Ein Drittel der Ukrainer (34 Prozent) feierten Silvester mit einem Gefühl der Sorge, fast die Hälfte (43 Prozent) – mit Hoffnungen. Dabei sind 65,5 Prozent – genauso wie auch im Jahr zuvor – der Auffassung, dass sich die Ereignisse im Land in einer falschen Richtung entwickeln würden. Die Zahl derjenigen, die überzeugt sind, dass alles normal sei, hat sich im vergangenen Jahr von 16,5 bis auf 20 Prozent erhöht. Dies belegen die Ergebnisse einer soziologischen Erhebung, die gemeinsam durch das Rasumkow-Zentrum und die I.-Kutscheriw-Stiftung „Demokratische Initiativen“ durchgeführt worden war.
Die Untersuchung der beiden angesehenen analytischen Zentren erlaubt, über die Stimmungen in der Ukraine zum Jahreswechsel zu urteilen. Es muss dabei eine wichtige Besonderheit hervorgehoben werden: Über 20 Prozent vermochten oder wollten nicht auf die Fragen der Soziologen antworten. Dies kann sowohl von einer Verwirrtheit der Bürger in der gegenwärtigen Situation als auch von dem Versuch zeugen, die Meinung zu verheimlichen, die der offiziellen Haltung zuwiderläuft. Beispielsweise berichtete die Regierung zum Jahresende über gute Wirtschaftsdaten und eine stabile Situation in der Energiewirtschaft. Die einfachen Ukrainer aber hegen Zweifel an der Glaubwürdigkeit dieser Erklärungen, wollen aber nicht öffentlich diese Meinung bekunden.
Von denjenigen, die zu einer Antwort bereit waren, nannten als wichtigsten Ereignissen des Jahres 2021 6,5 Prozent die COVID-19-Pandemie, 6,3 Prozent – den 30. Jahrestag der Unabhängigkeit der Ukraine und 5,9 Prozent die Vakzinierung gegen das Coronavirus. Während Ende des Jahres zuvor 12,2 Prozent der Befragten unter den wichtigsten Ereignissen den Punkt „der andauernde Krieg im Donbass“ aus der von den Soziologen vorgeschlagenen Themen-Liste auswählten, so hatten kurz vor dem Jahreswechsel nur 2,8 Prozent dieses Problem selbst genannt. Weitere drei Prozent nannten als Ereignis des Jahres die „Gefahr eines Einmarschs von Russland“, da dieses Thema in den letzten Wochen und Monaten in aller Munde war. Die skandalöse Absetzung des Vorsitzenden der Werchowna Rada (des ukrainischen Parlaments – Anmerkung der Redaktion) Dmitrij Rasumkow, der als „Wagnergate“ bezeichnete Skandal, die Arbeitsaufnahme des Marktes für den Handel mit landwirtschaftlichen Nutzflächen, der Beginn des Wirkens der „Krim-Plattform“ (eine 2021 begonnene Aktion des ukrainischen Außenministeriums, die im Westen als Annexion bezeichnete 2014 begonnene Integration der Halbinsel Krim in den Bestand Russlands mit diplomatischen Mitteln rückgängig zu machen – Anmerkung der Redaktion), das Gesetz über die Bekämpfung der Oligarchen – all diese spektakulären Themen werden von den einfachen Bürgern nicht als Ereignisse des Jahres aufgefasst.
Präsident Wladimir Selenskij lag wie auch Ende 2020 auf dem ersten Platz, führte dieses Mal aber gleich zwei Ratings an. Er wurde zum „Politiker des Jahres“ und zur „Enttäuschung des Jahres“. Die Soziologen betonten, dass im Jahr 2021 sowohl die Zahl seiner aktiven Anhänger (von 14,8 im Dezember 2020 bis 17 Prozent im Dezember 2021) als auch die Zahl der Kritiker zugenommen hat (Ende 2020 bezeichneten 28 Prozent Selenskij als „Versager des Jahres“, und ein Jahr später 45 Prozent als „Enttäuschung des Jahres“). Dies bedeutet, dass das Staatsoberhaupt der politische Führer bleibt und seine Tätigkeit Aufmerksamkeit findet. Den zweiten Rang in der Kategorie „Politiker des Jahres“ teilten sich mit jeweils acht Prozent der Chef der Partei „Europäische Solidarität“ und Selenskij-Vorgänger im Präsidentenamt Petro Poroschenko und der Ex-Werchowna-Rada-Chef Dmitrij Rasumkow, der wahrscheinlich im neuen Jahr seine Partei bilden wird. Aber Poroschenko hat man weitaus häufiger als Rasumkow als „Enttäuschung des Jahres“ bezeichnet.
Von daher der Grad der Unterstützung für die politischen Kräfte und Führungsfiguren unter der Bedingung, wenn jetzt Parlaments- und Präsidentschaftswahlen abgehalten werden würden. Die Präsidentenpartei „Diener des Volkes“ würde 20,5 Prozent unter jenen Wählern erhalten, die unbedingt an die Wahlurnen kommen würden und sich mit ihrer Entscheidung endgültig festgelegt haben. Die Partei „Europäische Solidarität“ von Petro Poroschenko würde auf 17 Prozent kommen, „Batkiwstschina“ von Julia Timoschenko – auf 10,5 Prozent, die noch nichtexistierende Partei von Dmitrij Rasumkow – auf 10,5 Prozent und die moskautreue Partei „Oppositionsplattform – Für das Leben“ von Viktor Medwedtschuk, Jurij Boiko und Wadim Rabinowitsch – auf zehn Prozent. Die Experten des Rasumkow-Zentrums (benannt nach dem Vater des ehemaligen Chefs der Werchowna Rada — Anmerkung der Redaktion) und der Stiftung „Demokratische Initiativen“ lenkten die Aufmerksamkeit darauf, dass die Partei „Diener des Volkes“ über eine gleichmäßig verteilte Unterstützung in allen Regionen, aber auch in den Wählergruppen hinsichtlich des Bildungsniveaus, des Eigentumsstatus und der Umgangssprache verfügt. Doch unter den Anhängern dieser Partei dominieren die jungen Menschen. Die ältere Generation orientiert sich an den „alten“ Politikern und deren Parteien. Für „Europäische Solidarität“ sind vor allem die Einwohner der westlichen und teilweise der zentralen Verwaltungsgebiete zu votieren bereit, aber auch die Wähler, die sich nicht zu den armen Menschen rechnen. Für die Timoschenko-Partei und für die „Oppositionsplattform – Für das Leben“ sind dagegen mehr jene, die von den Wirtschaftsproblemen berührt wurden. Unter den Anhängern der Partei von Julia Timoschenko sind im Unterschied zu den anderen politischen Kräften sehr viele Frauen. Noch mehrere Parteien würden sich jetzt im Bereich der Sperrklausel befinden, was bedeutet, dass die neue Werchowna Rada noch bunter hinsichtlich der Zusammensetzung als die derzeitige sein würde. Die Situation ändert sich aber schnell, und die nächste Wahl der Parlamentsabgeordneten erfolgt nicht früher als im Herbst des Jahres 2023.
Präsidentschaftswahlen sollen im Frühjahr 2024 abgehalten werden. Bis zu dieser Zeit können in der Ukraine neue Führungskräfte auftauchen. Aber derzeit würden fast 25 Prozent der sich festgelegten Wähler Wladimir Selenskij unterstützen, 16 Prozent – Petro Poroschenko, zehn Prozent – Julia Timoschenko und neun Prozent Dmitrij Rasumkow. Wenn es zu einer Stichwahl kommen würde, so würden die Ergebnisse im Duell Selenskij-Poroschenko und Selenskij-Timoschenko ungefähr gleichartige sein (rund 50 Prozent). Der amtierende Präsident würde im zweiten Wahlgang Jurij Boiko bezwingen, könnte aber gegen seinen ehemaligen Mitstreiter Dmitrij Rasumkow verlieren.
Die Ukrainer, die keine neuen politischen Führungskräfte sehen und schrittweise von den derzeitigen Politikern enttäuscht werden – einschließlich vom Team neuer Gesichter, mit dem Selenskij an die Macht gekommen war -, verlieren aber nicht den Optimismus. 18 Prozent sind der Auffassung, dass die Ukraine imstande sei, alle Probleme und Schwierigkeiten im Verlauf einiger Jahre zu überwinden. 54 Prozent, dass eine lichte Zukunft in der fernen Perspektive beginne. Nur 18 Prozent sind wie auch im Vorjahr überzeugt, dass es das Land nicht schaffen werde.
Bei der Beurteilung der subjektiven Stimmungen sagten 53 Prozent, dass sie sich im zu Ende gegangenen Jahr als glückliche gefühlt hätten, als unglückliche – 35 Prozent. „Der Grad des Glücks korreliert mit der materiellen Lage. Die materiell besser dastehenden Ukrainer erklärten erheblich häufiger, dass sie im zu Ende gegangenen Jahr glücklich gewesen seien. Genau solche eine Abhängigkeit besteht auch hinsichtlich der Erwartungen für das neue Jahr. Je reicher die Befragten desto häufiger erwarten sie, dass das Jahr 2022 besser als das Jahr 2021 wird“, heißt es im Bericht zu den Untersuchungsergebnissen. Dem nach zu urteilen, dass die Ukrainer die Regierung und die Werchowna Rada für die wirtschaftliche Lage verantwortlich machen, wird Wladimir Selenskij möglicherweise schwierige Entscheidungen sowohl hinsichtlich vorgezogener Wahlen als auch in Bezug auf die personelle Zusammensetzung seines Teams treffen müssen.
Korrekturen an der Situation könnte eventuell ein Krieg oder eine Eskalierung der Lage im Donbass vornehmen, das heißt Ereignisse, die in der Lage sind, die Ukrainer unabhängig von den politischen Neigungen und vom Besitzstatus zusammenzuschmieden. Derzeit glauben nur sehr wenige an die Möglichkeit eines großangelegten Krieges, obgleich solch eine Gefahr in den Massenmedien ständig erörtert wird. Die besorgniserregenden Meldungen haben wohl eher die Haltung der Ukrainer zu Russland beeinflusst. Laut einer Umfrage, deren Ergebnisse zum Jahresende das Kiewer internationale Institut für Soziologie vorlegte, standen im November 39 Prozent der Ukrainer in dem einen oder anderen Maße Russland gut gegenüber (Anfang des Jahres 2021 waren es 41 Prozent). Doch 47 Prozent standen dem Nachbarland negativ gegenüber (zu Beginn des Jahres waren es noch 42 Prozent gewesen).