Die Herrschenden Turkmenistans haben lange Zeit eine Doktrin der staatlichen Souveränität entwickelt, deren Grundpfeiler die Unabhängigkeit, die Neutralität und der Personenkult um den Präsidenten waren. Diese drei Elemente ergänzten sich einander und besaßen nicht nur einen institutionellen Gehalt, sondern trugen auch einen starken ideologischen Grundgedanken, der von den Offiziellen für die Zementierung des gesamten Staatsaufbaus verwendet wird. Umso erstaunlicher ist es, dass die Herrschenden selbst in der letzten Zeit begonnen haben, Anstrengungen für eine Erosion dieser drei Grundlagen des Staatsaufbaus zu unternehmen, was eine außerordentliche Verwunderung unter einheimischen Beobachtern auslöst.
Zum ersten Opfer solch einer Politik wurde immerhin die Legitimität der Unabhängigkeit des Staates. Aus einem nur ihm bekannten Grund zog Präsident Gurbanguly Berdymuchamedow die Feiern zum Unabhängigkeitstag Turkmenistans um einen Monat vor und verlegte sie vom 27. Oktober auf den 27. September. Als Gründe für solch eine Entscheidung werden mehrere genannt. Auf diesen Tag, auf den 27. September, fiel im Jahr 2017 die pompöse Abschlussveranstaltung der Asien-Spiele in den Kampf- und Hallensportarten. Diese Veranstaltung gehört nicht zur offiziellen Liste der Qualifikationswettbewerbe für die Olympischen Spiele, wurde aber von den Herrschenden als ein Ereignis von ausschließlicher Wichtigkeit in der Sportwelt präsentiert. Zu einem zusätzlichen Motiv für die Verschiebung des Unabhängigkeitstages konnte das Bestreben werden, den Wetterkapriolen Ende Oktober, wenn eine Parade und eine Demonstration erfolgten, deren großer Liebhaber Präsident Berdymuchamedow ist, aus dem Wege zu gehen. Wie dem nun auch immer gewesen sein mag, weder dem eigenen Volk noch der internationalen Staatengemeinschaft wurde nichts erklärt. Das Absurde der Situation besteht darin, dass nicht ein einziger normativer Akt angenommen worden war, der diese Verschiebung verankert hätte. Schließlich erfolgte nicht nur eine Verschiebung des Tages der Feierlichkeiten, sondern im Grunde genommen auch des Unabhängigkeitstages als solcher (27. Oktober). Des Tages, an dem 1991 die Deklaration über die Unabhängigkeit angenommen worden war und die die turkmenische Propaganda als eine „heilige“ bezeichnete. Dieser Tag wurde im Endergebnis zu einem gewöhnlichen, einem ganz normalen. Überhaupt wäre es auch für eine strenge Einhaltung der Kontinuität und Legitimität erforderlich gewesen, solche Transformationen auf der Ebene eines Verfassungsaktes zu verankern. Doch die Offiziellen haben diese Formalität einfach ignoriert.
Zum nächsten Opfer wurde der Status der Neutralität Turkmenistans. Oder, wie es in den offiziellen turkmenischen Dokumenten ausgewiesen wird – der „Status einer ständigen und positiven Neutralität“. Die Herrschenden Turkmenistans hatten 1995 dessen Anerkennung durch eine einzelne Resolution der UN-Vollversammlung erreicht. Und später hat man noch zweimal Resolutionen durch die Vollversammlung gebracht, die die Unterstützung dieses Status bestätigen. Auf der Ebene des nationalen Rechts war die Neutralität Turkmenistans im ersten Artikel der Landesverfassung festgeschrieben worden.
Dieser Status erlaubte den Offiziellen Turkmenistans, in der nicht einfachen politischen Situation in der Region geschickt zu manövrieren. Trotz der Nachbarschaft mit den Problemländern Iran und Afghanistan gelang es, alle brisante Momente zu umgehen, sei es hinsichtlich der Beziehungen mit der Koalition, die den Einmarsch nach Afghanistan vorgenommen hatte, oder in Bezug auf die Sanktionen gegen den Iran. Überall, stets und bezüglich aller hatte Turkmenistan die gleiche Distanz gehalten. Saparmurad Nijasow Turkmenbasch, der erste Präsident Turkmenistans, hatte sogar im Rahmen der GUS für das Land den besonderen Status eines „assoziierten Mitglieds“ eingefordert, wobei er auf den Neutralitätsstatus verwies, was Turkmenistan aber nicht daran gehindert hatte, den Vorsitz in der GUS zu übernehmen und auf seinem Territorium ein Gipfeltreffen der GUS-Staatsoberhäupter auszurichten. Und die Stadt Mary (im Südosten der Republik) wurde 2012 zur Kulturhauptstadt der Gemeinschaft.
Am 12. November dieses Jahres trat Turkmenistan der Organisation der Turkstaaten (OTS) bei, der Reinkarnation des Rates der turk-sprachigen Staaten, aber als Beobachter, obgleich zuvor Turkmenistans Außenminister Raschid Meredow für das Land ebenfalls einen „Sonderstatus“ im Rahmen des Bündnisses gefordert hatte. Und an eben diesem Tag wurde gegen den Status der Neutralität Turkmenistans ein erster Schlag geführt. Das Gipfeltreffen der OTS-Staatsoberhäupter gratulierte im Namen der ganzen Organisation Aserbaidschan und dessen Präsidenten Ilham Alijew zum Sieg im Bergkarabach-Krieg. Und Turkmenistan musste sich gewollt oder ungewollt mit allen solidarisieren, obwohl sich zwischen Armenien und Turkmenistan herzliche Beziehungen herausgebildet haben. Armeniens Botschafter in Turkmenistan war beispielsweise lange Zeit der Doyen des gesamten diplomatischen Korps, führte ein aktive gesellschaftliches und weltliches Leben und genoss Ansehen bei den Diplomaten und die Gunst der turkmenischen Offiziellen. Es kann nicht gesagt werden, dass diese Glückwünsche zum Sieg im Krieg gegen den befreundeten Staat zu einer Überraschung für die turkmenischen Offiziellen wurden. Der Turkic Council hatte auch während des Bergkarabach-Krieges öffentliche solidarische Unterstützung für Aserbaidschan und Alijew persönlich bekundet. Aber damals war Turkmenistan nicht einmal Beobachter in der Organisation der Turkstaaten gewesen. Jetzt aber musste man sich damit abfinden und sich dem kollektiven Willen unterordnen. Und da beschloss die offizielle turkmenische Presse, dies ungeschehen zu machen, indem sie Materialien über das ausschließlich wirtschaftliche Interesse Turkmenistans an der Mitgliedschaft in der OTS und überdies mit dem Status eines Beobachters veröffentlichte. Aber es war noch nicht einmal ein Monat ins Land gegangen, als die Organisation der Turkstaaten begann, jene Rolle wahrzunehmen, für die sie auch etabliert worden war – die politischen Interessen der Türkei durchzusetzen. Von Recep Erdogan wurde die Frage nach einem Beitritt zur OTS durch die Türkische Republik Nordzypern – einem von keinem außer durch die Türkei selbst anerkannten Gebilde, das über einen umfangreichen Background an Konfliktsituationen verfügt und bis zum heutigen Tag ein konfliktgeladenes bleibt — aufgeworfen. Eine Aufnahme Nordzyperns in die Organisation der Turkstaaten, worauf die Türkei besteht, würde dessen faktische Anerkennung durch die übrigen Organisationsmitglieder bedeuten, was eine Kollision mit einer großen Anzahl von Dokumenten der UNO und OSZE nach sich ziehen würde, aber auch ein hartes In-die-Quere-kommen mit den Interessen der Europäischen Union und einzelner Länder, aber auch in einer Reihe regionaler Mittelmeer-Organisationen. Sie alle erkennen die Türkische Republik Nordzypern nicht an und werden dies in der Perspektive aufgrund prinzipieller Ursachen nicht tun.
Für Turkmenistan hat sich aber die Wahl ergeben – dem brutalen Druck von Bruder Erdogan zu widerstehen, wobei die Reste der eigenen Neutralität verteidigt werden und auf den Beobachterstatus in der OTS hingewiesen wird, oder sich zusammen mit der Türkei auf einen Konflikt mit einer großen Anzahl internationaler Akteure inkl. der absoluten Schwergewichte einlassen und dabei de facto die Neutralität aufgeben. Jedoch unter Berücksichtigung jenes Pakets von Dokumenten über eine Zusammenarbeit, die während des jüngsten Turkmenistan-Staatsbesuchs von Recep Erdogan unterzeichnet wurden, ist die Auswahl des Fahrwassers bestimmt worden. Wie auch das Schicksal der turkmenischen Neutralität.
Eine noch größere Intrige entwickelt sich derzeit in Turkmenistan an sich. Und sie hängt mit der Vorbereitung auf den sogenannten Machttransit zusammen. Müßige Beobachter und in der Gesellschaft zirkulierende Gerüchte sprechen davon, dass zu Beginn des kommenden Jahres Präsident Berdymuchamedow das Amt seinem Sohn Serdar Berdymuchamedow (dem „Prinz von Turkmenistan“ – „NG“) übergeben werde. Es gibt jedoch keinerlei Anzeichen für einen realen Transit. Der Präsident fühlt sich nach wie vor gut, empfängt ausländische Gäste und reitet. Sein Sohn Serdar nimmt mit einer erstaunlichen Geschwindigkeit unterschiedliche Ämter in der Regierung ein. Das Wichtigste ist aber, und alle verstehen dies, dass sich Serdar Berdymuchamedow in keiner Weise auch nur auf einem einzigen Posten offenbarte bzw. bewährte, auf nicht eine einzige reale Erfolgsgeschichte verweisen kann und eine schwache politische Figur ist, die keine Unterstützung der Eliten hat und keine Achtung – und ergo – keine Anerkennung der Gesellschaft genießt. Und dies ist nicht einmal seine Schuld. In dem bestehenden Paradigma des Personenkultes um den Präsidenten ist es beinahe unmöglich, zu einer vollwertigen, eigenständigen politischen Figur zu werden, selbst für den Sohn des Präsidenten. Und die Macht einem schwachen Politiker zu übergeben, bedeutet, das Präsidentenamt abzuwerten, das in Turkmenistan ein sakrales, ein streng personifiziertes ist. Wie bereits oben betont wurde, ist der Personenkult um den Präsidenten eine der Säulen der Macht und der staatlichen Souveränität. Gerüchte, Erfindungen und Prognosen diskreditieren dieses Machtinstitut stärker als die angenommene „Machtübergabe“ unter Verletzung von jeglichen demokratischen Prozeduren. Doch die Herrschenden geben keinerlei verständliche Erklärungen ab. Lediglich die Geheimdienste verbreiten in der Gesellschaft aufdringlich Gerüchte über die „Heldentaten und Verdienste“ von Serdar: So seien dank ihm die Preise für Fleisch und Geflügel gesunken, habe er die außer Rand und Band geratenen Neffen des Präsidenten zur Verantwortung gerufen. Sowohl das eine als auch das andere sind wunde Punkte der Gesellschaft. Doch für Heldentaten und Leistungen kann das Vorgebrachte nicht ausreichend sein.
Derweil verblasst der Personenkult um den Präsidenten vor diesem Hintergrund. Und Sohn Serdar hat nicht die Fähigkeit dazu. Im Ergebnis dessen verlieren beide – sowohl im Land als auch in den Augen der internationalen Partner. Mit einer vollwertigen Kontinuität wird es nichts. Und die Zukunft des Präsidenten an sich und seines Nachfolgers bestimmen sie nicht selbst öffentlich. Übrigens, auch die Herrschenden haben letzteres gespürt. Und das kommende Jahr ist in Turkmenistan zur „Ära des Volkes mit dem Arkadag“ erklärt worden. (Aus dem Turkmenischen übersetzt bedeutet Arkadag Schutzherr, ein weit verbreiteter nichtkodifizierter Titel von Präsident Berdymuchamedow.) Auf den Basaren von Aschgabat reagierte man einfach auf diese Kunde, indem man dies als „Schlussakkord“ wertete.