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Wer ist Feind? Und wer ist Freund? In Jerewan hat man sich darüber Klarheit verschafft


Armenien müsse bilaterale Beziehungen mit der Türkei herstellen, wenn es eine neutralere Haltung in Bezug auf Bergkarabach einnimmt und das Erreichen von Frieden in der nichtanerkannten Republik nicht stört. Solch eine Meinung vertritt beinahe die Hälfte der Einwohner der Republik, die an einer Untersuchung des International Republican Institute (IRI) aus den USA teilgenommen haben. Dabei hat die überwältigende Mehrheit der Befragten Ankara als Hauptfeind Jerewans bezeichnet. Die Umfrageergebnisse sind in Erwartung einer Antwort auf die Frage nach einer Teilnahme von Premierminister Nikol Paschinjan an einem Diplomatenforum in der Türkei im März veröffentlicht worden.

Die Angaben des IRI sind widersprüchliche. 48 Prozent der Befragten sind der Annahme, dass Armenien als Vorabbedingung für eine Wiederherstellung der diplomatischen Beziehungen von der Türkei die Garantie verlangen müsse, dass es das Erreichen von Stabilität und Frieden in Bergkarabach nicht behindern werde. 29 Prozent sind der Meinung, dass Armenien unter keinerlei Umständen Beziehungen mit der Türkei anbahnen dürfe. 90 Prozent der Befragten nannten die Türkei als Hauptbedrohung für Armenien und 77 Prozent – Aserbaidschan.

Laut den Ergebnissen der Untersuchung bezeichneten 28 Prozent die territorialen und Grenzprobleme als die wichtigsten für Armenien. Dabei betonten 46 Prozent der Umfrageteilnehmer, dass sich das Land derzeit in einer falschen Richtung bewege. Und 61 Prozent meinten, dass die Offiziellen Armeniens sich nicht von den Interessen der Mehrheit, sondern einzelner Gruppen leiten lassen würden.

Die armenisch-türkischen Beziehungen bewerteten 80 Prozent der Befragten als sehr schlechte. Solch eine Wertung gaben den armenisch-aserbaidschanischen Beziehungen 90 Prozent. Entsprechend den Untersuchungsergebnissen nehmen Armeniens Einwohner die Türkei und Aserbaidschan als eine politische und wirtschaftliche Gefahr, aber auch als eine Bedrohung für die Sicherheit des Landes wahr. 88 Prozent halten die Türkei in solch einer Eigenschaft als die größte, 81 Prozent – Aserbaidschan.

Dabei sind etwas weniger als 50 Prozent der Befragten der Auffassung, dass man mit der Türkei nur unter der Bedingung Beziehungen anbahnen dürfe, wenn es den Genozid der Armenier in der Zeit des Osmanischen Reichs im vergangenen Jahrhundert anerkennt, aber auch einen Frieden in Bergkarabach nicht stören werde. 29 Prozent der Befragten erklärten, dass Armenien eigenständig die Grenze mit Aserbaidschan verteidigen könne. Und genau die gleiche Anzahl der Befragten bekundete eine entgegengesetzte Meinung. Nach Auffassung von 56 Prozent der Befragten müsse Armenien für das Erreichen von Frieden sein Militärpotenzial verstärken. 82 Prozent halten die Regulierung des Bergkarabach-Konfliktes für das Wichtigste für die Zukunft des Landes.

Die akzeptabelste Lösung für den Bergkarabach-Konflikt sei nach Meinung der Mehrheit die Anerkennung der Unabhängigkeit der Republik (35 Prozent) oder deren Angliederung an Armenien (34 Prozent). 16 Prozent sprachen sich für ein autonomes Verwaltungsgebiet innerhalb Armeniens aus. Und elf Prozent sehen nichts Schlechtes, wenn Bergkarabach Teil Russlands werde. Gerade Russland bezeichnete die Mehrheit der Befragten (64 Prozent) als Hauptpartner Armeniens. Weiter folgten Frankreich mit 32 Prozent, der Iran (31 Prozent) und die USA (26 Prozent).

Ein Viertel der Befragten denkt, dass der Prozess der Demarkation nach einer endgültigen Regelung des Bergkarabach-Konfliktes und Unterzeichnung eines Friedensabkommens mit Aserbaidschan beginnen sollte. Weitere 16 Prozent sind der Auffassung, dass der Prozess erst nach Wiederherstellung der Streitkräfte Armeniens beginnen dürfe.

45 Prozent meinen, dass sich die Wiederherstellung der Verkehrsverbindungen mit Aserbaidschan negativ auf die Wirtschaftsentwicklung Armeniens auswirken werde. Und nur fünf Prozent haben diesbezüglich positive Erwartungen. Etwa genau solch ein Verhältnis besteht in der Türkei-Frage. Als positiv bezeichneten einen Normalisierungsprozess lediglich sechs Prozent der Befragten, Dagegen bekundeten 36 Prozent eine negative Haltung.

Das regionale Medium JAM-News bat eine Gruppe armenischer Politologen die Ergebnisse der IRI-Untersuchung zu bewerten. Herauskam das folgende Gesamtbild: Die Regierung genieße ein großes Vertrauen der Bevölkerung. Die Hälfte von ihr ist der Auffassung, dass sich das Land nicht in der richtigen Richtung bewege. In solch einer Situation hätten die Herrschenden entschieden, ihre Linie härter zu verfolgen, was die Krise verschlimmern und Force-majeure-Umstände auslösen könne. Die Umfrageergebnisse würden demonstrieren, dass sich das Volk nicht von Bergkarabach losgesagt und von ihm abgewendet habe. Und die angebliche Müdigkeit der Gesellschaft aufgrund des Bergkarabach-Problems oder die Bereitschaft, die Region im Bestand Russlands zu sehen, seien „künstlich in den Raum geworfene Ideen und haben keine Perspektive“. „Die Gesellschaft hat ungeachtet aller Schwierigkeiten, der Tragödie und Katastrophe im Ergebnis des 44-Tage-Krieges nach wie vor ernsthafte Erwartungen gegenüber den Herrschenden in Bezug auf günstige Lösungen hinsichtlich der Bergkarabach-Frage“, schreibt JAM-News.