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Minsk geht gegen Warschau vor den Europäischen Gerichtshof


Die Migranten-Krise an der Grenze Weißrusslands zu Ländern der EU ist zu Ende, doch das Thema an sich hat einen neuen Klang erhalten. Sich auf Aussagen des polnischen Deserteurs Emil Czeczko stützend, werfen die weißrussischen Behörden Polen einen Genozid in Bezug auf Migranten vor. Experten sind der Auffassung, dass sich Minsk das Ziel stelle, den „Gegner“ zu dehumanisieren und jegliche seiner Handlungen ihm gegenüber zu rechtfertigen.

Die Organisation „Systematischer Menschenrechtsschutz“, die sich nach der Vernichtung aller Menschenrechtsorganisationen in Weißrussland zu solch einer erklärte, hat am Donnerstag eine dreistündige Pressekonferenz des polnischen desertierten Soldaten Emil Czeczko organisiert. Im Verlauf der Pressekonferenz berichtete er, dass er im Juni 2021 zehn Tage lang an Patrouillengängen an der Grenze zu Weißrussland teilgenommen habe. Nach seinen Worten hätten er und andere Soldaten, deren Namen er nicht nannte, täglich mindestens zwanzig Menschen erschießen müssen. „Täglich hatte man uns bis einschließlich 18. Juni aus einem Lager für Streifengänge auf dem Territorium geholt. Auch hatte man uns an einer Tankstelle etwa sechs bis acht Dosen Bier gekauft. Nach Einsetzen der Dunkelheit hatte ich vor dem Sonnenuntergang Gruppen von Migranten erschossen, etwa bis zu 20 Personen täglich. Das Schema der Erschießungen war ein gleichartiges“, zitiert die staatliche weißrussische Nachrichtenagentur „BelTa“ Emil Czecko. Verschiedenen seien jedes Mal die Beerdigungsstellen gewesen.

Der ehemalige polnische Soldat (25 Jahre alt) begreift, dass er auch ein Verbrecher ist, behauptet jedoch, dass er andere Menschen erschossen hätte, als er selbst mit einer Pistole ins Visier genommen wurde. „Grenzer, die auf unsere Köpfe angehalten hatten, befahlen, auf die Menschen zu schießen. Man hatte uns befohlen, zwei Gruppen von Menschen zu erschießen. Nachdem wir die erste Gruppe erschossen hatten, wurde eine zweite Gruppe aus einem Laster herausgeholt“, berichtete er. „Im Verlauf der zehn Tage meines Aufenthalts und der unmittelbaren Teilnahme an den Massenerschießungen konnten 200 bis 700 Menschen erschossen worden sein“, vermutet Emil Czeczko, der selbst in der Nacht zum 17. Dezember 2021 nach Weißrussland geflohen ist. Unter den getöteten seien sowohl Frauen als auch Kinder gewesen, behauptet der Pole. Nach Aussagen von Czeczko habe die Massenerschießungen die polnische militärische Gegenaufklärung geleitet. „Am Morgen des 8. Juni hatte mir einer der Grenzer einen Ausweis des militärischen Aufklärungsdienstes gezeigt“, erläuterte er.

Emil Czeczko behauptet, dass er versucht hätte, die Führung darüber zu informieren, was er gesehen hätte. Jedoch hätte keiner ihm Gehör geschenkt. Um diese Verbrechen zu verschleiern, würden die polnischen Offiziellen jetzt an der Grenze den Weißrussischen Mauerzaun errichten. Der ehemalige polnische Soldat sei sich sicher, melden die weißrussischen offiziellen Medien, dass dies keine private Initiative der Militärs gewesen sei. Die Anweisung, Illegale zu töten, sei von ganz oben gegeben worden. „Präsident Duda und Premierminister Morawiecki, denke ich, wussten von dieser Situation, daher, wenn sie es wussten und nicht reagierten, wer sind sie dann, wenn nicht Mörder“, urteilt Emil Czeczko.

Ungeachtet dessen, dass der polnische Deserteur selbst in Weißrussland Morde eingestanden hat, figuriert er hinsichtlich des Strafverfahrens, das durch das Untersuchungskomitee von Weißrussland zu diesen angeblichen Fakten eingeleitet hat, als Zeuge. Das bereits erwähnte Zentrum „Systematischer Menschenrechtsschutz“ ist Vertreter seiner Interessen.

Dmitrij Beljakow, der Direktor des Zentrums, berichtete, dass sie bereits ihre Anfragen an Polens Verteidigungsministerium und dessen Generalstab, aber auch an die polnische Botschaft in Minsk gesandt hätten. Ein offizielles Schreiben sei gleichfalls an die Staatsanwaltschaft des Internationalen Tribunals von Den Haag gegangen. Seine Autoren bitte, ein Strafverfahren wegen Völkermord und Verbrechen gegen die Menschheit bezüglich der Flüchtlinge einzuleiten. Nach Aussagen von Dmitrij Beljakow hätte man ihnen von dort geantwortet, dass der Antrag angenommen worden sei.

Wie früher mitgeteilt wurde, hatte das Untersuchungskomitee von Weißrussland begonnen, Informationen über verschollene Migranten zu sammeln. Das Außenministerium wandte sich über diplomatische Kanäle zwecks Informationen an die Länder, von wo die Migranten gekommen waren. Dies war bereits in der ersten Januarhälfte gewesen. Bisher sind keinerlei Informationen über Verschollene veröffentlicht worden.

Es sei daran erinnert, dass Emil Czeczko in der Nacht vom 16. Dezember vergangenen Jahres nach Weißrussland geflohen war und um politisches Asyl gebeten hatte. Polnische Offizielle haben bereits seine Erklärungen dementiert und empfohlen, den 25jährigen einem Psychiater vorzustellen. In der Heimat ist gegen den jungen Mann ein Strafverfahren wegen Fahnenflucht eingeleitet worden. Und ihm drohen dafür bis zu zehn Jahre Freiheitsentzug.

Im Dezember berichteten polnische Medien auch über Einzelheiten aus dem Leben von Emil Czeczko in der Heimat. Aus den damals veröffentlichen Daten wurde deutlich, dass der junge Mann mit dem Gesetz nicht auf Du und Du steht. Er saß bereits sechs Monate in Gefängnishaft, weil er seine Mutter mehrfach geprügelt hatte. Gleichfalls wurde berichtet, dass er betrunken am Steuer eines Autos gestellt worden war, weshalb man ihm die Fahrerlaubnis entzog.

Bei der Kommentierung der Situation erklärten Experten, dass Emil Czeczko von den weißrussischen Offiziellen gebraucht werde, um den „Gegner“ zu dehumanisieren, das heißt den Westen in Gestalt Polens. Hinsichtlich seiner Worte gibt es kein Vertrauen, allein schon, weil es keinerlei Informationen über verschwundene Menschen gibt. Überdies war die Migrantenkrise im Juni vergangenen Jahres noch sehr minimal. Überdies hat Czeczko behauptet, dass man neben Migranten polnische Freiwillige erschossen hätte. Es gibt jedoch keinerlei Bestätigungen für diese Informationen.

Die Geschichte mit Czeczko fügt sich gut in den Rahmen des Informationskrieges ein, den Weißrussland gegen den Westen führt. Die Staatspropagandisten und offizielle Vertreter hatten mehrfach Polen und Deutschland des Faschismus bezichtigt. Eingeleitet wurde sogar ein Strafverfahren wegen eines Genozids am weißrussischen Volk in den Jahren des Zweiten Weltkriegs. Untersuchungsbeamte befragen Zeugen und erklären, dass sie bald Deutschland eine große Rechnung vorlegen würden. Die weißrussischen Offiziellen genieren sich auch nicht, die heutigen Deutschen als Nachfahren der Faschisten zu bezeichnen.

Alexander Lukaschenko äußerst sich aktiv zu diesem Thema. „Der geflüchtete Militärangehörige erzählt schreckliche Sachen. In einem noch größeren Umfang werden wir Sie bald damit bekanntmachen. Diese Schufte hatten eine Jagd auf Menschen organisiert! Eine Jagd! In den Wäldern sind sie herumgelaufen und haben erschossen. Hunderte, hunderttausende Menschen, die in Europa Glück gesucht hatten, wohin man sie gerufen hatte, wurden in den Wäldern erschossen und in Gräber verscharrt. Ist dies etwa kein Faschismus?“ fragte sich Lukaschenko, wobei er sich gerade auf die „Informationen“ von Emil Czeczko berief.

„Diese Person ist ein märchenhaftes Geschenk für das weißrussische Regime und dessen Propaganda. Sie bewegt nicht, ob es in seinen Worten zumindest einen Funken Wahrheit gibt. Das Wichtigste ist, dass sich dies ausgezeichnet in das Bild jener parallelen Realität einfügt, die die weißrussischen Herrschenden nach dem August von 2020 zeichnen. Angeblich auf uns, die unbefleckten und flauschigen, haben es Unmenschen von allen Seiten her, außer von der russischen Seite her, abgesehen“, kommentierte der politische Kolumnist Alexander Klaskowskij für die „NG“ die Situation.