Die Ukraine plant, nur auf diplomatischem Wege jene Territorien zurückzuholen, die es als zeitweilig okkupierte ansieht. Sie schickt sich aber an, die Verteidigungsfähigkeit zu verstärken, damit sich die Situation von 2014 in der Zukunft nicht wiederholen kann. Dies erklärte am Mittwoch der Präsident der Ukraine, Wladimir Selenskij, bei einer Pressekonferenz zu den Ergebnissen seiner Begegnung mit dem niederländischen Premierminister Mark Rutte: „Heute werden wir nicht einen Abschnitt unseres Bodens nicht mehr hergeben, wir geben unsere Territorien nicht her“.
Am Vortag hatte Selenskij bei seinem Auftritt in der Werchowna Rada (dem ukrainischen Parlament – Anmerkung der Redaktion) einen Erlass über die Verstärkung der Verteidigungsfähigkeit des Staates unterzeichnet. In dem Dokument sind Präsidentenaufträge für die Regierung und das Verteidigungsministerium enthalten. Jeder von ihnen muss in Form von Gesetzesvorlagen abgearbeitet werden, die zur Bestätigung an die Werchowna Rada gehen werden. Der ukrainische Verteidigungsminister Alexej Resnikow erläuterte: „Der Präsident hat die Aufgabe gestellt, ausgehend von unseren Möglichkeiten solch ein Modell für die Armee vorzuschlagen, damit auch bei keinem im Kreml der Gedanke aufkommt, die Ukraine zu überfallen. Um die Wahrscheinlichkeit von Kriegsszenarios auf ein Minimum zu reduzieren, brauchen wir nicht nur moderne Waffen, sondern auch eine große, professionelle und motivierte Armee“.
Nach Aussagen des Ministers werde die Reform mehrere Jahre dauern. Die Wehrpflicht werde bis zum 1. Januar 2024 beibehalten, doch als Alternative werde den Wehrpflichtigen vorgeschlagen, eine intensive Militärausbildung zu absolvieren, die erlaubt, innerhalb von drei bis vier Monaten Basisfertigkeiten zu erlangen. Die Interessenten können einen Vertrag für einen Militärdienst unterzeichnen. Selenskij beauftragte die Regierung, die Dienstbezüge in der Armee anzuheben, damit der Mindestverdienst umgerechnet rund 700 Dollar ausmache. Dabei ist geplant, innerhalb von zwei Jahren den Personalbestand der ukrainischen Streitkräfte um beinahe ein Drittel, um 100.000 Mann, aufzustocken. Vertreter der ukrainischen Opposition stellten jedoch bereits am Dienstag die Fragen darüber, ob denn im Staatshaushalt die Mittel für die Unterhaltung und Absicherung solch einer Armee vorhanden seien. Verteidigungsminister Resnikow versicherte, dass alle Berechnungen dem Parlament vorgelegt werden würden: „Die Regierung wird in der nächsten Zeit ein Paket von Gesetzesvorlagen und Durchführungsbestimmungen unterbreiten. Wir hoffen auf die Einheit des ukrainischen Parlaments in diesen Fragen“. Für die Entscheidungen, die die Verstärkung der Verteidigungsfähigkeit betreffen, hatten zuvor alle Fraktionen außer die der Partei „Oppositionsplatt – Für das Leben“ gestimmt. Die Mitglieder dieser Partei sind der Auffassung, dass man sich nicht auf einen Krieg vorbereiten, sondern direkt mit den nichtanerkannten Republiken DVR und LVR sowie mit Russland einigen müsse. Die anderen parlamentarischen Kräfte treten kategorisch gegen diese Idee auf.
In Kiew geht man von der offiziell in der Gesetzgebung verankerten Position aus, dass die Krim, aber auch die Verwaltungsgebiete Donezk und Lugansk in den Vorkriegsgrenzen „zeitweilig okkupierte Territorien der Ukraine“ sind. Die ukrainischen Offiziellen erkennen die DVR und LVR nicht als eigenständige Gebilde an und haben nicht vor, Verhandlungen mit Donezk und Lugansk über eine Legalisierung der Republiken und eine Gewährung eines Sonderstatus für sie zu führen. In der ukrainischen Hauptstadt ist man auf eine Liquidierung der DVR und LVR aus. Dies werde aber, wie Selenstkij regelmäßig präzisiert, nicht über ein Gewaltszenario, sondern ausschließlich mit diplomatischen Mitteln getan. Daher wird eine Umsetzung der Minsker Abkommen in der Reihenfolge, in der ihre Punkte festgeschrieben wurden, von der ukrainischen Seite kategorisch abgelehnt, da sie in der Lage sei, zu einer Bewahrung der DVR und der LVR in Form von autonomen Gebilden mit einer von Kiew unabhängigen Außen- und Wirtschaftspolitik zu führen. Dieser Tage erklärte Alexej Danilow, Sekretär des Rates für nationale Sicherheit und Verteidigung, ganz klar, dass eine Erfüllung der Minsker Abkommen in der derzeitigen Form die Souveränität der Ukraine gefährde.
Der politische Experte Taras Sagorodnyj betonte in einer Kolumne für das Nachrichtenportal „Glavred“ („Chefredakteur“), dass Kiew schon lange versuche, Korrekturen an den Minsker Abkommen vorzunehmen. Die russische Seite trete dagegen auf. Und es werde der Moment kommen, an dem „bei Russland die Nerven durchdrehen können. Es kann die DVR und LVR anerkennen, wonach die Minsker Abkommen ihre Gültigkeit verlieren. Und dann wird sich die Ukraine von dem Haken freimachen, an dem sie hängt“. Damit sei die Gefahr eines „Einmarschs“ zu erklären, über den man seit Herbst vergangenen Jahres im Westen und in der Ukraine spricht. „Nachdem massenhaft die Waffenlieferungen in die Ukraine begonnen haben und sich eine Koalition von Verbündeten herausgebildet hat, hat sich die Wahrscheinlichkeit eines Drucks seitens Russlands drastisch verringert. Und den Einmarsch, mit dem Russland versucht hätte, die Ukraine zu zwingen, die Bedingungen der Minsker Vereinbarungen zu erfüllen, wird es vorerst nicht geben“, meint Sagorodnyj.
Der Diplomat und ehemalige Berater des 5. ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko, Konstantin Jelisejew, ist der Meinung, dass sich die Gefahr verringert habe, da ständig Staats- und Regierungschefs sowie Außenminister nach Kiew kommen würden: „Dies ist ein starkes Signal für die Einheit und Solidarität seitens des Westens in der Zeit der Gefahr eines großangelegten Einmarschs seitens der Russischen Föderation… Die Besuche sind faktisch zu einem lebenden diplomatischen Schutzschild geworden, mit dem der Westen bestrebt ist, unseren Staat zu schützen, wobei darauf gesetzt wird, dass Putin keinen Befehl zum Einmarsch erteilt, wenn hochrangige ausländische Gäste in Kiew weilen“.
Am Dienstag hattes es mit Besuchen der Premierminister Großbritanniens, Polens und der Niederlande – Boris Johnson, Mateusz Morawiecki und Mark Rutte – begonnen. Am Donnerstag weilte der Präsident der Türkei Recep Tayyip Erdogan in der ukrainischen Hauptstadt. In der kommenden Woche sind die Besuche von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron (laut einer Meldung von Bloomberg vom Freitag), der Außenministerin Deutschlands Annalena Baerbock und des Pariser Amtskollegen Jean-Yves Le Drian geplant. Danach kommt Litauens Premierministerin Ingrida Šimonytė. Erörtert werden gleichfalls die Besuche von Regierungsdelegationen Tschechiens, der Slowakei und Österreichs. Der ukrainische Außenminister Dmitrij Kuleba hatte früher „zwei Wochen einer intensiven Diplomatie“ angekündigt, die auf eine Verstärkung der Positionen der Ukraine in der Konfrontation mit Russland abzielt.
Der ehemalige Außenminister des Landes, Pawel Klimkin, sagte gegenüber dem Fernsehkanal „Ukraine 24“, dass die NATO-Mitgliedschaft der Ukraine eine relative ferne Perspektive sei. Und Kiew brauche schon jetzt und unverzüglich Hilfe und Unterstützung. Er begrüßte die Entscheidung der gegenwärtigen ukrainischen Offiziellen, kleine Bündnisse zu bilden. Als eines solcher Projekte ist das Bündnis Ukraine-Polen-Großbritannien angekündigt worden. Geplant war, entsprechende Dokumente am 1. Februar zu unterzeichnen. Die Seiten haben jedoch die Unterzeichnung aufgrund einer Erkrankung der britischen Außenministerin Liz Truss verschoben. Dmitrij Kuleba berichtete ukrainischen Medienvertretern, dass Kiew bereits im Herbst London und Warschau die Idee von einem „Sicherheitsdreieck“ unterbreitet hätte. Er erläuterte, dass mittels kleiner Bündnisse „ein Sicherheits- und Prosperitätsgürtel geschaffen und die Ochse Ostsee – Schwarzes Meer verstärkt werden“. So entstanden das „Lublin-Dreieck“ mit Polen und Litauen, die „Quadriga“ mit der Türkei und das „assoziierte Trio“ mit Georgien und Moldawien. Nach Aussagen des ukrainischen Ministers werde das neue Bündnis unter Beteiligung Großbritanniens, Polens und der Ukraine die Zusammenarbeit auf eine neue Ebene heben. „Indem wir durch unsere Anstrengungen den Atlantik, die Ostsee und das Schwarze Meer verbinden, schaffen wir neue Möglichkeiten für unsere Länder und für die Region insgesamt“.
Obgleich es um politische Bündnisse geht, helfen die an ihnen beteiligten Staaten jetzt der Ukraine mit Waffenlieferungen. Wie früher mitgeteilt wurde, hatte Großbritannien leichte Panzerabwehrsysteme nach Kiew geliefert, nimmt aber auch an einer Verstärkung der ukrainischen Seestreitkräfte teil. Polens Premierminister war mit der Nachricht über die Bereitstellung mobiler Piorum-Luftabwehrkomplexe, aber auch von Munition und Drohnen unterschiedlicher Typen für die ukrainischen Streitkräfte gekommen. Der niederländische Ministerpräsident versprach gleichfalls Hilfe, da das Landesparlament die Bereitstellung von Verteidigungswaffen für die Ukraine unterstützt hatte. Dieser Tage wurde ebenfalls berichtet, dass Tschechien und die Länder des Baltikums Lieferungen vorbereiten würden. Auf den Internetseiten der Außenministerien Estlands, Lettlands und Litauens wurde mitgeteilt, dass die USA den drei Ländern die Genehmigung zur Übergabe von Waffen aus US-amerikanischer Produktion an die Ukraine erteilt hätten. „Estland wird Javelin-Panzerabwehrraketen übergeben. Und Lettland und Litauen – Stinger-Luftabwehrraketen und entsprechende Anlagen und Ausrüstungen“. In der gleichen Erklärung wurde unterstrichen: „Wir hoffen aufrichtig, dass die Ukraine nicht mit der Notwendigkeit konfrontiert wird, diese Lieferungen zu nutzen. Und wir rufen die Russische Föderation auf, sich eines aggressiven und verantwortungslosen Verhaltens zu enthalten“.
Mit Appellen an die Adresse Russlands traten Präsident Selenskij und Großbritanniens Regierungschef Johnson nach ihren Gesprächen in Kiew auf. Der Gast aus London erklärte: „Derzeit ist es lebenswichtig, dass Russland einen Schritt zurück unternimmt und den Weg der Diplomatie wählt… Sanktionen sind aber vorbereitet worden. Und wir werden militärische Unterstützung bereitstellen und streben an, die Zusammenarbeit im Wirtschaftsbereich zu verstärken“.
Auf der gleichen Pressekonferenz betonte Selenskij, dass „die Ukraine auf sich selbst setzen und sich auf schlechte Sachen vorbereiten muss. Eine Verringerung der Risiken stellt eine starke Armee dar“. Im Grunde genommen haben die ukrainischen Offiziellen deshalb eine Reform angekündigt, in deren Ergebnis geplant ist, den Personalbestand der ukrainischen Streitkräfte aufzustocken und Grundlagen für eine Berufsarmee zu schaffen. Solange aber diese Reform durchgeführt werde, rechne Kiew damit, im Bedarfsfall eine Mobilisierung vorzunehmen. Wenn sich Russland auf eine reale Ausdehnung der militärischen Aggression einlasse, werde Kiew eine Mobilisierung von 300.000 bis 400.000 Reservisten vornehmen, die Erfahrungen hinsichtlich der Führung von Kampfhandlungen besitzen. In solch einem Falle könne man auch Frauen einberufen, Militärmedizinerinnen, Fernmeldekräfte oder Vertreterinnen anderer Spezialisierungen, die den Wunsch bekunden, an die Front zu gehen.