beendigung des Konflikts im Donbass durch eine Realisierung der Minsker Vereinbarungen…“. In der ukrainischen Hauptstadt halten viele solch eine Formulierung für zu vage und gefährliche.

Das Wesen der Befürchtungen legte der Politologe Viktor Taran in seinem Blog dar: „Der Rhetorik und den Handlungen (entsprechend den Ergebnissen der Gespräche der Präsidenten der USA und Russlands, aber auch des Gesprächs von Joseph Biden mit Wladimir Selenskij – „NG“) nach zu urteilen, besteht die große Wahrscheinlichkeit, dass sich Russland und die USA geeinigt haben, gemeinsam auf die Ukraine Druck auszuüben, damit letztere die Minsker Abkommen implementiert“.

Kiew ist kategorisch gegen eine Umsetzung der Vereinbarungen in der Abfolge, in der ihre Punkte festgeschrieben worden sind. Die Modalitäten sehen eine wechselnde Reihenfolge der Entscheidungen, die mit der Gewährleistung der Sicherheit zusammenhängen, mit den politischen Lösungen vor. Und im Endergebnis würde dies, wie die ukrainische Führung meint, zu einer Legalisierung der selbstausgerufenen und von Moskau unterstützten Donezker Volksrepublik und der Lugansker Volksrepublik.

Seit der Zeit der Präsidentschaft von Petro Poroschenko haben die ukrainischen Offiziellen Kurs auf eine Trennung der Minsker Abkommen in zwei Blöcke genommen, wobei sie vorgeschlagen haben, in der ersten Etappe die Punkte zu erfüllen, die der Gewährleistung der Sicherheit gewidmet sind. In der zweiten – die politischen Punkte. Dies würde von der Idee her zu einer Liquidierung der DVR und der LVR sowie zu einer Wiederherstellung der ukrainischen Jurisdiktion über die gegenwärtig nichtkontrollierten Gebiete des Donbass führen. In Kiew befürchtet man, dass sich vor dem Hintergrund der in der letzten Zeit laut gewordenen Erklärungen über die Vorbereitung eines „russischen Einmarschs in die Ukraine“ Biden und Putin über die erste Variante hätten einigen können – über die Gewährung einer Autonomie für die DVR und die LVR als Gegenzug für eine Verringerung der Spannungen an den Grenzen der Ukraine. Über die Wahrscheinlichkeit solcher Absprachen hatte in der vergangenen Woche die US-amerikanische Nachrichtenagentur Associated Press berichtet.

Nach Meinung des Politologen Viktor Taran begreife das Team von Wladimir Selenskij alle Risiken solch eines Szenarios und sei daher nicht bereit, dieses zu realisieren. „Das angekündigte Referendum ist ein gewisses Gegenargument“, betonte er. Ein Referendum hatte am vergangenen Freitag Präsident Selenskij in einem Interview des Fernsehkanals „1+1“ angekündigt. Er unterstrich, dass bisher keiner irgendwelchen Druck auf Kiew bezüglich der Minsker Abkommen ausgeübt hätte. Er schloss aber nicht aus, dass irgendein Land der Ukraine die einen oder anderen Bedingungen für eine Konfliktregelung unterbreiten würde. „So etwas kann sein. Doch zum heutigen Tag gibt es dies bestimmt nicht. Das heißt, hier habe ich keinerlei Geheimnisse vor der Gesellschaft. Ich würde mit solchen Scherzen nicht scherzen… Wenn es aber irgendeine solche schwierige Herausforderung geben wird, so werde ich mich bestimmt mit unserer Gesellschaft konsultieren“. In diesem Kontext räumte Selenskij die Möglichkeit der Abhaltung eines gesamtukrainischen Referendums ein: „Ich schließe ein Referendum hinsichtlich des Donbass insgesamt nicht aus. Und da ist es keine Frage bezüglich des Status… Dies kann zum Donbass sein, dies kann zur Krim sein. Dies kann insgesamt hinsichtlich einer Beendigung des Krieges sein“.

Einige Experten in Kiew räumen ein, dass Selenskij die Ergebnisse solch eine Referendums als ein Argument nutzen könne, um im Bedarfsfall den westlichen Partnern zu erklären, warum die Werchowna Rada (das ukrainische Landesparlament – Anmerkung der Redaktion) die Entscheidungen nicht annehmen kann, auf die die russische Seite besteht. Eine Umfrage, die Anfang Dezember die soziologische Gruppe „Rating“ durchgeführt hat, zeigt, dass 54 Prozent der Ukrainer für eine Revision der Minsker Abkommen eintreten. Dabei kennen nur elf Prozent gut den Wortlaut. Die meisten Bürger aber haben eine oberflächliche Vorstellung über die Vereinbarungen von 2014 und 2015. Gegenwärtig unterstützen mehr als 50 Prozent der Ukrainer den Gedanken von der Unterzeichnung neuer Abkommen. 21 Prozent sind der Auffassung, dass man aus dem Verhandlungsprozess aussteigen und Entscheidungen ohne eine Beteiligung internationaler Vermittler treffen müsse. Nur zwölf Prozent sind davon überzeugt, dass die Ukraine die Minsker Abkommen vollkommen erfüllen müsse.

Hinsichtlich der Formate für Verhandlungen zur Konfliktregelung signalisierten 45 Prozent die Notwendigkeit einer Erweiterung des Normandie-Formats durch eine Beteiligung der USA und Großbritanniens an ihm. Elf Prozent unterstützten die Beibehaltung der Verhandlungen unter Beteiligung Russlands, der Ukraine, Deutschlands und Frankreichs. Für direkte Verhandlungen mit Russland plädierten 21 Prozent, mit der DVR und der LVR zwölf Prozent. Wenn aber der Dialog mit Russland die einzige und alternative Lösung wäre, so würden ihn 56 Prozent unterstützen. Dagegen würden 41 Prozent auftreten. Wladimir Selenskij sagte im erwähnten „1+1“-Interview, dass er ein gesondertes Gesprächsformat mit der russischen Führung nicht ausschließe. Und er räumte ein: „Für uns kann sich dank den USA noch eine Plattform für Verhandlungen mit der Russischen Föderation ergeben. Und da gibt es solch einen sehr feinen chirurgischen Aspekt – wie man nicht das Normandie-Format verlieren kann, denn, ohne etwas aufgebaut zu haben, kannst du das verlieren, was es gibt…“.

Der Politologe Wladimir Fesenko betonte, dass in dieser Woche in Brüssel ein Treffen des ukrainischen Präsidenten mit dem französischen Amtskollegen Emmanuel Macron und Deutschlands neuen Bundeskanzler Olaf Scholz geplant sei. „Es scheint, dass die USA an den Donbass-Verhandlungen aktiver teilnehmen werden. Ja, aber in was für einem Format, werden wir später sehen“. Vieles werde von den Ergebnissen der Besuche der Beraterin des US-Außenministers für Fragen Europas und Eurasiens, Karen Donfried in Kiew, Moskau und Brüssel abhängen. Sie hatte sich Anfang November mit dem ukrainischen Außenminister Dmitrij Kuleba und dem Leiter des Präsidenten-Office Andrej Jermak in Washington getroffen. Gerade zu jener Zeit fingen die amerikanischen Medien an, von untypischen russischen Truppenbewegungen neben den ukrainischen Grenzen zu berichten, wobei sie die Schlussfolgerung hinsichtlich der Möglichkeit eines „Einfalls“ zogen.

Der ehemalige Vorsitzende der Werchowna Rada Dmitrij Rasumkow betonte in einer Sendung des Fernsehkanals „Ukraine 24“, dass Verhandlungen über die Ukraine gegenwärtig auf verschiedenen Ebenen zwischen den USA und der EU geführt werden würden. Er hält es für ein Problem für Kiew, „dass nicht zuerst die Positionen mit der ukrainischen Seite abgestimmt werden, sondern man uns nachträglich (post factum) die Ergebnisse dieser Gespräche mitteilt“. Der Politiker betonte, dass es bisher keine klaren Informationen über den Inhalt der Gespräche Putins und Bidens gebe. In Kiew werde man die Perspektive einer Annahme von Entscheidungen, die die Interessen der Ukraine betreffen, ohne die ukrainische Seite nicht akzeptieren. Die Erklärung Selenskij hinsichtlich der Möglichkeit eines Referendums werde nach Meinung der Opposition das Gesamtbild nicht verändern.

Der Vorsitzende der Partei „Europäische Solidarität“ Petro Poroschenko hält solch ein Referendum für ein gefährliches Unternehmen. „Stellen Sie sich einmal vor, dass zwei oder drei Verwaltungsgebiete eine andere Entscheidung treffen als die übrigen Verwaltungsgebiete“, erklärte er, wobei er betonte, dass dies zu einer Wiederholung der Ereignisse führen könne, die sich 2014 auf der Krim ereignet hätten. Poroschenko rief Selenskij auf, nicht zu vergessen, dass der Präsident der Garant der Verfassung sei. „Ich bin kategorisch nicht damit einverstanden, dass Referenden als eine Technologie für ein Durchbringen darunter nicht von ukrainischen Entscheidungen ausgenutzt werden. Unbekannte Fragen zu diskutieren, ja und noch die, die von anderen Ländern vorgebracht oder vorgeschlagen worden sind. Ich denke, dass dies ein schrecklicher Fehler wäre“. Der Entwicklung der Ereignisse nach zu urteilen, werden die ukrainischen Offiziellen eher der Meinung der US-amerikanische Seite denn den Erklärungen der Oppositionsführer Gehör schenken. Der Politologe Viktor Taran denkt, dass die Gegner der Herrschenden die Situation für die Organisierung von Protestaktionen ausnutzen könnten, die mit vorgezogenen Wahlen zur Werchowna Rada enden könnten.