Die deutsche Wirtschaftszeitung „Handelsblatt“ titelte „Putin wirkt paranoid“. Der Moskauer Korrespondent der Berliner Zeitung „Die Welt“ Christoph Wanner charakterisierte in einer Sendung des Fernsehkanals das Blattes Putin als einen nichtvoraussagbaren. Aus der Sicht der überwiegenden Mehrheit der westlichen Medien und Politiker belege die Anerkennung der Separatisten-Republiken im Südosten der Ukraine die bonapartistischen Pläne Putins zur Wiederherstellung der Sowjetunion.
Daher bemüht sich der Westen, mit Sanktionsmaßnahmen auf Putin Einfluss auszuüben. Bundeskanzler Olaf Scholz hat bereits die Aussetzung der Zertifizierung der Gaspipeline „Nord Stream 2“ bekanntgegeben. Damit fügt er zweifellos den größten Schlag gegen die Wirtschaftsbeziehungen zwischen Russland und Deutschland.
In den Handlungen Putins kann man jedoch zwei Aspekte ausmachen. Der unmittelbaren Entscheidung des russischen Präsidenten war eine drastische Zuspitzung der Situation an der Demarkationslinie zwischen den ukrainischen Truppen und den Separatisten vorausgegangen. Nach der massiven Unterstützung des Westens für die ukrainischen Streitkräfte mittels Waffen und Munition sollte – wie die Aufklärungsdienste der inzwischen von Moskau anerkannten Republiken und der russische Auslandsaufklärungsdienst berichteten – zum nächsten Schritt ein massiver Einmarsch der ukrainischen Streitkräfte in die Donbass-Republiken werden.
Putin stand vor einem schwierigen Dilemma. Einerseits wollte er gern die Minsker Vereinbarungen und das Normandie-Format bewahren, da sie vollkommen den Interessen Moskaus zur Unterstützung des Friedens in dieser Region entsprachen. Die heutige Führung der Ukraine hatte aber entschieden, sich faktisch von den Minsker Abkommen loszusagen. Und die weiteren Schritte in dieser Richtung vollkommen blockiert. Es sei daran erinnert, dass das zweite Minsker Abkommen ein Dokument ist, das die Regulierung des bewaffneten Konflikts im Südosten der Ukraine zum Ziel hatte. Es war am 11./12. Februar 2015 bei einem Gipfeltreffen in Minsk durch die Spitzenvertreter Deutschlands, Frankreichs, der Ukraine und Russlands im Format des „Normandie-Quartetts“ abgestimmt und durch die Kontaktgruppe zur friedlichen Regelung der Situation im Osten der Ukraine, die aus Vertretern der Ukraine, Russlands, der OSZE sowie der Donezker und der Lugansker Volksrepublik besteht, unterzeichnet worden. Später sind die Minsker Vereinbarungen durch eine spezielle Resolution des UN-Sicherheitsrates gebilligt worden.
Seit der Zeit der Unterzeichnung der Minsker Abkommen ist nicht ein einziger Punkt von ihnen erfüllt worden. Russland wirft der Ukraine eine Sabotage des politischen Teils der Minsker Vereinbarungen vor (der die Annahme eines Sonderstatus für einzelne Bereiche der Verwaltungsgebiete Donezk und Lugansk auf ständiger Grundlage, dessen Verankerung in der Verfassung der Ukraine, die Verkündung einer Amnestie und Organisierung von Kommunalwahlen vorsieht), wobei es darauf beharrt, dass nur nach der Erfüllung dieser und einer Reihe anderer Punkte des Abkommens die Kontrolle der Regierung der Ukraine über die gesamte russisch-ukrainische Grenze möglich sei. Die Ukraine aber erklärte die vorrangige Notwendigkeit einer Lösung der Sicherheitsfragen (die Wiederherstellung ihrer Kontrolle über die Grenze zwischen den nichtanerkannten Republiken und Russland, die Gewährleistung eines freien Zugangs der ukrainischen Medien und politischen Parteien auf das Territorium der der sogenannten besonderen Gebiete der Verwaltungsgebiete Donezk und Lugansk) als Schlüsselbedingung für die Abhaltung von Kommunalwahlen und der Rückkehr dieser Territorien in den Bestand des ukrainischen Staates.
Das Wichtigste seien die Modalitäten für die Umsetzung der Minsker Abkommen. Und die ukrainische Führung plädiert kategorisch gegen eine Autonomisierung des Landes und zieht es vor, die Ukraine als einen Mono- bzw. Unitarstaat zu sehen.
Unter Berücksichtigung der Autonomie-Tendenzen einer Reihe ukrainischer Regionen sowohl im Westen des Landes als auch im Süden ist die Position Kiews verständlich. Dort befürchtet man ein Auseinanderbrechen des Landes im Verlauf einer derartigen Autonomisierung.
Putins Haltung hängt in dieser Frage mit der Verhinderung von Kampfhandlungen zusammen, die Kiew für eine Lösung des Problems der Vereinigung des Landes mittels militärischer Gewalt aufzwinge. Dies führe zu zahlreichen Opfern unter der Zivilbevölkerung der Separatisten-Gebiete. Nicht ohne Grund erfolgte da in den vergangenen Tagen die Evakuierung eines erheblichen Teils der Bevölkerung aus den Donbass-Republiken von deren Territorien.
Aus der Sicht Putins haben es die Führungen Deutschlands und Frankreichs als Teilnehmer des Normandie-Formats nicht verstanden (und es nicht gewollt), ausreichenden Einfluss auf die Führung der Ukraine zwecks Bewahrung und Unterstützung der Minsker Abkommen auszuüben. Unter diesen Bedingungen seien sie lediglich zu einem Schutzschirm geworden, der die Handlungen der ukrainischen Streitkräfte verbirgt. Sie haben Moskau freie Hand verschafft, da es aufgrund der Gefahr ihrer Zerstörung keine wirksame militärische Hilfe den Separatisten-Republiken leisten konnte. Gerade dieser Umstand hatte Putin auch gezwungen, die Urkunden über ihre Anerkennung zu unterschreiben. Und im Weiteren hatten die Staatsduma und der Föderationsrat – beide Kammern des russischen Parlaments – die Verträge über Freundschaft und gegenseitige Hilfe angenommen. Dies erlaubt nun aus der Sicht Moskaus, russische Truppen für den Schutz der nichtanerkannten Republiken einzusetzen. Natürlich ist dieser Schritt eher für die ukrainische Führung bestimmt, die sich über die Konsequenzen eines Eingreifens Russlands in den bewaffneten Konflikt im Osten der Ukraine klar sein sollte. Bisher ist es schwer zu sagen, wie sehr eine derartige Warnung auf Kiew eine ernüchternde Wirkung ausübt.
Eines ist aber heute schon klar, dass die Wiederherstellung des Minsker Prozesses bereits unmöglich ist. Und in Europa hat eine neue Realität Einzug gehalten. (Ein drittes Mal im Verlauf der Herrschaft Putins in Russland. – Anmerkung der Redaktion)
Natürlich muss man auch die innenpolitische Lage des Kremlchefs ins Kalkül ziehen. Der Appell zur Anerkennung der beiden Donbass-Republiken war durch die Kommunisten in die Staatsduma eingebracht worden. Der Versuch, ihn durch unterschiedliche Klauseln zu „verwässern“, um ihn auf die lange Bank zu schieben (aufgrund unterschiedlicher Abstimmungen) und dadurch die Annahme einer für die Putin-Strategie unangenehmen Entscheidung zu vertagen, scheiterte. Und den von der Staatsduma verabschiedeten Appell ignorieren konnte Putin auch nicht — aufgrund innenpolitischer Erwägungen und besonders im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen von 2024. Jetzt sieht er in den Augen der Wählermehrheit wie ein Patriot aus. Und dieser Umstand wird seine Wiederwahl fördern.
Die „Süddeutsche Zeitung“ sprach in einem am Dienstag veröffentlichten Beitrag über drei mögliche Szenarios für die weitere Entwicklung der Ereignisse. Von einer großangelegten Intervention und Okkupation des Territoriums der Ukraine bis zur Okkupation beispielsweise einzelner Territorien, die vorwiegend durch Russischsprachige bewohnt werden, der ukrainischen Verwaltungsgebiete Donezk und Lugansk sowie die Übergabe dieser Territorien an die gerade von Moskau anerkannten Donbass-Republiken. (Damit würde die Ukraine als Staat mehr als 36.000 Quadratkilometer Territorium — zusätzlich zu den von Moskau anerkannten Republiken – verlieren. – Anmerkung der Redaktion)
Als dritte Variante sehen die Autoren des Beitrags die Durchführung von Desinformationsmaßnahmen, Cyber-Attacken und die Ausübung von Druck auf die Führung der Ukraine, um von ihr eine Anerkennung des sich neu ergebenen Status Quo zu erreichen.
Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist der Rückhalt, den Putin für sein Vorgehen in der russischen Bevölkerung findet. Das kremltreue Meinungsforschungszentrum VTsIOM legte am Mittwoch die Ergebnisse einer Umfrage vom 22. Februar vor. Und die demonstrierten, dass 73 Prozent der befragten Russen die Entscheidung des Präsidenten zur Anerkennung der Unabhängigkeit der Donezker und der Lugansker Volksrepublik unterstützen. Eine entgegengesetzte Meinung vertraten nur 16 Prozent. Experten meinen freilich, dass bei derartigen VTsIOM-Befragungen viele Bürger Russlands oft nicht die Wahrheit sagen, denn sie befürchten, dass die Antworten nicht nur Soziologen auswerten werden.