Die Versuche, Präsident Weißrusslands zu werden, endeten stets mit Gefängnisstrafen für jene, die sie unternommen hatten. Die Strafen, die die Gerichte für die Teilnehmer der letzten Präsidentschaftswahlkampagne gefällt haben, sind höher als alle früheren Strafen. Persönliche Rache für das Scheitern seiner Herrschaft treibe Alexander Lukaschenko, meinen Experten.
Im Rahmen des „Falls Tichanowskij“ standen sechs Personen vor dem Richter. Sergej Tichanowskij ist ein Blogger, Autor des YouTube-Kanals „Ein Land für das Leben“ und Gatte der jetzigen Anführerin der demokratischen Kräfte Weißrusslands Swetlana Tichanowskaja.
Außer ihm selbst saßen auf der Anklagebank der bekannte weißrussische Oppositionspolitiker Nikolaj Statkjewitsch, der früher bereits eine Haftstrafe absitzen musste, der Blogger Igor Losik, der Autor eines YouTube-Kanals Wladimir Zyganowitsch, der Moderator des Kanals „Ein Land für das Leben“, der russische Staatsbürger Dmitrij Popow sowie der Kameramann des YouTube-Kanals „Ein Land für das Leben“ und das Mitglied der Initiativgruppe zur Nominierung von Swetlana Tichanowskaja als Präsidentschaftskandidatin Artjom Sakow.
Sergej Tichanowskij war auf der Grundlage von vier Artikeln des Strafgesetzbuches angeklagt worden – Organisierung von Massenunruhen, Schüren sozialer Feindseligkeit, Behinderung der Arbeit der Zentralen Wahlkommission und Organisierung von Handlungen, die die öffentliche Ordnung grob verletzen. Er bekam 18 Jahre Freiheitsentzug mit Verbüßung der Strafe in einer Kolonie mit einem verschärften Haftregime. Unter die gleichen Artikel fielen auch Artjom Sakow und Dmitrij Popow. Sie erhielten jeweils 16 Jahre, auch mit Verbüßung der Strafe unter erschwerten Haftbedingungen. Igor Losik und Wladimir Zyganowitsch verurteilte man zu 15 Jahren Freiheitsentzug. Sie waren unter zwei Artikel gefallen – Organisierung von Massenunruhen und Schüren sozialer Feindseligkeit. Nikolaj Statkjewitsch war nur wegen der Organisierung von Massenunruhen angeklagt worden, bekam aber nicht viel weniger – 14 Jahre.
Außerdem wird von ihnen die Wiedergutmachung eines Schadens im Umfang von beinahe einer Million Dollar eingefordert, teilte man in der Staatsanwaltschaft mit. Nach Meinung einheimischer Beobachter gibt es in diesem Fall tatsächlich keinerlei richtige Gelder. Zu Beginn der Nachforschungen waren gewisse 900.000 Dollar angeblich „hinter einer Couch“ bei einer Durchsuchung bei Sergej Tichanowskij gefunden worden. Er selbst hatte erklärt, dass man ihm dieses Geld untergeschoben hätte. Für diese Version spricht auch, dass man diese Summe an solch einer einfachen Stelle erst beim dritten Mal gefunden habe.
Wie auch alle anderen spektakulären Prozesse erfolgte dieser hinter verschlossenen Türen. Nach Meinung von Experten, der eigentlichen Angeklagten und ihrer Verwandten liege die Ursache darin, dass es in den Handlungen all dieser Menschen tatsächlich keinerlei Straftatbestand gebe. Die Schuld von Sergej Tichanowskij besteht sogar nicht einmal so sehr darin, dass er vorhatte, Präsidentschaftskandidat zu werden (man hatte ihn bereits in der Phase der Bildung von Initiativgruppen zur Sammlung von Unterschriften festgenommen), als vielmehr darin, dass er Alexander Lukaschenko erniedrigt hatte, indem er ihn als eine Wanze bezeichnet und vorgeschlagen hatte, diese mit einem Hausschuh zu töten. Er hatte aber auch den Menschen zu verstehen gegeben, dass man nicht schweigen, sondern gegen die Herrschenden auftreten könne. Nikolaj Statkjewitsch war als ein erfahrener Oppositionsführer faktisch präventiv verhaftet worden, so dass er es nicht einmal geschafft hatte, an irgendetwas teilzunehmen. Wäre er auf freiem Fuße geblieben, wäre die weißrussische Revolution nicht mit Luftballons und dem Winken mit Blumensträußen zu Ende gegangen. Alle übrigen Angeklagten waren einfach neben Tichanowskij gewesen.
Es sei daran erinnert, dass man den Blogger selbst Ende Mai vergangenen Jahres, ganz zu Beginn der Wahlkampagne festgenommen hatte. Die Provokation, in deren Ergebnis er verhaftet wurde, hatten Vertreter der Rechtsschutz- und Sicherheitsorgane organisiert, was bereits durch deren Gespräche bestätigt worden ist, deren Aufzeichnungen in die Hände von „Cyberpartisanen“ gelangt waren. In einer veröffentlichten Tonaufnahme sagt ein Mann mit der Stimme, die der Stimme des damaligen Innenministers Jurij Karajew ähnelte, dass man Tichanowskij einsperren müsse, selbst wenn es für ihn keinen Paragrafen geben würde: „Mag die Welt aufschreien: „Hinsichtlich einer Rechtmäßigkeit, in Bezug einer Willkür“. Solch eine Kreatur ist gefährlicher als alle anderen zusammen. Er ist gefährlicher als all die Babarikos. Er ist ein Zerstörer des Staates. Wenn es keinen Paragrafen für ihn gibt, muss man ihn sich ausdenken und ihn für lange einsperren. Mag er dort sitzen! Mag er dort verrecken!“. Nach seinen Worten trage Tichanowskij die Schuld dafür, dass er „das stillste Land“, „die demütigste Bevölkerung“ aufgerüttelt hatte.
Swetlana Tichanowskaja kommentierte auf Twitter das Urteil gegen ihren Gatten: „Der Diktator rächt sich öffentlich an seinen stärksten Gegnern. Indem er die politischen Gefangenen bei Gerichtsprozessen hinter verschlossenen Türen versteckt, hofft er, die Repressalien in völliger Stille fortzusetzen. Die ganze Welt sieht dies aber. Wir werden nicht einhalten“, schrieb sie.
Marina, die Gattin von Nikolaj Statkjewitsch, die bei der Verkündung des Urteils zugegen gewesen war, berichtete auf ihrem Account in den sozialen Netzwerken, dass die Angeklagten „sich ausgezeichnet verhielten, sehr gut aussahen“, dass sie die Agenda der Verhandlung bestimmt hätten und nicht das Gericht. Und gerade sie hätten den Verlauf des Prozesses bestimmt. „Keiner von ihnen hat resigniert. Sie alle sind von ihrer Unschuld absolut überzeugt. Sergej Tichanowskij hat besonders gebeten zu übermitteln, dass nicht ein Mensch in den fünf Monaten, in denen der Gerichtsprozess erfolgte, Aussagen gegen sie gemacht hat“. Auch habe ihren Worten zufolge Sergej Tichanowskij sich das Urteil angehört, wobei er sich mit dem Rücken den Richtern zugewandt habe. Und nach dem Urteil hätten sie zusammen mit Nikolaj Statkjewitsch die Losung der Lukaschenko-Opponenten „Es lebe Belarus!“ gerufen.
Die Ehefrau von Igor Losik Daria hat einen Appell an die Richter, Vertreter der Rechtsschutz- und Sicherheitsorgane sowie an den „Bürger Lukaschenko“ aufgenommen. Mit letzteren fordert sie ein persönliches Treffen. Den Prozess bezeichnet sie als eine Farce und ein Spektakel, und das Geschehen als Willkür und Gesetzlosigkeit. Lukaschenko wolle sie fragen, warum er unschuldige Menschen nötige, Folterungen durchzumachen, und warum er „gegen Frauen kämpft“, obgleich er ständig unterstreiche, dass er nicht gegen sie kämpfen würde.
Früher war bereits der Ex-Chef der Belgazprombank Viktor Babariko, der auch im Jahr 2020 angetreten war, um Lukaschenko Konkurrenz zu machen, zu 14 Jahren Freiheitsentzug verurteilt worden. Das Mitglied seines Stabes und dann Mitstreiterin von Swetlana Tichanowskaja Maria Kolesnikowa bekam elf Jahre. Der Prozess gegen Kolesnikowa fand auch hinter verschlossenen Türen statt. Nach Aussagen von Verwandten erklärt sie gleichfalls, dass keinerlei Beweise für ihre Schuld im Verlauf des Prozesses vorgebracht worden seien. Weder Experten noch die einheimische Öffentlichkeit zweifeln daran, dass dies und wie auch alles Geschehende eine Rache von Alexander Lukaschenko an all diesen Menschen dafür sei, dass sie das „hörigste Volk“ aufgeweckt und auf die Beine gebracht hätten. Jetzt liebt dieses Volk nicht Lukaschenko. Im Land herrscht eine politische Krise, der Westen verhängte Sanktionen. Und Russland fordert einen Machttransit.