In der Russischen Föderation verringert sich die Anzahl der in der Wissenschaft tätigen Wissenschaftler und Spezialisten. Dies berichtete am Mittwoch Wissenschaftsminister Valerij Falkow Präsident Wladimir Putin. Die besten Wissenschaftler ziehen es oft vor, sich nicht in Russland, sondern in den USA, in Europa und selbst in China mit ihren Forschungsarbeiten zu befassen. Eine reale Alternative zu einer Wissenschaftler-Auswanderung würden in Russland nur die Atom-Industrie und der Rüstungsindustriekomplex schaffen, meinen Experten.
In Russland wird bereits nicht das erste Jahr ein Exodus hochqualifizierter Spezialisten beobachtet. Die Auswanderung von Wissenschaftlern und hochqualifizierten Spezialisten aus der Russischen Föderation hat sich in den letzten neun Jahren um das 5fache beschleunigt, berechnete der Wissenschaftliche Chefsekretär der Russischen Akademie der Wissenschaften, Nikolaj Dolguschkin. „Während im Jahr 2012 14.000 Wissenschaftler das Land verließen, so sind es jetzt bereits 70.000. Russland ist das einzige entwickelte Land, wo sich mehrere Jahrzehnte lang die Anzahl der Wissenschaftler verringert“, berichtete er. Nach seinen Worten spiele die massenhafte Ausreise wissenschaftlicher Kader ins Ausland „nicht die letzte Rolle“ bei der Abnahme der Zahl von Forschern in Russland. Seit 1990, als die Russische Föderation weltweit den ersten Platz hinsichtlich dieses Parameters einnahm, hat sich die Anzahl der Forscher von 992.000 bis auf 348.000 verringert. „Das heißt: 65 Prozent, zwei Drittel haben wir innerhalb von drei Jahrzehnten verloren“, sagte der Wissenschaftler.
Experten aus der Russischen Akademie für Volkswirtschaft und Staatsdienst haben angemerkt, dass aus Russland eine Intellektuellen-Auswanderung erfolge. Eine Hochschulausbildung haben rund 70 Prozent der ins Ausland gehenden Bürger Russlands. Und in die Russische Föderation kommen vor allem geringqualifizierte Arbeitskräfte aus den zentralasiatischen Republiken. Unter ihnen haben nur 13 bis 17 Prozent eine Hochschulausbildung.
Russland ist ein spürbarer „Lieferant“ hochqualifizierter Spezialisten für die entwickelten Länder. So sind aus der Russischen Föderation über eine Million Spezialisten in Mitgliedsländer der Organisation für Wirtschaftskooperation und Entwicklung (OECD) gegangen, und dies vor dem Hintergrund der Gesamtzahl von 2,5 Millionen Menschen, die Russland verlassen haben. Das heißt: Rund 42 Prozent der russischen Einwanderer in den OECD-Ländern sind zu den hochausgebildeten Spezialisten zu rechnen. Und lediglich rund 20 Prozent der Auswanderer in OECD-Länder – zu den geringausgebildeten.
Der Exodus der Spezialisten hat nicht gestern begonnen. Laut Angaben der Weltbank sind über zehn Millionen Menschen aus Russland zum Arbeiten ins Ausland gegangen. Anders gesagt: Unser Land hat fast zehn Prozent der Gesamtzahl der Bürger im arbeitsfähigen Alter oder Kinder verloren. Hinsichtlich der absoluten Zahl der Emigranten hat Russland die Führungsrolle unter den 24 Staaten, die die Weltbank zur Region „Europa und Zentralasien“ rechnet, fest in seinen Händen.
Unter den hochqualifizierten Kadern ist das Streben nach einer Ausreise größer als in anderen Gruppen, erklären Experten der Boston Consulting Group (BCG). Ihre Befragung, an der 24.000 Befragte teilgenommen hatten, zeigte, dass die Hälfte der russischen Wissenschaftler im Ausland arbeiten möchte, 54 Prozent der Top-Manager und 54 Prozent der IT-Spezialisten. Außerdem würden gern ca. 49 Prozent der Beschäftigten mit einer Ingenieurausbildung und 46 Prozent der Beschäftigten aus dem Bereich Medizin im Ausland arbeiten. 2Beinahe zwei Drittel der potenziellen Auswanderer (65 Prozent) sind „digitale Talente“: angefangen bei Spezialisten für den künstlichen Intellekt bis zu Nutzer-Interface-Designern“, betonte man in der BCG.
Die zielgerichteten Untersuchungen und Befragungen unterscheiden sich oft spürbar von der offiziellen Statistik. Experten erklären den Unterschied bei den Angaben über die Auswanderer damit, dass die auswandernden Bürger Russlands oft in der Heimat Immobilien behalten und weiterhin Steuern in der Russischen Föderation zahlen. Laut Angaben des russischen Statistikamts Rosstat haben vom Januar bis einschließlich Oktober vergangenen Jahres 26.000 Menschen das Land in Richtung fernes Ausland, zu dem unter anderem auch Abchasien und Georgien gerechnet wird, verlassen, während ein Jahr zuvor noch 52.400 waren.
Als einen wichtigen Grund für den Exodus von Spezialisten aus dem Land nennen Experten die unzureichende Finanzierung der Wissenschaft, die zurückgebliebene Infrastruktur und die geringen Gehälter. Allerdings ist in den letzten Jahren eine Zunahme der Gehälter für die Beschäftigten und Spezialisten in der Wissenschaft des Landes fixiert worden. So belief sich entsprechend den ersten zehn Monaten des vergangenen Jahres das Durchschnittsgehalt im Bereich der wissenschaftlichen Forschungen und Entwicklungen auf 88.400 Rubel (umgerechnet ca. 1020 Euro), was um 8,7 Prozent mehr war als im Jahr zuvor. Die Gehälter in dem Sektor seien um 62 Prozent höher als die russischen Durchschnittsgehälter, behauptet man in Rosstat.
Der 1. Vizedekan der Fakultät für Sozialwissenschaften und Massenkommunikation der Finanzuniversität bei der Regierung der Russischen Föderation, Pawel Selesnjow, weist darauf hin, dass das Bildungs- und Wissenschaftsministerium heute viel dafür unternehme, um junge Menschen für die Wissenschaft zu gewinnen und deren Ausreise aus der Russischen Föderation auszubremsen. „Die Spezialisten unterstützt man mittels verschiedener Zuschüsse, durch /Kollaborations- (Kooperations-) Projekte mit anderen Hochschulen. Man gewinnt berühmte Professoren aus dem Ausland“, berichtet er.
Dies ist aber bisher offenkundig für eine Beendigung des Spezialisten-Exodus unzureichend. Nach Aussagen Selesnjows müsse die Politik des Staates in diesem Teil gleichfalls mit der Geld- und Kredit- sowie sozial-ökonomischen Politik gekoppelt sein. Zum Beispiel werde der Spezialist, der irgendeine regionale Hochschule abgeschlossen hat, danach streben, in Moskau oder Sankt Petersburg zu arbeiten, fuhr er fort. Und solche regionalen Diskrepanzen müsse man beseitigen, sagte der Wissenschaftler.
Die konkurrenzfähigsten Bereiche hinsichtlich einer Stimulierung junger Kader bleiben in der Russischen Föderation die Kernenergetik und der Verteidigungsindustriekomplex. „Hier kann man einem jungen Spezialisten würdige Arbeitsbedingungen sichern. In diesen Branchen gibt es eigene Programme für die Unterstützung von Wissenschaftlern“, berichtet Selesnjow.
„Es wäre richtiger, neue Forschungszentren zu schaffen und die Gehälter zu erhöhen, wobei die Arbeitsbedingungen für Wissenschaftler im Land konkurrenzfähiger gemacht werden. Aber ausgehend von den internationalen Tendenzen werden die Anstrengungen des Staates zur Schaffung neuer Forschu7ngslabors nicht unbedingt jene aufhalten, die fest entschlossen sind, das Land zu verlassen. Besonders wenn die Spezialisten konkrete Arbeitsangebote aus dem Ausland haben“, meint Maria Kislowa, Direktorin des russischen Office des Unternehmens „GoStudent“.
Einige Spezialisten sprechen auch von spürbaren positiven Veränderungen. „Das Einkommensniveau der Wissenschaftler nimmt zu, erneuert wird die materiell-technische Basis für Forschungsarbeiten, eine Wissenschaftlerkarriere wird zu einer attraktiveren Lebensentscheidung. Im Jahr 2020 sind in den Organisationen, die Forschungs- und Entwicklungsarbeiten durchführen, 14.000 Hochschulabsolventen eingestellt worden. Dies sind um 25 Prozent mehr als im Jahr 2019“, berichtete Jekaterina Strelzowa, stellvertretende Direktorin des Zentrums für Statistik und Monitoring von Wissenschaft und Innovationen an der Moskauer Hochschule für Wirtschaftswissenschaften.
Die Coronavirus-Pandemie habe ein wenig den Exodus qualifizierter Spezialisten ausgebremst. Das Online-Arbeitsregime erfordert jetzt nicht unbedingt den Umzug eines Spezialisten in ein anderes Land, betont die Marketing-Direktorin von Kelly Services, Jeanna Wolkowa.
Das Problem des Exodus junger Wissenschaftler aus der Russischen Föderation sei seit den 1990er Jahren für Russland aktuell, konstatiert Vitalij Terentjew, GR-Direktor des Unternehmens Headhunter. „Für eine Verringerung des Weggangs von IT-Spezialisten erarbeitet der Staat zusammen mit der Wirtschaft komplexe Maßnahmen zur Unterstützung des IT-Sektors und zur Stimulierung der digitalen Umgestaltung der Unternehmen. Dabei wird die Nachfrage nach jungen wissenschaftlichen Mitarbeitern auf dem Arbeitsmarkt nur zunehmen“, meint er. „Im IT-Bereich kann die russische Wirtschaft oft hinsichtlich der Gehälter konkurrieren. Doch im Bereich der Forschungs- und Entwicklungsarbeiten ist es schwieriger zu konkurrieren“, berichtet Terentjew.
Laut Angaben des Internetportals Headhunter hat die Nachfrage nach wissenschaftlichen Mitarbeitern auf dem russischen Arbeitsmarkt im vergangenen Jahr um 37 Prozent im Vergleich zum Jahr 2020 zugenommen und überstieg 29.000 offene Stellen. „Dabei war jede dritte offene Stelle für Wissenschaftler-Spezialisten ohne Arbeitserfahrungen ausgeschrieben worden, für jede zweite offene Stelle waren geringe Erfahrungen aus einer ein- bis dreijährigen Berufstätigkeit notwendig“, unterstreicht Terentjew. Spitzenreiter hinsichtlich des Einstellens wissenschaftlicher Spezialisten waren die Medizin, die Holzindustrie, die Chemieindustrie und der Bergbau.