Das Oberste Gericht hat am 28. Dezember der Klage des russischen Generalstaatsanwalts zur Liquidierung der internationalen historischen und Bildungsgesellschaft „Memorial“ (die seit mehreren Jahren bereits in der Russischen Föderation als ein „ausländischer Agent“ eingestuft wurde) stattgegeben. Am 29. Dezember folgte eine gleiche Entscheidung des Moskauer Stadtgerichts gegen das Menschenrechtszentrum von „Memorial“ (das ebenfalls in Russland als ein „ausländischer Agent“ gelabelt wurde). Dabei werden beide Strukturen nun aus dem Register der sogenannten ausländischen Agenten ausgeschlossen (nach dem Inkrafttreten der Gerichtsurteile, die aber angefochten werden) und können probieren, in einem neuen Format anzutreten, wenn dies die Offiziellen erlauben.
„Memorial“ spekuliere zum Thema der Repressalien in der Sowjetzeit, erklärte der Vertreter der russischen Generalstaatsanwaltschaft Alexej Schafjarow im Obersten Gericht. „Es ist offensichtlich, dass „Memorial“ ein falsches Bild von der UdSSR als einen terroristischen Staat schafft sowie Nazi-Verbrecher, an deren Händen das Blut sowjetischer Bürger ist, reinwäscht und rehabilitiert“, sagte er.
„Warum sind wir, die Nachfahren der Sieger, heutzutage gezwungen, Versuche einer Rehabilitierung von Landesverrätern und Nazi-Komplizen zu beobachten? Sicherlich weil dafür irgendwer zahlt. Und eben dies ist die wahre Ursache solch einer vehementen Ablehnung, mit der sich „Memorial“ vom Status eines ausländischen Agenten zu lösen sucht“, unterstrich Schafjarow.
Nach seinen Worten sei „Memorial“ ja überhaupt für eine Verewigung der historischen Erinnerungen geschaffen worden, habe sich aber in der letzten Zeit vor allem auf deren Entstellung konzentriert. Dies betreffe in erster Linie die Erinnerungen an den Großen Vaterländischen Krieg, meinte der Vertreter der Generalstaatsanwaltschaft. Es sei angemerkt, dass dies vom Prinzip her ein Signal für ein künftiges Strafverfahren ist, da solch eine Entstellung durch das Gesetz verboten worden ist. Vorerst aber hatte Schafjarow von der groben Verletzung eines anderen Gesetzes, dem über die ausländischen Agenten gesprochen. Nach seinen Worten habe der Staat allen Grund zur Annahme, dass man gerade so die von „Memorial“ zugelassenen Verstöße im Zusammenhang mit dem Nichtausweisen des Status eines ausländischen Agenten bewerten müsse.
Es sei daran erinnert, dass man in der Generalstaatsanwaltschaft behauptet, dass „Memorial“ die „Tatsache der Wahrnehmung der Funktion eines ausländischen Agenten“ verheimliche, weshalb die Gesellschaft und verantwortliche Vertreter von ihr seit 2019 mehrfach ordnungsrechtlich zur Verantwortung gezogen wurden. Und natürlich beharrt die Aufsichtsbehörde auf ihrer Meinung, dass sich „Memorial“ bei Bestehen einer ausländischen Finanzierung mit einer politischen Tätigkeit zwecks Beeinflussung staatlicher Entscheidungen und Ausprägung der öffentlichen Meinung befasse. Folglich werde die Liquidierung eine Bestrafungsmaßnahme sein, die den begangenen Rechtsverletzungen adäquat sei.
„Das Gericht hat entschieden: Dem Klageantrag des Generalstaatsanwalts der Russischen Föderation stattzugeben, die internationale gesellschaftliche Organisation „Internationale Geschichts- und Bildungs- sowie karitative und Menschenrechtsgesellschaft „Memorial“ und ihre regionalen Abteilungen und andere Strukturorganisationen zu liquidieren“, verkündete die Richterin des Obersten Gerichts Alla Nasarowa, während der Teil des Urteils mit der Begründung der Entscheidung nachgereicht wird.
Am 29. Dezember erwartete das gleiche Schicksal das Menschenrechtszentrum von „Memorial“. Diese Abteilung befasst sich freilich mehr mit der aktuellen, denn mit der „historischen“ Politik. Aber dies ist für die Offiziellen scheinbar gleichbedeutend. Derweil wird, wie es scheint, ein Plus durch die gefällten und anstehenden Gerichtsentscheidungen für alle Strukturen von „Memorial“ deren unweigerlicher Ausschluss aus dem Register der ausländischen Agenten sein. Und damit die Möglichkeit, wenn sich natürlich irgendein Wolle-Händler diesen Namen unter den Nagel reißt (so geschehen mit dem Nawalny-Projekt „Kluge Entscheidung“/„Smart Voting“ – Anmerkung der Redaktion), unter anderen Namen formal die Arbeit wiederaufzunehmen.
Wie bereits der Vorstandsvorsitzende der internationalen „Memorial“-Organisation Jan Ratschinskij erklärte, sei es unmöglich, die Tätigkeit der Organisation vollkommen einzustellen, da sie Strukturen habe, die keine Rechtspersonen sind. „Die Tätigkeit von „Memorial“ zu beenden, dies liegt nicht in den Möglichkeiten der Staatsanwaltschaft“, unterstrich er. Zweifel hinsichtlich der Notwendigkeit, gegen die Menschenrechtler so demonstrativ hart vorzugehen, äußern bereits auch durchaus kremltreue gesellschaftliche Aktivisten. Solch eine Meinung vertritt beispielsweise Alexander Brod, Mitglied des Präsidialrates für Menschenrechtsfragen. Er ist auch der Auffassung, dass die Tätigkeit von „Memorial“ zur Erforschung der Repressalien der Vergangenheit unbedingt fortgesetzt werden müsse. Wenn eine Neuformatierung und Wiederbelebung von „Memorial“ doch erfolgen, so werde dies bedeuten, dass die Offiziellen lediglich demonstrativ eine belehrende Härte an den Tag gelegt hätten. Die Argumente der Generalstaatsanwaltschaft und der hauptstädtischen Staatsanwaltschaft, die in den Gerichtssälen erklangen, lassen aber an einem formellen Charakter der getroffenen Entscheidungen zweifeln.
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Den Ausgang der Prozesse haben auch Autoren russischer gesellschaftspolitischer Telegram-Kanäle verfolgt. Der Chefredakteur des Hörfunksenders „Echo Moskaus“ Alexej Wenediktow zitierte auf seinem Kanal (https://t.me/aavst55) die Reaktion des Chefs der Partei „Gerechtes Russland – Für die Wahrheit“ Sergej Mironow: „Die Entscheidung des Obersten Gerichts zur Liquidierung von „Memorial“ ist ein Schlag ins Gesicht aller Opfer der Repressalien, in meins und das meiner Verwandten! Meinen Großvater Jemeljan hatte man 1937 erschossen. Er war ein einfacher Bauer gewesen. Sie aber hatten den Plan hinsichtlich der „Feinde“ erfüllt. Der Staat hat die Prüfung zur eigenen Geschichte nicht bestanden. Es ist ein fataler Fehler!“.
„Das heutige Ereignis hat der Generalstaatsanwaltschaft erlaubt, als Apparat politisch zu punkten“, nehmen die Autoren des Kanals „Temnik“ (https://t.me/polittemnik) an. „Gerade dieses Rechtsschutzorgan hatte die Klage zur Liquidierung der so bedeutenden NGO eingereicht und leidenschaftlich seine Initiative im Gericht verteidigt, wobei es zu Beanstandungen gegenüber der internationalen „Memorial“-Organisation nicht nur aus dem juristischen, sondern auch aus dem ideologischen (Anschwärzung des Bildes der UdSSR) griff“.
- S. der Redaktion „NG Deutschland“
Die gefällten Urteile gegen „Memorial“ wurden in den Moskauer Zeitungen gemeldet, kommentiert und eingeordnet. Freilich sind dabei einige Details untergegangen, auf die wir aber unbedingt hinweisen möchten. Beispielsweise stellt man sich die Frage nach dem Weltbild der Staatsanwälte, die gegen die international anerkannte NGO angetreten waren. Der 51jährige Alexej Schafjarow, der im Obersten Gericht auftrat, ist aktives Mitglied der Eurasischen Bewegung. Und diese von dem russischen konservativen Philosophen und Politologen Alexander Dugin angeführte Organisation sieht sich als eine Kraft gegen Liberalismus und westliche Werte sowie Verteidiger einer Geschichtsauslegung, die negative Momente ausklammert. Daher überrascht nicht, dass Schafjarow auch die im Jahr 2015 verabschiedete Konzeption für die staatliche Politik zur Verewigung des Andenkens an die Opfer der Repressalien ignorierte. In der heißt es aber: „Russland kann zu keinem Rechtsstaat in vollem Maße werden, ohne das Andenken an seine Bürger verewigt zu haben, die zu Opfern politischer Repressalien geworden waren“. „Memorial“-Verteidiger und Mitglied des Präsidialrates für Menschenrechtsfragen Genri Resnik prangerte dies in seinem Schlussplädoyer an und betonte: „Die Gesellschaft Memorial“ fördert die Gesundheit der Nation. Dies jetzt aus der Geschichte des Landes zu entfernen, bedeutet, der Vorstellung „Der Staat hat immer recht“ Unterstützung zu leisten. Der Begriff des Patriotismus wird mit dem Begriff „Staatsmacht“ gleichgesetzt“.
In den drei Verhandlungstagen, die der Prozess im Obersten Gericht dauerte, und auch im schnelleren Verlauf der Verhandlungen (obgleich die Vorhandlungen sich etwas in die Länge gezogen hatten) im Moskauer Stadtgericht war zu spüren: Hinter den vorgebrachten formellen Beanstandungen steht große Politik. Russlands Zivilgesellschaft sollte weiter plattgemacht werden, das Land unter Präsident Wladimir Putin wird weiter ideologisch gleichgeschaltet und nimmt Abschied von einer Meinungsvielfalt, die laut Verfassung eine Existenzberechtigung besitzt. Verständlich daher die Kritik aus dem Ausland, wo man mit großer Besorgnis die „Memorial“-Urteile aufgenommen hat. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte forderte bereits, die Realisierung der Urteile auszusetzen, da die bisherigen „Memorial“-Klagen in Strasbourg noch nicht verhandelt worden sind. Ob die Forderung in Moskau umgesetzt wird, bleibt offen. Dafür gab es aber eine Erklärung des Vorsitzenden des Duma-Ausschusses für Sicherheitsfragen Wassilij Piskarjow (Kremlpartei „Einiges Russland“), die bezeichnend angesichts der Kritik aus dem Ausland ist. „Ich bin über die Position der Offiziellen der USA und der Europäischen Union im Zusammenhang mit der Entscheidung des russischen Gerichts über die Liquidierung der Internationalen „Memorial“-Organisation nicht erstaunt, da Washington und Brüssel gerade jene Tätigkeit von „Memorial“ und deren zahlreichen Strukturen verteidigen, die man gegen Russland nutzen kann“, sagte der ehemalige hochrangige Justizbeamte. „Erneut weist man uns an, was und wie zu tun ist. Russland ist für einen gleichberechtigten Dialog offen, akzeptiert aber kein Diktat aus dem Ausland und den Versuch, uns „seine Wahrheit“ und seine verzerrte Sicht auf die Ereignisse der Vergangenheit und Gegenwart aufzudrängen“.
Während sich der „Volksvertreter“ so vehement für die gegen „Memorial“ gefällten Urteile ausspricht, der Kreml sich mit seinen offiziellen Kommentaren dazu zurückhält und liberal denkende bekannte russische Persönlichkeiten nach wie vor das Geschehene anprangern und vor den möglichen negativen Folgen warnen, ist nicht zu übersehen: Die Bevölkerung hat in großen Teilen überhaupt nicht wahrgenommen, was sich da „im Namen der Russischen Föderation“ in den Mauern des Obersten und des Moskauer Stadtgerichts am 28. und 29. Dezember ereignete. Kurz vor dem Jahreswechsel hat man andere Probleme im Kopf. Da bleibt die widersprüchliche Geschichte des eigenen Landes auf der Strecke. Und verzweifelt stellt sich die Frage: War die gesamte Arbeit von „Memorial“ für die Katz?