Die Zukunft des ukrainischen Gastransportsystems (und nicht nur) wird faktisch durch die Realisierung des Gaspipeline-Projekts „Nord Stream 2“ bestimmt. Aus Kiewer Sicht werde seine Inbetriebnahme einen Verlust von 1,5 bis 3 Milliarden Dollar im Jahr durch die Ukraine bedeuten, wie die Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik in der Studie „Chancen und Grenzen des Big Deals“ betont. Außerdem könne, meinen die Autoren der Studie, Russland nach Inbetriebnahme der Gasleitung einen bewaffneten großangelegten Einmarsch auf das Territorium der Ukraine beginnen.
Das in Lwow ansässige analytische Internetportal Zaxid behauptet, dass „Nord Stream 2“ lediglich der abschließende Teil der Realisierung einer Idee von „Gazprom“ sei. Bis dahin hat es „Blue Stream“, „Nord Stream 1“ und „Turk Stream“ gegeben. Der Bau all dieser Gaspipelines, die unter Umgehung der Ukraine gebaut worden sind, erlaube Russland, vollkommen auf das ukrainische Gastransportsystem zu verzichten. Schließlich werde deren Gesamtleistung nach Inbetriebnahme von „Nord Stream 2“ rund 222 Milliarden Kubikmeter Gas im Jahr ausmachen. Während die ukrainische Gaspipeline eine Jahresleistung von 146 Milliarden Kubikmeter besitzt.
Im Jahr 2019 exportierte „Gazprom“ durch die Ukraine 89 Milliarden Kubikmeter Gas, im Jahr 2020 – bereits 55 Milliarden Kubikmeter. Und in diesem Jahr wird der russische Gastransit durch die Ukraine wahrscheinlich bis auf 40-44 Milliarden Kubikmeter zurückgehen. Die Ukraine kann nur auf die Energie-Gesetzgebung der EU hoffen, die formal nicht erlaubt, die russischen Gaspipelines auf die vollständige Leistung hochzufahren. Derzeit aber liegt der Anteil russischen Erdgases auf den EU-Märkten bei rund 40 Prozent, obgleich er um zehn Prozent geringer sein müsste. Die Ukraine ist der Auffassung, dass sich schon heutzutage ihre westlichen Nachbarn auf ein Ausscheiden des ukrainischen Gastransportsystems aus dem System der russischen Gaslieferungen vorbereiten würden. Ungarn vereinbarte Gaslieferungen über „Turk Stream“. Zuvor hatte dies noch Rumänien getan. Und Polen setzt auf den Import von verflüssigtem Erdgas aus den USA.
Die Vertreter des ukrainischen Gassektors haben eine eigene Position. In den von der russischen Presse veröffentlichten Thesen von Sergej Makogon, dem Generaldirektor des Betreibers des Gastransportsystems der Ukraine, wird behauptet, dass die überschüssige Infrastruktur außer Betrieb genommen, die notwendige aber modernisiert werde. Zehn Milliarden Griwna (ungefähr etwas mehr als 360 Millionen Dollar) macht der gesamte Finanzierungsumfang aus, der im Finanzplan für das laufende Jahr für Instandsetzungen, Diagnostik und Investitionsbauarbeiten vorgesehen worden ist. Der Betreiber des ukrainischen Gastransportsystems investiert in die Modernisierung nur jener Objekte, die auch im Falle des Wegfalls eines Transits genutzt werden. Die anderen werden vorerst in einem funktionstüchtigen Zustand gehalten. Wobei nach Aussagen von Makogon die Modernisierung bereits im Gange sei. So würden im Verlauf von fünf Jahren zehn bedeutende Verdichterstationen modernisiert werden. Sie werden auch im Falle des Wegfalls eines Transits nach 2024 genutzt werden, aber bereits vor allem für die inländischen Bedürfnisse bei der Versorgung der ukrainischen Verbraucher. Dies hängt hauptsächlich mit der Außerdienststellung der überschüssigen Infrastruktur zusammen. Dies bedeutet jedoch nicht immer eine Verschrottung. In diesem Fall kann es folgende Lösungen bzw. Entscheidungen geben: eine Liquidierung, eine Konservierung oder Umstellung für das Arbeiten als Gaskraftwerke.
Nach Aussagen von Makogon bereite sich der Betreiber des ukrainischen Gastransportsystems auf eine Zukunft unter den Bedingungen einer Dekarbonisierung vor, wo das Gastransportsystem Wasserstoffgemische, Biomethan und synthetisches Methan transportieren werde.
Was den Transitvertrag mit „Gazprom“ betreffe, so gehe die ukrainische Seite laut Aussagen von Makogon davon aus, dass der geltende Vertrag dem Unternehmen 1,5 Milliarden Dollar im Jahr bringe. Und Kiew beabsichtige, für einen Transit auch nach dem Jahr 2024 zu kämpfen. Jedoch werde das Gastransportsystem auch ohne einen Transit weiter funktionieren und Gas zu den Verbrauchern der Ukraine transportieren. Schließlich macht der Inlandsverbrauch 30 Milliarden Kubikmeter aus, der Umfang der eigenen Förderung liegt aber bei 20 Milliarden Kubikmeter im Jahr. Und etwa zehn Milliarden Kubikmeter importieren die Ukrainer alljährlich. Die Ukraine entwickelt aktiv neue Leistungen für ausländische Kunden. Im vergangenen Jahr hat man die Dienstleistung Short-Haul realisiert. Und entsprechend diesem Modus hatten Trader zehn Milliarden Kubikmeter Gas für eine befristete Dauer in ukrainischen Speichern deponiert.
Kiew ist der Auffassung, dass man in der EU derzeit neue Nischen für den Transport von Wasserstoffgemischen, Biomethan, synthetischem Methan usw. suche. Als einen Vorzug der Ukraine wird angesehen, dass sie vollkommen die europäische Energiegesetzgebung implementierte, den Betreiber des Gastransportsystems ausgliederte usw. Nunmehr kann jegliches Unternehmen kommen und Transitkapazitäten durch die Ukraine bei einer transparenten Auktion buchen.
Wahrscheinlich davon ausgehend, hält es der ukrainische Premierminister Denis Schmygal für notwendig, den derzeitigen Transitvertrag mit „Gazprom“ zu prolongieren. Im Idealfall müsse, wie der Politiker sagte, Kiew auf eine Verlängerung um 15 Jahre bis zum Jahr 2039 bestehen, wobei die tägliche Durchlassfähigkeit des Gastransportsystems um 55 Millionen Kubikmeter über die 110 Millionen Kubikmeter hinaus, die im laufenden Abkommen festgeschrieben worden sind, erhöht wird. Schmygal betonte, dass die Ukraine bereit sei, die überschüssigen Gasmengen nach Europa zu einem Preis zu liefern, der die Hälfte dessen ausmache, der im laufenden Vertrag vorgesehen worden ist.
Die russische Position besteht darin, dass unter Berücksichtigung des gegenwärtigen störanfälligen Zustands des ukrainischen Gastransportsystems die zusätzlichen zu befördernden 55 Millionen Kubikmeter zu einem Problem für Kiew werden könnten. Andererseits würden mit jedem Jahr die wirtschaftlichen und technologischen Risiken für „Gazprom“ und europäischen Verbraucher immer größer werden. Die Zeit für eine Lösung des Problems der Instandsetzung des ukrainischen Gastransportsystems ist allem Anschein nach verpasst worden. Schließlich waren Projekte für dessen Übergabe in die Hände eines internationalen Konsortiums bereits zu Zeiten von Präsident Leonid Kutschma auf den Tisch gebracht worden. Sie wurden aber aufgrund des Widerstands der ukrainischen Seite nicht realisiert. Dies bestätigt der russische Gas-Analytiker Igor Juschkow, ein leitender Experte der Stiftung für nationale Energiesicherheit. In einer Sendung des YouTube-Kanals „Sputnik auf Russisch“ erklärte er, dass die heftige Reaktion der Ukraine auf den Abschluss eines langfristigen Gaslieferungsvertrags mit „Gazprom“ durch Ungarn zu einer Verkürzung der Dauer des russischen Gastransits durch das ukrainische Gastransportsysteme führen werde.
Igor Juschkow behauptet, dass „Gazprom“ mit dem Abschluss des 15jährigen Vertrages mit Ungarn über Gaslieferungen unter Umgehung des ukrainischen Territoriums ein Schema für die Brennstoffversorgung der EU nach 2024 schaffe, wenn die Geltungsdauer des gegenwärtigen Vertrages mit der Ukraine endet. Moskau und Budapest hätten mit diesem Vertrag nach Meinung von Juschkow anschaulich demonstriert, dass Ungarn nicht mehr beabsichtige, Gas per Transit durch die Ukraine zu bekommen, da das Land einen Teil der im Vertrag festgeschriebenen 4,5 Milliarden Kubikmeter Gas über Serbien und die Pipeline „Turk Stream“ bekommen werde. Und die restlichen Mengen über Österreich und die beiden „Nord Stream“-Leitungen.
Natürlich hänge die sich herausbildende Situation vor allem damit zusammen, meint Juschkow, dass das Gastransportsystem der Ukraine aufgrund seines technischen Zustands nicht mehr gebraucht werde. Der russische Präsident Wladimir Putin ging aus politischer und nicht aus technischer Sicht an diese Frage. Im Verlauf seines Auftritts im Rahmen der Plenartagung des Forums „Russische Energiewoche“ betonte der Präsident jüngst, dass Moskau bereit sei, die Gasmengen für ein Pumpen über das ukrainische Territorium unter Einhaltung wirtschaftlicher und technologischer Bedingungen aufzustocken. Zur gleichen Zeit betonte das russische Staatsoberhaupt, dass eine weitere Erhöhung der Mengen Risiken vor dem Hintergrund des Verschleißes des ukrainischen Gastransportsystems in sich berge, der nach seiner Schätzung rund 80 Prozent ausmache.
Was für Perspektiven bleiben aus europäischer Sicht für das ukrainische Gastransportsystem angesichts der entstehenden Situation? Wie in der eingangs erwähnten Studie der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik betont wird, sei das Hauptelement eines Kompromiss-Pakets die Integration der Ukraine in den europäischen Energiemarkt mit deren Ankopplung an die Energiewende, insbesondere was die Erzeugung von Wasserstoff angeht. Die Ukraine werde, wie die Autoren meinen, zu einem Partner des europäischen „Green Deals“. Kiew sei interessiert, an den Plänen der EU zur Dekarbonisierung teilzunehmen. Die Autoren verweisen jedoch darauf, dass Kiew die europäischen Investitionen in „grüne“ Projekte in der Ukraine nicht als eine Abschwächung der Gefahr ansehen möchte, die „Nord Stream 2“ für die Ukraine mit sich bringe.