Nach seinen Treffen im Bundeskanzleramt mit Polens Premier Mateusz Morawiecki und den litauischen Politikern am Samstag hat Bundeskanzler Olaf Scholz eine Entscheidung über die Lieferung von eintausend Panzerabwehrkomplexen und 500 „Stinger“-Luftabwehrraketensystemen aus Bundeswehr-Beständen an die Ukraine getroffen. Zur gleichen Zeit erteilte der deutsche Regierungschef die Erlaubnis zur Übergabe von Haubitzen aus dem Arsenal der einstigen Nationalen Volksarmee der DDR an die Ukraine, die sich in Estland befinden, aber auch von mehreren hundert Panzerabwehrkomplexen aus deutscher Fertigung (ca. 400 Panzerfäuste – Anmerkung der Redaktion), die die niederländische Regierung an Kiew übergeben wollte. Auf Twitter betonte der Bundeskanzler: „Es ist unsere Pflicht, die Ukraine nach Kräften zu unterstützen bei der Verteidigung gegen die Invasionsarmee von Putin“. Und obgleich dies äußerlich wie eine Konsequenz der Gespräche mit dem polnischen Amtskollegen und litauischen Staatsoberhaupt aus, hatte bei der von ihm getroffenen Entscheidung auch der Druck aus dem eigenen Land, von Innen her eine Rolle gespielt. Laut einer Umfrage des deutschen Meinungsforschungsinstituts Forsa sind zwei Drittel der Befragten der Auffassung, dass Scholz persönlich in unzureichendem Maße an der Lösung der entstandenen Position teilnehme.
Die „Süddeutsche Zeitung“ betont, dass „diese historische Wende (die Entscheidung von Scholz über Waffenlieferungen – Anmerkung der Redaktion) unter dem zunehmenden Druck von außen und von innen erfolgte“. Unter anderem sprach die Chefin der SPD-Jugendorganisation „Jusos“ Lina Eilers gegenüber der Nachrichtenagentur DPA von der Notwendigkeit der Verhängung besonders harter Sanktionen gegen Russland. Zu solchen Sanktionen gehört ihres Erachtens die Abkopplung Moskaus vom internationalen Zahlungssystem SWIFT. Auf die Vertreter dieses Parteiflügels entfallen etwa 25 Prozent der SPD-Bundestagsabgeordneten.
Allem nach zu urteilen hat Deutschland auch sein Veto gegen eine Abschaltung Russlands vom internationalen Zahlungssystem SWIFT aufgehoben. Wie das deutsche Nachrichtenmagazin „FOCUS“ berichtet, hatten Bundesaußenminister Annalena Baerbock und Bundesminister für Wirtschaft und Klimaschutz Robert Habeck bis in den späten Samstagabend an der Beteiligung der BRD an von den EU-Ländern abgestimmten Maßnahmen zur Abschaltung Russland von diesem internationalen Zahlungsnetzwerk gearbeitet. Das Problem für Deutschland war der Umstand, dass es die Möglichkeit verlieren könnte, die russischen Schulden zurückzubekommen, die 50 Milliarden Euro ausmachen. Und es hatte sich die Gefahr einer Einstellung der Lieferungen russischer Energieträger aufgrund dessen ergeben, dass ihre Bezahlung nach der Abschaltung des Systems SWIFT unmöglich wird. Weitere Probleme ergeben sich auch für die deutschen Firmen, die an den Außenhandelsbeziehungen mit Russland teilnehmen. Vorgesehen wird nun, dass vom System für die internationalen Verrechnungen und Zahlungen in erster Linie die russischen Banken abgekoppelt werden, die bereits unter Sanktionen geraten sind.
Zur gleichen Zeit hat Bettina Stark-Watzinger (FDP), Bundesministerin für Bildung und Forschung, die Einstellung des wissenschaftlichen Austauschs zwischen Deutschland und Russland bekanntgegeben. Sie sagte gegenüber der Zeitung „Die Welt“: „Alle laufenden und geplanten Maßnahmen mit Russland werden eingefroren und kritisch überprüft. Neue Maßnahmen wird es bis auf Weiteres nicht geben. Technologietransfer darf nicht mehr stattfinden.“
Die EU-Länder würden sich laut einer Mitteilung des Düsseldorfer Wirtschaftszeitung „Handelsblatt“ darauf vorbereiten, ihren Luftraum für russische Flugzeuge zu sperren. Bisher haben solch einen Schritt gegen Russland Bulgarien, Großbritannien, Lettland, Litauen, Polen, Rumänien, Slowenien, Tschechien und Estland bekanntgegeben.
Laut Angaben der „Welt“ habe Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) angeordnet, alle Maßnahmen für eine Sperrung des deutschen Luftraums für russische Maschinen vorzubereiten. Derweil hat die wichtigste deutsche Airline LUFTHANSA bereits bekanntgegeben, vorerst nicht mehr nach oder über Russland zu fliegen. In einer Mitteilung des Konzerns heißt es, dass die Lufthansa „bis vorerst 5.März aufgrund der aktuellen und sich abzeichnenden regulatorischen Situation“ den russischen Luftraum nicht nutzen werde. Genau solche eine Entscheidung hat auch die niederländische Fluggesellschaft KLM getroffen.
Europa hat den Weg eines faktischen Abbruchs aller Wirtschafts- und humanitären Verbindungen mit Russland betreten. Die in der deutschen Hauptstadt erscheinende „Berliner Zeitung“ betrachtet die Handlungen Moskaus gegen die Ukraine „als gegen den Westen gerichtete“. Das, was anfangs wie ein „Selbstmord“ ausgesehen habe, betont das Blatt, „hat sich augenscheinlich als ein wohl durchdachter Schritt“ erwiesen. Mit Hilfe solcher einer Militäroperation beabsichtige Putin, dem Westen eine neue europäische Sicherheitsstruktur zu diktieren, die; wie die Zeitung unterstreicht, „nicht im Interesse weder des Westens und schon ganz bestimmt nicht im Interesse Europas“ sei. Die Tatsache, dass der ukrainische Präsident Wladimir Selenskij einen Vorschlag über einen Nichtbeitritt seines Landes zur NATO unterbreitete, könne attraktiv aussehen, sei aber nicht realistisch. Selenskij habe überhaupt keine realen Möglichkeiten, solche Angebote zu machen und umso mehr, um sie zu realisieren, resümiert die „Berliner Zeitung“. Mit solch einem Angebot verstoße er gegen den 2014 in die ukrainische Verfassung aufgenommenen Artikel und werde auf den wütenden Widerstand eines erheblichen Teils der ukrainischen Bevölkerung stoßen, vor allem auf den der einflussreichen bewaffneten Einheiten der Nationalisten, meint das Blatt. Ja, und überhaupt, konstatiert die Zeitung: Derartige Vorschläge hätten ohne eine Billigung der USA und der NATO keinerlei Sinn.