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Der Fall der „Hoffmann-Linie“


Die aktuelle Situation in der Ukraine hat eine wichtige Tendenz aufgezeigt: Die Länder der Europäischen Union haben gegen Russland sogar härtere Sanktionen als die USA verhängt. Diese Sanktionen beschränken sich nicht auf den Finanz- oder den humanitären Bereich. Die EU-Länder und Großbritannien lassen sich auf eine größere Eskalation ein, indem sie den Flugverkehr mit Russland abbrachen, und erörtern die Möglichkeit von Waffenlieferungen an die gegenwärtigen ukrainischen Offiziellen. In den europäischen Ländern ist es zu einem Aufflammen von Ablehnung in Bezug auf die Russen gekommen, das an analoge Erscheinungen in Deutschland und Österreich-Ungarn im Sommer 1914 erinnert.

Diese Feindseligkeit wird oft auf die Anstrengungen der US-amerikanischen Diplomatie zurückgeführt, was nicht richtig ist. Die Amerikaner beeinflussen natürlich das Verhalten der europäischen Eliten und bestimmen die allgemeine Linie mit den Verbündeten. Dabei dürfen jedoch zwei Umstände nicht vergessen werden. Erstens können die EU-Länder Washington dort und dann zuwiderhandeln, wenn dies ihre Interessen verlangen. Es genügt sich zu erinnern, wie beispielsweise Frankreich und Deutschland gegen die amerikanisch-britische Operation im Irak im Jahr 2003 aufgetreten waren. Zweitens können die USA wohl kaum die Eliten der EU-Länder veranlassen, gegen Russland härtere Sanktionen als die Amerikaner selbst zu verhängen. Da drängt sich die Schlussfolgerung auf, dass die Länder der EU eigene Gründe für solch eine Entscheidung haben.

Mitte der 1990er Jahre dominierte in der russischen Führung der Standpunkt, dass es innerhalb des Westens zwei Gruppen von Ländern gebe. Die ersten (die USA und Großbritannien) würden von einer harten Position aus in Bezug auf Russland auftreten und seien nicht bereit, sich auf reale Kompromisse einzulassen. Die zweiten (Frankreich, Deutschland, Italien) seien zu einem Dialog mit Moskau und zu Zugeständnissen bereit. Von daher ergab sich die simple Schlussfolgerung: Der Dialog müsse mit den zweiten geführt werden, damit sie die Linie der ersten abschwächen. Einige Experten hatten sogar die frohe Vermutung geäußert, dass nach dem Weggang Russlands aus Europa das Szenario eines Auferstehens eines „Zweiten Reichs“ wiederholt werde: Deutschland werde erneut zu einer Weltmacht aufsteigen, werde die USA herausfordern und Russland werde „unter diesem Rummel“ erneut den postsowjetischen Raum reintegrieren.

Dabei hatte man in Moskau oft besorgniserregende Signale nicht wahrgenommen. Bereits 1996, als die russisch-ukrainische Krise um die Zugehörigkeit von Sewastopol ausgebrochen war, hatte der deutsche Bundesaußenminister Klaus Kinkel die Ukraine als einen Eckpfeiler für die europäische Sicherheit bezeichnet. In den Gaskonflikten hatte die EU solidarisch die Seite der Ukraine eingenommen. Ungeachtet aller Verbindungen des deutschen Business mit der russischen Energiewirtschaft. Nicht die USA, sondern die Europäische Union hatte 2009 das Programm der Ostpartnerschaft angeschoben, das im Grunde genommen auch zum heutigen Konflikt führte.

Die Idee, Russland zu einer gewissen Linie östlich von Europa zurückzudrängen, ist ein langjähriger Wesenszug der Politik der europäischen Länder. Vor dem Krieg von 1812 hatte Napoleon keinen Hehl daraus gemacht, dass er anstrebe, Russland zur Linie Dnepr – Westliche Dwina zu drängen, wobei in einer gewissen Form die Rzeczpospolita wiederhergestellt werden sollte. In den Jahren des Krim-Krieges hatte Großbritanniens Premierminister Henry Palmerston einen „ausgezeichneten Kriegsplan“ entworfen, der eine Loslösung Finnlands, des Baltikums, Polens, der Donau-Mündung, der Krim und des Kaukasus von Russland vorgesehen hatte. Der Brester Frieden vom 3. März 1918, der durch Sowjetrussland mit den zentralen Mächten abgeschlossen wurde, löste von ersterem Finnland, Litauen, die Ukraine und einen Teil des Transkaukasus. Entsprechend dem Berliner Abkommen vom 27. August 1918 verlor Sowjetrussland Estland und Livland und verzichtete auf die Ukraine und Georgien. Die neue Grenze Sowjetrusslands erhielt in der sowjetischen Geschichtsschreibung die Bezeichnung „Hoffmann-Linie“ nach dem Namen des deutschen Generals Max Hoffmann, der sie im Januar 1918 skizziert hatte.

Ein Grundpfeiler dieser Linie war eine unabhängige Ukraine. Anfangs war sie gerade ein deutsches und kein britisches oder französisches Projekt. Bereits in den 1880er Jahren hatte die ukrainische Bewegung Österreich-Ungarn als ein Gegengewicht zum Setzen Russlands auf den Panslawismus unterstützt. Die Unterzeichnung des Brester Friedens erlaubte Berlin, eine unabhängige Ukraine zu schaffen, wo bald das Regime von Hetman Pawlo Skoropadskyj etabliert wurde. Der Abzug der deutschen Truppen Ende 1918 führt zu dessen Fall. Und die Staatlichkeit der Ukraine fand zu dieser Zeit nicht statt. Jedoch hatte Deutschland auch im Zweiten Weltkrieg den Versuch unternommen, die ukrainische Karte auszuspielen, indem es unter anderem das gesonderte Reichskommissariat Ukraine und den Distrikt Galizien schuf.

Die sogenannte „Hoffmann-Linie“ entstand nicht an einer leeren Stelle. Dies war die westliche Grenze des Russischen Reichs der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Westlich von ihr befindet sich das sogenannte Gebiet zwischen den Meeren oder die Region Ostsee-Schwarzes Meer. In der Vergangenheit waren dies Gebiete des Großfürstentums Litauen, der Livländischen Konföderation und des Krim-Khanats. Die „Hoffmann-Linie“ war faktisch ein Herauswurf Russlands aus der Region Ostsee-Schwarzes Meer und die Wiederherstellung von antirussischen Pufferstaaten dort.

Der Zusammenbruch der UdSSR erlaubte den Ländern des Westens, friedlich die „Hoffmann-Linie“ aufs Neue zu etablieren, wobei gar in einem größeren Umfang als 1918. Die neue Westgrenze Russlands wiederholte faktisch die Westgrenze aus den Zeiten des Russischen Reichs von Iwan dem Schrecklichen. Die unabhängigen baltischen Staaten, die Ukraine, Moldawien und Georgien wurden zu eben jenen Pufferstaaten gegen Russland, von denen man in den europäischen Hauptstädten seit den Zeiten der Napoleonischen Kriege geträumt hatte. Für die USA erfüllten sie die Rolle eines Garanten für die Nichtwiederherstellung der UdSSR. Für Deutschland, Polen, Schweden, ja und auch die restliche EU war dies aber eine Realisierung ihrer langjährigen Bestrebungen, von Russland die Region Ostsee-Schwarzes Meer loszulösen und deren wirtschaftliche Erschließung vorzunehmen. Es ist ganz und gar kein Zufall, dass die Grenzen des EU-Programms der Ostpartnerschaft so genau die „Hoffmann-Linie“ wiederholten, wobei sie wirtschaftlich (und später auch politisch) Weißrussland, die Ukraine, Moldawien und die drei kaukasischen Länder von Russland loslösten.

Gerade hier sind auch die Ursachen für die Welle von Feindseligkeit gegenüber Russland zu suchen, die die Führung und die Öffentlichkeit der EU-Länder erfasst hat. Die russische Operation in der Ukraine bedeutet im Falle eines Erfolgs die Zerschlagung des entscheidenden antirussischen Gliedes der Region zwischen den Meeren Ostsee und Schwarzes Meer. Die (letztlich von Moskau angestrebte – Anmerkung der Redaktion) Neuetablierung der Ukraine als ein Russland freundschaftlich eingestelltes Land wird einen neuen Zusammenbruch der „Hoffmann-Linie“ und eine Rückkehr zu den Grenzen von 1939 bedeuten. Das Baltikum wird nicht als ein nördlicher Stützpfeiler aussehen, sondern als ein Bruchstück dieser Barriere. Daher muss sich Russland auf eine schwere Konfrontation vorbereiten. Schließlich steht das Schicksal der antirussischen Anstrengungen einer ganzen Generation europäischer Politiker auf dem Spiel.

  1. S. der Redaktion „NG Deutschland“

Angesichts des von Alexej Fenenko skizzierten Szenarios wird deutlich: Für die heutige Führung Russlands sind die Nachkriegsgrenzen in Europa schon lange kein MUSS mehr, sondern lediglich ein KANN. Dementsprechend wurde auch die militärische Sonderoperation von Präsident Wladimir Putin am 24. Februar in der Ukraine gestartet, ohne auf Kritik und Einwände aus dem westlichen Ausland Rücksicht zu nehmen. Die Moskauer Vorstellungen vom Aussehen und Handeln der Nachbarstaaten sind die Priorität. Da kommen einem die Worte aus Goethes „Erlkönig“ in den Sinn: „Und bist du nicht willig, so brauch’ ich Gewalt“. Und dieser von Moskau demonstrierten und vorgeführten systematischen Gewalt kann der Westen derzeit nur noch Sprachlosigkeit, Ohnmacht und Erschütterung entgegenhalten.