Die vor dem Hintergrund der militärischen Sonderoperation erfolgenden Verhandlungen der Ukraine und Russlands sind für letztes eine wichtige Formalität. Unabhängig vom Ergebnis sind sie für einen Übergang zu den politischen Aufgaben zwecks Neuetablierung des Nachbarstaates erforderlich. Die Propaganda-Maschine der Russischen Föderation wird dazu bereits angefahren. Von den Instrumenten, die der Kreml den künftigen Kiewer Herrschenden empfehlen könnte, sind scheinbar folgende vorhanden – ein allgemeines Plebiszit oder regionale Referenden über eine Föderalisierung, aber auch eine Konföderation von Volksrepubliken. Aber je weiter bzw. länger die Gefechtshandlungen andauern werden, umso wahrscheinlicher wird eine direkte Aufteilung des Landes.
Der Ukraine zu zeigen, was für sie eine „wahre Entkommunisierung“ bedeuten wird, die nicht auf einem symbolischen halben Weg aufhört, hatte Russlands Präsident Wladimir Putin in seiner spätabendlichen Ansprache an die Bürger beider Länder am 21. Februar versprochen.
In der Morgenansprache vom 24. Februar über den Beginn der militärischen Phase von Russlands Sonderoperation in der Ukraine hatte Putin ein wenig den Vorhang bereits hinsichtlich der Perspektiven ihrer zweiten Etappe – der politischen – angehoben. „Es sei daran erinnert, dass keiner sowohl bei der Bildung der UdSSR als auch nach dem Zweiten Weltkrieg nie die Menschen, die auf den einen oder anderen Territorien, die zur heutigen Ukraine gehören, danach gefragt hat, wie sie selbst ihr Leben gestalten wollen. Unserer Politik liegt die Freiheit zu Grunde, die Freiheit der Wahl für alle, selbständig ihre Zukunft und die Zukunft ihrer Kinder zu bestimmen. Und wir halten es für wichtig, dass alle Völker, die auf dem Territorium der heutigen Ukraine leben, dieses Recht – das Recht der Wahl – in Anspruch nehmen können, alle, die dies wollen“, erläuterte der russische Präsident.
Warum haben die Verhandlungen an der Grenze der Ukraine und Weißrusslands (die erste Runde) und weiter auf dem Territorium von Weißrussland (die zweite Runde, die in allernächster Zeit erfolgen sollen) für die Russische Föderation einerseits eine formale Bedeutung, indem ihr Streben nach Frieden demonstriert wird. Andererseits aber ist dies jene erforderliche Formalität, ohne die ein Übergang zur Realisierung von Putins Plans hinsichtlich der Neugründung bzw. Neuetablierung der zweitgrößten slawischen Republik der einstigen UdSSR nicht möglich ist. Es ist klar, dass dies ein Zusammentrommeln einer Medien- und Propagandisten-Gruppierung in weitaus größeren Ausmaßen erfordert als die derzeitige militärische. Besonders in jener Situation, wenn, genauer gesagt – in der sich die gewaltsame Phase der „Demilitarisierung und Entnazifizierung der Ukraine“ in die Länge zieht.
Ja, und da eignet sich auch das derzeit geschaffene Bild von Russland als die aufgrund des Rowdytums der jüngeren Schwester erzürnte Schwester, die aber nach wie vor eine sich um sie sorgende ältere ist. Eine Vielzahl von Einwohnern der Ukraine werden natürlich solch einer Rollenverteilung nicht zustimmen. Moskau wird aber offensichtlich nicht von ihr abgehen, darunter auch aufgrund seiner eigenen innenpolitischen Gründe. Folglich wird ein Teil der politischen Ukrainer, die man für die neu zu bildenden Machtorgane heranziehen wird, dieses Paradigma annehmen müssen. Zumindest um sich mit den möglichen schweren Entscheidungen hinsichtlich des Staatsaufbaus der zu einem „russischen Frieden“ genötigten Ukraine abzufinden. Das Anwerben solcher Loyalisten hat offensichtlich all die letzten acht Jahre nicht aufgehört und sich nunmehr nur verstärkt. Freilich, solange die Auseinandersetzungen erfolgen, wird man sie allem nach zu urteilen nicht dem Publikum präsentieren. Der Kreml braucht, wie es scheint, nicht so sehr Quislinge (Vidkun Abraham Lauritz Jonssøn Quisling führte von 1942 bis 1945 als Ministerpräsident von Norwegen eine von der deutschen Besatzungsmacht eingesetzte Marionettenregierung – Anmerkung der Redaktion) als vielmehr Bogdans Chmelnizkis (Bogdan Chmelnizki war im 17. Jahrhundert ein ukrainischer Kosakenhetman, der sein Gemeinwesen unter den Schutz des Zarentums Russland gestellt hatte – Anmerkung der Redaktion). Und nun ist als Ansatzpunkte für solch eine Montage endlich ein gewisses Dokument aufgetaucht – ein „Manifest über die Bildung des Staates Bundesrepublik Ukraine“.
Veröffentlicht wurde es am 27. Februar von dem gewissen internationalen Internet-Diskussionsportal „Die Welt und wir“. Dem Inhalt nach zu urteilen, ist es eine absolut prorussische und an zahlreiche Ressourcen, die durch Rossotrudnitschestwo (eine dem russischen Außenministerium unterstellte Agentur für die Kontaktpflege mit Auslandsrussen und Russland freundlich gesinnten Staaten – Anmerkung der Redaktion), RT und anderen Staatspropagandisten betreut wird, erinnernde Internetseite. Wie es in einer dem Manifest vorausgehenden Mitteilung heißt, werde es angeblich schon „in Gebiets- und Stadträten der Gebiet Charkow, Nikolajew, Sumy und anderer Verwaltungsgebiete der Ukraine“ erörtert. Unter den Unterzeichnern des Manifests ist auch noch das „freie Volk des Verwaltungsgebietes Tschernigow“ ausgewiesen worden. Den Inhalt dieses Dokuments selbst in groben Zügen nachzuerzählen, hat keinen Sinn. Man kann lediglich anmerken, dass es vollkommen auf den jüngsten und früheren Überlegungen Putins hinsichtlich der Vergangenheit und Gegenwart der ukrainischen Staatlichkeit basiert.
Das Wichtigste ist aber, dass in diesem Manifest proklamiert wird: „Wir, die Vertreter der Verwaltungsgebiete der Ukraine, die in unseren Herzen Ehrlichkeit unserer Absichten haben, fixieren und erklären feierlich im Namen und entsprechend einer Ermächtigung der Völker dieser Verwaltungsgebiete, dass diese Verwaltungsgebiete freie und unabhängige sind und zu rechten solche sein müssen, dass sie von jeglicher Abhängigkeit hinsichtlich der Kiewer Herrschenden befreit werden und dass alle politischen Verbindungen zwischen ihnen und dem Staat Ukraine vollkommen abgebrochen sein müssen, dass sie als freie und unabhängige Staaten bevollmächtigt sind, einen Krieg zu erklären, Friedensverträge abzuschließen, Bündnissen beizutreten, Handel zu treiben sowie jegliche andere Handlungen und all dies, worauf ein unabhängiger Staat das Recht hat, zu vollziehen“. Als Autoren des Dokuments wird ein gewisser Rat von Abgeordneten der Verwaltungsgebiete der Ukraine ausgewiesen.
Es ist durchaus möglich, dass dies vorerst nicht mehr als eine Eigeninitiative einzelner prorussischer ukrainischer Politiker ist. Die Sache ist aber die, dass auch der Kreml etwa einen gleichen Weg beschreiten muss. Einzelne Äußerungen dazu tauchen bereits in den Medien auf. Der Vorsitzende des Staatsrates der russischen Krim-Republik, Wladimir Konstantinow, bemerkte beispielsweise dieser Tage in einem Gespräch mit dem russischen Nachrichtenportal www.ura.ru: Als ein einheitlicher Staat werde die Ukraine wohl scheinbar nicht aus dieser Situation herauskommen. „Und es geht nicht einmal um ein Ausscheiden der DVR und der LVR aus ihrem Bestand. Dies ist schon eine vollendete Tatsache. Alles Übrige aber muss allem Anschein nach ungefähr in drei Teile aufgeteilt werden, wobei jeder von ihnen sein Schicksal haben wird. Wie lange – jetzt ist nicht die Zeit, darüber Urteile anzustellen“, erklärte der Parlamentschef von der Krim. Auch in der KPRF schlägt man vor, über eine Föderalisierung zu sprechen.
Es sei daran erinnert, dass die russischen Offiziellen direkt auf drei Geschenke für die „historische Ukraine“, das heißt: für Kleinrussland verweisen. Dies seien Noworossia bzw. Neu-Russland – die heutigen südlichen Regionen des Landes, der Donbass und der einstige polnische Westen, der sich allerdings einst im Bestand des russischen Zarenreichs befunden hatte. Mit Ausnahme von Lwow (Lemberg) und Uschgorod. Somit ergeben sich wirklich unter Abzug der DVR und der LVR drei große Stücke. Daher kann die Variante mit einem künftigen Referendum oder Plebiszit, dass nach der militärischen Sonderoperation auf jeden Fall nur im Format einer „Abstimmung auf Baumstämmen“ (in Anspielung auf die Art und Weise der Abhaltung des russischen Verfassungsreferendums im Sommer 2020 – Anmerkung der Redaktion) veranstaltet werden muss, auch durch solch eine vergrößerte Struktur der Ukraine realisiert werden. Auf jeden Fall wird es im Format einer zeitweiligen Konföderation von Volksrepubliken einfacher werden als solche Abstimmung hinsichtlich aller gegenwärtigen Verwaltungsgebiete durchzuführen. Und das Wichtigste ist, solch eine Konföderation wird man auch legitimieren können.
Nicht ausgeschlossen ist auch eine Variante mit einem gewissen „Volksparlament“, das die Ukraine sozusagen im Namen ihrer Völker neugründen wird. Und man wird sie selbst im Zusammenhang mit der schwierigen Situation vor Ort nicht erst fragen. Vom Prinzip her wird die konformistische Bevölkerungsmehrheit – die eine genauso große in der Ukraine wie auch in Russland ist – auch solch einem Szenario zustimmen. Besonders wenn es von einer reichlichen Finanzierung begleitet wird. Wenn sie aber nicht vorgesehen wird, so wird es schwieriger werden. Und wenn sich die militärische Phase in die Länge zieht oder drastisch verschärft, was zu ungefähr gleichartigen Folgen führen wird, so wird es überhaupt sehr schwer werden. Folglich ist nicht ausgeschlossen, dass der Kreml sofort die Variante einer Aufteilung der heutigen Ukraine umsetzen wird. Und genauer gesagt: die Variante einer Herauslösung der strategisch bedeutsameren Teile und der Teile der zweiten Kategorie aus ihr. Zur ersten werden der Osten und der Süden gerechnet, zur zweiten – das Zentrum und ein Teil des Westens. Und im übrigen Teil der Ukraine wird man die Konfrontation mit der NATO fortsetzen können.